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September 2. September
2000 Im linken Fenster ist der Übervorhang zur Seite gehoben. Zwischen Gardine und Wurf klafft ein braunes Ahnen vom Raum dahinter. Eine Nachlässigkeit am Morgen? Später, wenn die Rote ins Zimmer treten wird, wird sie diese Achtlosigkeit ärgern und sie wird länger als sonst an den Vorhängen zupfen. Ein Möbelwagen aus Zürich steht mit offener Klappe vor dem Haus zur Rechten. Auszug. Kalte Luft fällt durch mein gekipptes Fenster. Ein Motorsegler zieht unter tiefen Wolken einen Kreis und keilt in Schräglage hinters Dach. 3. September
2000
Jetzt blauer Himmel, von einem Absatz zum nächsten. Über dem Fenster die Dachwohnung. Seit Wochen schon geräumt, und trotzdem scheint sie noch bewohnt. Im Fenster ein blauer Kelch von Draht gehalten. Für wen, für was? Das vom Regen grün gewaschene Kupferdach beginnt im Sonnenschein zu bräuneln, glänzt, als wandelte sich das ablaufende Wasser zu Aspik, ein Himmelsspiegel. Es wird gleißend hell. Die Sonne strahlt, das Dach zeigt Dunkelheit, schwarzbraun, und rotgraue Trockenrisse. 4. September
2000
Rechts im Haus sind die Rollos auf halbe Höhe herabgelassen. Die Sonne, vor der sie schützen sollten, hat Münchner Herbstgrau längst bedeckt. Dünnes Wolkenwabern, von löchrigem Himmelsblau durchsetzt. Gestreutes Blendlicht wechselt mit stumpfen Novemberahnen. Aaronstäbe halten zwei weiße Blütenschalen gegen die Scheibe. Blickgrenze. Zwischen uns die Laterne, als graue Wanne an grünem Draht. 5. September
2000
Die leere Dachwohnung scheint wieder bewohnt zu werden. Gestern Nacht tauchte der alte Mieter wieder auf. Rückte sein altes Grün in die Fenster. Palmartiges Gewächs. Buschig. Übersommerte wohl in einer Yuccapension. Der blaue Kelch steht nun im rechten Fenster der Doppelgaube. Daneben ein weißer Kerzenstummel. Auf der Scheibe Krähendreck. Im Flug ans Glas geschissen. Links am Blickrand ein Leiterkreuz vor hässlich rotem Vorhang, noch so unverändert, wie seit Monaten. Vielleicht ist er längst hinüber und lässt nur noch seinen Geist zur Nacht durch die Zimmerflucht wandeln. Im rechten Blick hängen die Rollos unverändert vor den Oberlichten. Dabei schien heute die Sonne gar nicht. Eine Reise? Der Aaronstab spitzt weiter weiß gegen die Scheibe. 6. September
2000
In den dunklen Fenstern ist nur im rechten Blick Widerschein vom Nebenhaus zu sehen. Ein Küchenfenster. Der tiefe Himmel als indigoblaues Zelt im Widerschein der Stadt. 7. September
2000
Rechts unbewegte Rollos und welkende Aaronblüten, daneben ein federblättriges Gewächs. Ein Bambus? Oben in der Doppelgaube die unsichtbaren Unscheinbaren. Keine Vorhänge verbergen ihre Abwesenheit. Im Fenster leuchtrot, eine Laternenkarte. Zunehmender Mond von milchigem Transparent gedeckt. Das Stück hängt seit vorjährigem Advent. Auf dem Fensterbord ein Glaskelch auf schlankem Fuß. Könnte ein Jugendstilstück sein. Einen zweiten gleichen Kelch verdeckt vom Laternenmond. Nur der Fuß ist zu sehen. Etwas Grün und rot am Mittelstück. Seidenblumen? In der Scheibe daneben eine Gliederpuppe. Der Rücken von der Sonne ausgebleicht. Und ein seltsames Geschlinge dahinter. Vielleicht Mundstück und Schlauch einer Wasserpfeife. Lange nicht genützt. Erwachsen geworden? 8. September
2000
In der Gaube darüber wurde die Gliederpuppe samt Geschlinge aus dem linken Doppelfenster ins rechte gerückt. Das grünrote Gepflanze wanderte in den Mittelrahmen. War vielleicht die Leblose Katze in der Dachrinne unterwegs? Würde ich mich erheben, blickte ich auf die offene Ladentür der Schneiderin. Sähe einen altweißen Rock im Fenster liegen, dessen Farbe den beiden Aaronblüten gleicht. 9. September
2000
10. September
2000 Im linken Haus in der Studentenetage, der einstigen Belle Etage, scheint Licht durch blaues Tuch im rechten Fenster. Einen Winter lang lag hier eine auf einer Sonnenbank, blau bestrahlt, nackt, die Augen hinter schwarzen Schwimmgläsern. Das will ich nicht mehr sehen, wollte es auch damals nicht sehen, es wirkte zu lächerlich, und mehr will ich jetzt auch nicht sehen. Lasse meine Jalousie herunten. Rot. Angeleuchtet von der Arbeitslampe. Nachtschwarze Rippen, rechts im Augenwinkel weißes Laternen- und gelbes Zimmerlicht. Genug. 11. September
2000 Die Tauben auf dem Sims unter der Regenrinne haben ihr Nest aufgegeben. Das zusammengetragene Gehölz liegt seit Wochen schon verwaist. Der Firststurz daneben leuchtet erden. Der Blick springt weiter zur Gaube des Nebenhauses. Die Unscheinbaren haben ihre Jalousien herabgelassen. Im linken Doppel auf halbe Höhe bis zum Grün, im rechten bis zum Fensterbrett. Graublaues Leuchten neben dunklem Kupferblech. In den Scheiben spiegeln sich die braunen Pfannen meines Daches. 12. September
2000
Geäst vom leeren Taubennest, von der Sonne gewärmt. Sonnenhunger vor langer Winterszeit. Ist die Mutter vielleicht im Asyl? Tod kann sie nicht sein. Die Rote würde sicher Schwarz tragen. 13. September
2000
14.
September
2000
Ruhe in der Straße. Kinderstimmen. Was ich sehe, ist Langsamkeit. Ich liebe diese satte Zeit des Herbstes. Fehlt nur, dass eine Matrone ihre vollen Brüste über das Fensterbord in die Sonne hält. Das graue Kupferblech des Simses würde sie auch noch von unten her wärmen. Warme volle Brüste, das ist Herbst. Doch nur die dürre Hand der Roten wedelt beim Schließen des Fensters im linken Blickrand kurz mit der Gardine. 15.
September
2000
Für wen macht die Kleidermacherin ihre Mode? Selten sieht man Kundschaft im Laden, meist Freunde. Die Auswahl ist bescheiden und gewöhnlich. Trifft man sie auf der Strasse, lässt sie sich nicht grüßen. Sind wir ihr zu gut angezogen? Ich spüre manchmal ihren Blick von der Seite, wenn ich mit Ruth aus der Tür komme. Doch auch der lässt sich nicht zum Gruß auffangen. Scheue Bewohner hat das Haus. Ein blauer Zeppelin kreist über dem Dach. Es ist ihre Jahreszeit. Wiesenbeginn. Sind sie verflogen, wird das Laub fallen. 16.
September 2000 17. September
2000 Letztes Jahr sah ich das Oktoberfest im Landeanflug vom Flieger aus. Es wirkte wie ein riesiges Kreuzfahrschiff, dass hell erleuchtet über das nächtliche Meer gleitet und in dessem Widerschein die Wellen in weitem Umkreis wie tausend kleine Laternen glitzern. Die Stadt als dunkle See. Unzählige Bierärsche haben die Trottoirs heute wieder gefüllt, wie Klabautermänner sind sie aus den Untiefen der Kanalisation, in der sie übers Jahr vor sich hinfaulten aufgestiegen, haben das Schiff geentert. Während das Drogenfest dort in vollem Gange war, vertrieb die Polizei Fixer vom Hauptbahnhof. Dabei waren diese nur an den fehlenden Maßkrughüten auf dem Kopf von den Säufern unterschieden. 18. September
2000
Im rechten Blick steigt der Schnauzbart aus seiner Schreibtischkanzel, rote Jeans, seine Tochter folgt ihm im blauen Trainingsanzug. Wahrscheinlich spielten beide zusammen am Computer. Jetzt kommt die Tochter zurück in die Kanzel und telefoniert. Wolkenaufriss. Zartblauer Himmel. Welkender Aaron. 19. September
2000 Das Dach meines Hauses spiegelt sich in den Gauben gegenüber, In jedem der Fenster eine Dachgaube meines Hauses. Die Studentenetage im Widerschein des Leblosen und der Unscheinbaren. Sonst keine Bewegung. Fernes Rumoren der Stadt, dringt mit der Herbstluft durch mein gekipptes Fenster. Autorollen durch die Gasse. Das Telefon lüdelt und Beziehungssorgen werden mir angetragen. 20. September
2000 Der Flieger aus Basel schwebt entlang der Firstlinie ein. Regen glitscht von den dunklen Kupferdächern. Es war nur kurzer Sonnenschein. Bei den Unscheinbaren ist Licht in der Gaube. Hin und wieder huscht der Anschnitt eines Kopfes zur Tür. Darunter ist die Schreibtischkanzel vom Schnauzer besetzt. Er papiert und trinkt Bier aus der Flasche. Das Telefon ruft mich. Lehne ich mich beim Telefonieren zurück, rückt eine weitere Gaube von der Behausung des Leblosen in den linken Blick. Kaltes Licht an weißer Wand. Das einzige Licht in seinen Räumen. Noch kälter und abweisend seine dunklen Fenster daneben. Alle ohne Vorhänge. Spiegelnde Fallen aus denen die Einsamkeit kriecht und nach mir greifen will. 21.
September
2000 Gegenüber spiegelt sich das Licht meiner Küche im rechten Doppelfenster, wie eine eingeblendete Karte. Bewegung von Ruth, die die Reste des Mahls wegräumt. Knusprige Ente. Das richtige Mahl für diesen kalten Herbsttag. Einmal stand die Mutter nachts im dunklen Fenster gegenüber. Von meinem Licht aus den Schlaf gerissen, starrte sie ungläubig herüber. Ich sah nur ihren Umriss, ihr fahles Gesicht mit dunklen Höhlungen, doch sah ich auch, wie sie versuchte zu begreifen, was ihr unbegreiflich schien: Mein Sitzen und unbewegtes Schreiben. Seit zwei Tagen keinen Zeppelin mehr gesehen. Fliegen sie nicht bei Regen, weil ohnehin keiner in den werbetragenden Himmel schauen möchte? 22. September
2000
Die Stadt rumort durch meinen Fensterspalt. Freitagnacht, das Fieber auf Tour zu gehen greift mich an. Und wieder schiebt sich der Zeppelin am Kamin vorbei. Zehn Zeilen oder 562 Anschläge währt eine Oktoberfestrunde. Eine rasante Fahrt. 23.
September
2000 Hin und wieder tollen ein paar jugendliche Rauschkugeln durch die Gasse. Weit ausgespiene Auswürfe des Oktoberfestes. Ich könnte über die beiden Häuser gegenüber in Archiven nachlesen, ihre Bewohner befragen und mir so ein Bild verschaffen, das meinem Ausblick Hintergrund verleiht. Doch ich will es nicht. Durch solches Wissen verlöre sich mein Blick im Wissen, und ich sähe nicht mehr das was ich sähe. So aber mag morgen der Schnauzer in meinen Augen ein Pfarrer sein. Die rote eine Bordellbesitzerin, die ihre Studenten verkauft. Die Unscheinbaren eine Mordbande, die ihre Familienangehörigen auffressen. Und der Leblose ein Polizist, der von all dem etwas ahnt, und für sein Hinwegschauen bezahlt wird. Und übermorgen mag ich das alles wieder anders sehen. Das Schnorcheln des Zeppelins dringt durch meinen Fensterspalt. Jetzt mag ich ihn nicht sehen. Zuvor aber sah ich ihn, wie er gegen den Wind stand. Die Nase leicht angehoben, langsam gegen Osten drängte. Ein ungewöhnliches Manöver, fliegt er doch ansonsten gegen den Uhrzeigersinn um das Oktoberfest. Nein, nur jetzt nicht diesen dämlichen Satz niederschreiben, der mir in den Kopf springt: in Bayern gehen die Uhren anders ... 24. September
2000
Als Ruth und ich über den Markt gingen, flog mich eine Taube an streifte mein linkes Bein und fiel kurz hinter mir zu Boden. Erschrocken blieben wir stehen. Die Taube kullerte und flatterte, hatte drei Flügel, dann vier. Tollten die beiden Vögel, in einer herbstlichen Balz? Erst im nächsten Blick sah ich, rief, ein Habicht! Dann sah ich den Sperber, in seinen Fängen das türkische Täubchen, fast so groß wie sein Jäger. Es schlug mit dem Flügel. Der Sperber beäugte mich irritiert. Hob an, um weiterzufliegen, doch der Flügelschlag des Täubchens zog ihn zu Boden. Ein paar Schritte weiter rastete er erneut. Drückte sein Opfer fest zu Boden und setzte sich aufrecht darauf. Zeigte seine schöne Zeichnung. Jetzt schwand die Lebenskraft des Täubchens. Todeszucken der Beinchen. Kurz zupfte der Sperber mit dem Schnabel an seiner Brust. Flaum hing ihm im Schnabel. Dann flog er auf, die Beute fest in den Fängen. Doch es reichte noch nicht, um aufzusteigen. Unter den Kastanien schwebte er zwischen die Bänke des leeren Biergartens. Wir gingen ihm nach, erreichten ihn nicht mehr. Er flog hoch. Zwischen den Ästen einer Kastanie hindurch stieg er auf zum Turm der Heilig Geist Kirche. Ruth dachte an die Tauben gegenüber, ihr verwaistes Nest. Ob sie auch so endeten? 25. September
2000
Beim Leblosen in der linken Gaubenreihe steht ein Fenster offen, gegen den eisernen Bock gelehnt. Seine Scheiben sind eingedreckt und glanzlos. Die Schatten der Pilaster, die die Fensterleibungen umgrenzen, werden immer länger. Die Sonne rückt merklich tiefer in den Süden. Sattheit und süße Melancholie, erdig fruchtiger Duft fällt durchs gekippte Fenster. Oh, du schöner Herbst. 26.
September
2000 Heute habe ich einen Film gekauft und werde morgen, wenn der Computertisch zurückgezogen und mein Fenster weit zum Putzen geöffnet ist, das Gegenüber fotografieren. 27. September
2000 Die Rote hat viel getan, damit die Tauben dem Sims unter der Traufe fernbleiben. Zwei Reihen Kupferzähne aus Kupferblech geschnitten, wurden vor Jahren auf den Sims gelötet. Doch die Tauben ließen sich davon nicht abhalten. Hinter den Blechen trabten sie die Zahnreihe entlang zu ihrem Nest, mit dem Köpfchen vor- und zurücknickend. Einmal fuhrwerkte die Rote mit einem Besen über den Sims, zerstreute das Nest. Dazu lehnte sie sich weit aus dem Fenster des Leblosen. Doch die Tauben kamen wieder und trugen Zweigchen für eine neue Schütte zurück. Dazu zerrupften sie auch die Geranien der Roten. Saßen in den Blumenkästen und zerrten an den ausgedörrten Stielen. Schade um sie, schade um ihre verloren gegangene Bewegung, ihr Turteln und Streiten, wenn ein anderer Hahn ins gemachte Nest wollte. Zurück bleibt ein entleerter Blick ... Im linken Blick schlägt das angelehnte Fenster in der Gaube leicht hin und her. Dann noch hörbare Bewegung in der Gasse. Mädchenlachen, Kindergequake, Autorollen ... 28.
September
2000
Wie langsam sich das Kupfer färbt. An den Dachschrägen schon grünende Streifen. Die Gauben erst bronzebraun. Und die Stützen der Schneebrecher noch Kupferrot. Dabei sind es schon gut fünf Jahre, dass die Spengler ihr Dach neu verkleidet hatten. Muss die Rote eine Menge Geld gekostet haben, all die Kragungen und Bögen ins Kupferblech pressen und dengeln zu lassen. Was sie wohl Miete verlangt? Allzuviel kann es nicht sein, denn außer in der Studentenetage zieht keiner ihrer Mieter aus noch ein. Wie sonst auch könnte der Leblose so lange durch seine ausgeräumte Wohnung geistern. 29.
September
2000
Heute morgen noch hatte ich viele Gedanken darüber, was ich über das Gegenüber sagen könnte. Jetzt nach einem langen Spaziergang durch die sonnige Stadt sind sie verflogen. Wir schlenderten durch ein Gewühle hässlicher Menschen. Vor allem die behosten Frauen waren meinen Augen eine Qual. Ratschten in verschiedenen Läden, an den Ständen am Markt, beim Kaffeetrinken im Ausschank im Rathaus und bei Miguell. Sein Matecapuccino ist wirklich belebend. Sollten Sie einmal über den Markt schlendern, vergessen Sie die Pause bei Miguell an der Frauenstraße nicht. Die Ausstellung der Maler aus Simbabwe, die unser Ziel war, hatten wir versäumt. Kamen gerade recht zum Torschluss. Hoch im Himmel quert ein Flugzeug über den Dachgipfel nach Nordwesten. Sein Kondensstreifen zeigt fernes Abendrot. Wohin wird es fliegen? Frankfurt, Paris ... 30.
September
2000 |