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September

2. September 2000
Ein Septembertag so wechselhaft, als wäre es April. Auch das Licht gleicht sich. Lange Schatten zu Mittag auf den Fenstersimsen und Stürzen verwischen, schwinden und sind zum nächsten Blick wieder scharf gezeichnet. Rot getüncht scheint, was in den heißen Tagen zuvor wie Sand wirkte.

Im linken Fenster ist der Übervorhang zur Seite gehoben. Zwischen Gardine und Wurf klafft ein braunes Ahnen vom Raum dahinter. Eine Nachlässigkeit am Morgen? Später, wenn die Rote ins Zimmer treten wird, wird sie diese Achtlosigkeit ärgern und sie wird länger als sonst an den Vorhängen zupfen.

Ein Möbelwagen aus Zürich steht mit offener Klappe vor dem Haus zur Rechten. Auszug.

Kalte Luft fällt durch mein gekipptes Fenster. Ein Motorsegler zieht unter tiefen Wolken einen Kreis und keilt in Schräglage hinters Dach.

3. September 2000
Regen von Süd nach Nord. Dünn und kräftig. Ferner Lichtblick, schnell verhuscht. Gardine und Überwurf sind noch nicht geordnet. Ist die Rote im Urlaub? Wird das Zimmer am Wochenende nicht betreten? Oder liegt gar die Mutter ...? Sie hatte schon einmal, in einem der vorjährigen Winter, mit dem Ofen beinahe das Haus abgefackelt. Seitdem ist sie siech.

Jetzt blauer Himmel, von einem Absatz zum nächsten. Über dem Fenster die Dachwohnung. Seit Wochen schon geräumt, und trotzdem scheint sie noch bewohnt. Im Fenster ein blauer Kelch von Draht gehalten. Für wen, für was?

Das vom Regen grün gewaschene Kupferdach beginnt im Sonnenschein zu bräuneln, glänzt, als wandelte sich das ablaufende Wasser zu Aspik, ein Himmelsspiegel. Es wird gleißend hell. Die Sonne strahlt, das Dach zeigt Dunkelheit, schwarzbraun, und rotgraue Trockenrisse.

4. September 2000
Heute früh beim ersten Schluck Kaffee sah ich die Rote im Fenster die Gardine zupfen. Jetzt herrscht wieder geordneter Wurf. Das Fenster ist einen Spalt geöffnet, von der Gardine gehalten. In seinem Spiegel die Fenster meines Hauses. Direkt gegenüber durchs Doppelfenster sehe ich Licht im Hinterhof durch das Glaslicht der Küchentüre. Nur ein kleiner Ausschnitt. Zündholzschachtelgroß.

Rechts im Haus sind die Rollos auf halbe Höhe herabgelassen. Die Sonne, vor der sie schützen sollten, hat Münchner Herbstgrau längst bedeckt. Dünnes Wolkenwabern, von löchrigem Himmelsblau durchsetzt. Gestreutes Blendlicht wechselt mit stumpfen Novemberahnen. Aaronstäbe halten zwei weiße Blütenschalen gegen die Scheibe. Blickgrenze. Zwischen uns die Laterne, als graue Wanne an grünem Draht.

5. September 2000
Kaltgraue Abendstimmung. Wieder leckt ein schwarzer Keil zwischen Überwurf und Gardine im mittleren Fenster. Die Rote muss schlechte Tage haben. Auch im Fenster daneben ist die Gardine nur zur Hälfte zugezogen. Welche Sorgen verschleiern wohl ihren ordnenden Blick.

Die leere Dachwohnung scheint wieder bewohnt zu werden. Gestern Nacht tauchte der alte Mieter wieder auf. Rückte sein altes Grün in die Fenster. Palmartiges Gewächs. Buschig. Übersommerte wohl in einer Yuccapension. Der blaue Kelch steht nun im rechten Fenster der Doppelgaube. Daneben ein weißer Kerzenstummel. Auf der Scheibe Krähendreck. Im Flug ans Glas geschissen. Links am Blickrand ein Leiterkreuz vor hässlich rotem Vorhang, noch so unverändert, wie seit Monaten. Vielleicht ist er längst hinüber und lässt nur noch seinen Geist zur Nacht durch die Zimmerflucht wandeln.

Im rechten Blick hängen die Rollos unverändert vor den Oberlichten. Dabei schien heute die Sonne gar nicht. Eine Reise? Der Aaronstab spitzt weiter weiß gegen die Scheibe.

6. September 2000
Nacht. Leiser Regen im Licht der Laterne. Eine großer Spinnenbeiner schwebt müde im kalkig weißem Licht. Gegenüber Dunkelheit. Noch kurz zuvor war Licht. In der Etage unten, gegenüber und im Dach. Unten die Studenten, gegenüber die Rote, oben der Leblose. Und rechts im Haus im Dach, ich weiß nicht ob dort ein Mann oder eine Frau oder eine Familie lebt. Vor Jahren lebte dort eine Perserkatze, die in der Dachrinne ihre Ausflüge von Zimmer zu Zimmer unternahm. Gelegentlich wurde sie ausgesperrt. Wir winkten dann hinüber. Zwei oder dreimal, aber unsere Besorgtheit, war nicht willkommen. Seltsam ich kann mich an diese Menschen nicht mehr erinnern. Sind es noch dieselben, die dort wohnen. Aber die Katze habe ich noch gut vor Augen.

In den dunklen Fenstern ist nur im rechten Blick Widerschein vom Nebenhaus zu sehen. Ein Küchenfenster. Der tiefe Himmel als indigoblaues Zelt im Widerschein der Stadt.

7. September 2000
Das schlechte Wetter, das die Sicht trübt, zu beschreiben, ödet wie das Wetter selbst. Regen, Novembergrau, buttergelber fahler Stein gegenüber. Hat sich die Rote vielleicht in ein Mannsbild verguckt? Ihre Gardinen sind heute wirklich liederlich. Im rechten Fenster der dunkle Keil. Im Doppelfenster gegenüber hängt die Gardine als Schal gerafft. Anthrazitfarbene Streifen links und rechts verwehren den Einblick in die Zimmerhöhle. Das Zimmer glotzt mich dumpfdunkel an. Hässlichkeit. Durchs Türlicht sehen ich unter zwei Augen einen rötlichen Bart, vom rückwärtigen Balkon, eine Ampel oder das Totem des Vaters?

Rechts unbewegte Rollos und welkende Aaronblüten, daneben ein federblättriges Gewächs. Ein Bambus? Oben in der Doppelgaube die unsichtbaren Unscheinbaren. Keine Vorhänge verbergen ihre Abwesenheit. Im Fenster leuchtrot, eine Laternenkarte. Zunehmender Mond von milchigem Transparent gedeckt. Das Stück hängt seit vorjährigem Advent. Auf dem Fensterbord ein Glaskelch auf schlankem Fuß. Könnte ein Jugendstilstück sein. Einen zweiten gleichen Kelch verdeckt vom Laternenmond. Nur der Fuß ist zu sehen. Etwas Grün und rot am Mittelstück. Seidenblumen? In der Scheibe daneben eine Gliederpuppe. Der Rücken von der Sonne ausgebleicht. Und ein seltsames Geschlinge dahinter. Vielleicht Mundstück und Schlauch einer Wasserpfeife. Lange nicht genützt. Erwachsen geworden?

8. September 2000
Ein sonniger Herbsttag geht zur Neige. Goldenes Licht über den Dachfirsten. Die Kamine warm beschienen. Das Gegenüber vom Widerschein der Fenster meiner Hauszeile mit Sonnenflecken besprenkelt. Die Gardine im linken Fenster ist geordnet. Im Doppelfenster nur ein kleiner Spalt. Beinahe die gewohnte Ordnung. Die Durchsicht durch das Türlicht ist nun verhangen. In der Wohnung rechts ist wieder Leben. Die Rollos hochgezogen. Er sitzt im blauen Leibchen in seiner Schreibtischkanzel, den Rücken zum Fenster und trinkt Bier aus einer Flasche. Einleben in das Hiersein? Die Aaronstäbe welken langsam, was vor Tagen weiß, zeigt sich gilbend.

In der Gaube darüber wurde die Gliederpuppe samt Geschlinge aus dem linken Doppelfenster ins rechte gerückt. Das grünrote Gepflanze wanderte in den Mittelrahmen. War vielleicht die Leblose Katze in der Dachrinne unterwegs? Würde ich mich erheben, blickte ich auf die offene Ladentür der Schneiderin. Sähe einen altweißen Rock im Fenster liegen, dessen Farbe den beiden Aaronblüten gleicht.

9. September 2000
Späte laue Nacht. Gegenüber sind die Vorhänge geordnet und das Fenster einen Spalt geöffnet. Das Licht aus meinem Klofenster, zeichnet einen gelben Kasten in die Scheibe. Schläft die Mutter der Roten im Zimmer mit den Doppelfenstern? Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Vielleicht riecht auch nur, was von ihr übrig ist, in warmen Nächten. Doch diese Nacht ist lau, nicht warm. Unterm Dach für einen Moment fernes Glimmen, wahrscheinlich vom Gang. Die Palme im trüben Schattenriss. Jetzt herrscht Dunkelheit. Die Laterne zwischen den Häusern, heute weißgelb. Im Dachfenster spiegelt sich das Licht der Studentengaube meines Hauses.

10. September 2000
In lauer Herbstnacht unter tausend blauen Himmeln aus der Vinothek nach Hause geschlendert. Nein, ich mag meine Jalousie jetzt nicht hochziehen. Dazu bin ich zu satt. Zu sehr noch im Genuss des Gegessenem. Durch die roten Streifen, im rechten Doppel gegenüber sehe ich den Kopf des Schnauzbartes an der Wand. Wohin klotzt er von dort aus immer? In den Fernseher oder auf die Fenster gegenüber?

Im linken Haus in der Studentenetage, der einstigen Belle Etage, scheint Licht durch blaues Tuch im rechten Fenster. Einen Winter lang lag hier eine auf einer Sonnenbank, blau bestrahlt, nackt, die Augen hinter schwarzen Schwimmgläsern.

Das will ich nicht mehr sehen, wollte es auch damals nicht sehen, es wirkte zu lächerlich, und mehr will ich jetzt auch nicht sehen. Lasse meine Jalousie herunten. Rot. Angeleuchtet von der Arbeitslampe. Nachtschwarze Rippen, rechts im Augenwinkel weißes Laternen- und gelbes Zimmerlicht. Genug.

11. September 2000
Strahlend blauer Himmel. Gelbe Ziegel blinken mich an. Drüben ist man ausgeflogen, in Hörsäle, zur Arbeit, ins Kaffeehaus. Die Rote wird sicher nichts davon tun. Womöglich sitzt sie bei einer Handarbeit in der schattigen Zimmerhöhle. Denkt sich dabei aus, wie sie ihr Haus weiter aufputzen könnte. Vor zwei Tagen stand die Haustüre offen. Ein kurzer Blick in den Eingang. Rosa marmorierte Tafeln von weißen Stuckbändern umrahmt zieren die Sockel der Wand. Die Fließen schön gemustert, im alten Glanz. Monate hatte sie hierfür arbeiten lassen und mit zuckendem Kopf die Arbeiter beaufsichtigt. Es muss ihr die pure Lust gewesen sein, dieses Entstehen zu verfolgen. Und jedes Betreten ihres Hauses, mag ihr fürderhin den Schritt anfeuchten.

Die Tauben auf dem Sims unter der Regenrinne haben ihr Nest aufgegeben. Das zusammengetragene Gehölz liegt seit Wochen schon verwaist. Der Firststurz daneben leuchtet erden. Der Blick springt weiter zur Gaube des Nebenhauses. Die Unscheinbaren haben ihre Jalousien herabgelassen. Im linken Doppel auf halbe Höhe bis zum Grün, im rechten bis zum Fensterbrett. Graublaues Leuchten neben dunklem Kupferblech. In den Scheiben spiegeln sich die braunen Pfannen meines Daches.

12. September 2000
Sonniger Herbst. Altweibersommer. Die Fenster gegenüber sind geöffnet. Die Gardinen lüfteln. Weiß mit Spitzenkanten, Rosen unter Arabesken, drücken sie über den Fensterrahmen nach außen, auf den Sims, in den Tag. Die Stuckaturen an den Füßen des Doppelfensters gegenüber wirken in ihrem scharf gezeichneten Schattenspiel wie frisch gepresst. Zwei Stempel, die dem Raum zur Wache an die Seite gestellt wurden. Die Mutter ist nicht zu sehen. Wird sie ausgelüftet?

Geäst vom leeren Taubennest, von der Sonne gewärmt. Sonnenhunger vor langer Winterszeit. Ist die Mutter vielleicht im Asyl? Tod kann sie nicht sein. Die Rote würde sicher Schwarz tragen.

13. September 2000
Morgens fegte ein Hagelschauer durch die Gasse. Jetzt glitscht Nieselregen die Dächer gegenüber ein. Wie Gefrorenes wirkt das abschmierende Gemenge aus Staub und Feucht. Düster wirkt das Haus. In den Dachgauben dunkle Scheiben. Links beim Scheintoten schmutzgrau besprenkelt. Rechts bei den Unscheinbaren blank geputzt; dabei kann ich mir nicht erinnern, sie jemals beim Fensterputzen gesehen zu haben. Direkt gegenüber ist der Blick vor ordentlich gerafften weißen Gardinen lichter. Sie scheint wieder im gewohnten Trott zu sein, die Rote. Nur der Überwurf im linken Fenster, hängt etwas zur Seite. Es wird so bleiben, für lange Zeit. Sie muss einen Grund dieses Arrangement haben. Sitzt sie vielleicht dahinter im Dunklen und glotzt unbemerkt auf meine Scheibe. Nein, ich denke, so etwas tut sie nicht. Was würde sie auch sehen. Es ist nicht viel Bewegung hier, wenn ich am Computer schreibe. Mal mit, mal ohne Krawatte. Rauchend und Tee trinkend, und sinnierend ihr Ziegelwerk betrachtend.

14. September 2000
Auf dem Weg vom Sax in der Herbstsonne am Eingang gegenüber vorbeigegangen. Die blitzblanke Haustüre fällt auf. Lackiertes Holz, sauberer Messingknauf, ein Acrylschild im unteren Feld schützt sie vor Tritten und Hundepisse. Vier Tage hatte letztes Jahr der Anstreicher an sie hingewerkt. Gebeizt, gespachtelt, geschliffen, gestrichen. Fahrräder an der Hauswand anlehnen verboten.

Ruhe in der Straße. Kinderstimmen. Was ich sehe, ist Langsamkeit. Ich liebe diese satte Zeit des Herbstes. Fehlt nur, dass eine Matrone ihre vollen Brüste über das Fensterbord in die Sonne hält. Das graue Kupferblech des Simses würde sie auch noch von unten her wärmen. Warme volle Brüste, das ist Herbst. Doch nur die dürre Hand der Roten wedelt beim Schließen des Fensters im linken Blickrand kurz mit der Gardine.

15. September 2000
Musik dringt aus der offenen Tür der Kleidermacherin. Sie sitzt rauchend auf der Stufe, den Telefonhörer am Ohr, eine CD-Hülle auf dem Schoß. Die Lieder lassen den satten Herbst noch satter wirken. Die kleine Schwester, eine ausgehungerte Bettie Page, sitzt mit der Zigarette in der Hand daneben. Ein auslaufendes Modell.

Für wen macht die Kleidermacherin ihre Mode? Selten sieht man Kundschaft im Laden, meist Freunde. Die Auswahl ist bescheiden und gewöhnlich. Trifft man sie auf der Strasse, lässt sie sich nicht grüßen. Sind wir ihr zu gut angezogen? Ich spüre manchmal ihren Blick von der Seite, wenn ich mit Ruth aus der Tür komme. Doch auch der lässt sich nicht zum Gruß auffangen.

Scheue Bewohner hat das Haus.

Ein blauer Zeppelin kreist über dem Dach. Es ist ihre Jahreszeit. Wiesenbeginn. Sind sie verflogen, wird das Laub fallen.

16. September 2000
Abendsonne blendet im linken Augen. Der Regen hat aufgehört. Die Dächer sind abgetrocknet. Neben der rechten Gaube nur noch eine Spur abrinnenden Wassers. Der Himmel zeigt sich weiß-blau, wie es sich für einen Wiesensamstag gehört. Dieser Satz wird wahrscheinlich am Montag in allen fünf Zeitungen zu lesen sein. Ein Münchner Gemeinplatz, dieser so sich zeigende Himmel. Jedes Ereignis von Belang wird von ihm beschienen. Und wenn es einmal nicht so ist, ist es gleichermaßen Erwähnung wert. Ansonsten schlägt mich von drüben vorstädtische Samstagsnachmittags-
stimmung an. Abweisende Stille. Die Schneiderin putzt ihr Lädchen. In der Studentetage steht ein Oberlicht auf. Und beim Leblosen im linken Dach, ist das Fenster in der mittleren Gaube gekippt. Die verklingende Regenstimmung trägt evangelische Reinlichkeit und Kälte. Am liebsten möchte ich mich in mein Bett begeben. Zudecken, träumen, lesen, Radio hören, bis mich die Nacht wieder belebt.

17. September 2000
Achtuhrnachrichtenzeit. Die Laternenwanne glimmt neonweiß. Ein heller Fleck vor dem warmen Gelb des Raumes dahinter. Die Schreibtischkanzel ist verlassen. Er sitzt löffelnd auf der rückwändigen Couch. Nur der Arm ist zu sehen, wie er auf und nieder gehoben wird. Ein heller Schatten vom verblühten Aaron im Fenster. Was arbeitet er in seiner Kanzel? Scheffelt er gelangweilt Vermögen oder verwaltet er seine Erbschaft oder die seiner Frau? Im aufkeilenden Schein der Stehlampe, die Deckenlampe als illuminierter Schatten, ein sechsarmiger Leuchter, wie er heute, vor zehn, zwanzig oder hundert Jahren gefertigt worden hätte sein können. Die Stehlampe sicher einer der üblichen Deckenstrahler, Aluminiumschüssel auf dünnem Rohr. Indes, nur der schlanke Fuß ist am linken Fensterrahmen zu sehen. Licht in den Gauben darüber, eins im rechten eins im linken Blickwinkel, die Unscheinbaren und der Leblose. Wozu brauchen sie Licht in ihrer Unbeweglichkeit? Über dem First werfen tiefe Regenwolken das Licht des nahen Oktoberfestes zurück. Eine Abenddämmerung die erst um Mitternacht abnehmen wird.

Letztes Jahr sah ich das Oktoberfest im Landeanflug vom Flieger aus. Es wirkte wie ein riesiges Kreuzfahrschiff, dass hell erleuchtet über das nächtliche Meer gleitet und in dessem Widerschein die Wellen in weitem Umkreis wie tausend kleine Laternen glitzern.

Die Stadt als dunkle See. Unzählige Bierärsche haben die Trottoirs heute wieder gefüllt, wie Klabautermänner sind sie aus den Untiefen der Kanalisation, in der sie übers Jahr vor sich hinfaulten aufgestiegen, haben das Schiff geentert. Während das Drogenfest dort in vollem Gange war, vertrieb die Polizei Fixer vom Hauptbahnhof. Dabei waren diese nur an den fehlenden Maßkrughüten auf dem Kopf von den Säufern unterschieden.

18. September 2000
Good Year. Die Zigarre schwebt links durch den Blick. Der vertraute Zeppelin unter bauschigen Regenwolken. Er dümpelt ein wenig im Wind. Im Südwesten ein Lichtblick. Reingewaschene Luft zeichnet die tausend Kanten und Fugen des Gegenübers klar ab. Wieder der Zeppelin. Die Ziegel heute in ockergelb, erscheinen wie der Bodenbelag einer alten Klosterküche. Ihre Reihen sind in Bewegung. Schrägen, Absplitterungen, im linken Blick neben der eingemauerten Gerüstkralle eine Absplitterung über drei Ziegel, die mich an das Planbild von Sylt erinnert. Was macht ein Klinkerhaus in München? Eigentlich stände es besser an der Küste. Vielleicht deshalb die Splitter, als stilles Sehnen des Hauses zu seinesgleichen. Muss ein extravaganter Bauherr gewesen sein, der Ahn der Roten. Obwohl wer weiß, wir leben schließlich hier im alten jüdischen Viertel ...

Im rechten Blick steigt der Schnauzbart aus seiner Schreibtischkanzel, rote Jeans, seine Tochter folgt ihm im blauen Trainingsanzug. Wahrscheinlich spielten beide zusammen am Computer. Jetzt kommt die Tochter zurück in die Kanzel und telefoniert. Wolkenaufriss. Zartblauer Himmel. Welkender Aaron.

19. September 2000
Warten auf die Nacht, um den Zeppelin zu beschreiben, der beleuchtet als blaue Zigarre über den Dächern rund um die Wiesen kreist. Jetzt ist der Himmel mit Bleiglanz überzogen, silberweißes Leuchten im Südwesten, die Sonne stürzt zum Himmelsrand.

Das Dach meines Hauses spiegelt sich in den Gauben gegenüber, In jedem der Fenster eine Dachgaube meines Hauses. Die Studentenetage im Widerschein des Leblosen und der Unscheinbaren. Sonst keine Bewegung. Fernes Rumoren der Stadt, dringt mit der Herbstluft durch mein gekipptes Fenster. Autorollen durch die Gasse.

Das Telefon lüdelt und Beziehungssorgen werden mir angetragen.

20. September 2000
Ferner Laut einer Explosion lässt mich erschrecken, der Blick geht übers Dach. Hat sich womöglich wiederholt, was vor Jahren auf der Wiesen Schreckliches geschah. Ein Sprengstoffanschlag. Leises Grauen. Und dieses urgründige Grauen erwacht Jahr um Jahr, wenn das Fest beginnt. Die Stimmung wäre danach, dass sich wiederholt, was schnell verdrängt worden ist. Damals zeigte mir Ruth auf ihrer Station Bilder der abgerissenen Körperteile. Bilder für die Wissenschaft, um aus den Leiden zu lernen. Ich musste an Metzgereiauslagen denken.

Der Flieger aus Basel schwebt entlang der Firstlinie ein. Regen glitscht von den dunklen Kupferdächern. Es war nur kurzer Sonnenschein. Bei den Unscheinbaren ist Licht in der Gaube. Hin und wieder huscht der Anschnitt eines Kopfes zur Tür. Darunter ist die Schreibtischkanzel vom Schnauzer besetzt. Er papiert und trinkt Bier aus der Flasche.

Das Telefon ruft mich. Lehne ich mich beim Telefonieren zurück, rückt eine weitere Gaube von der Behausung des Leblosen in den linken Blick. Kaltes Licht an weißer Wand. Das einzige Licht in seinen Räumen. Noch kälter und abweisend seine dunklen Fenster daneben. Alle ohne Vorhänge. Spiegelnde Fallen aus denen die Einsamkeit kriecht und nach mir greifen will.

21. September 2000
Die Zeit drängt. Ungebetene Unterbrechungen zerhacken den Arbeitsrhythmus und verzwingen den Kopf. Platzregen wechselt zu Nieselregen und wieder zu Platzregen. Von der heute blaustichigen Neonwanne über der Gasse tropft das Wasser. Bildet nach unten einen schartigen Abriss. Er wirkt, als würde der Kunststoffschirm schmelzen. Im rechten Blick trübes Licht bei den Unscheinbaren und beim Schnauzer.

Gegenüber spiegelt sich das Licht meiner Küche im rechten Doppelfenster, wie eine eingeblendete Karte. Bewegung von Ruth, die die Reste des Mahls wegräumt. Knusprige Ente. Das richtige Mahl für diesen kalten Herbsttag.

Einmal stand die Mutter nachts im dunklen Fenster gegenüber. Von meinem Licht aus den Schlaf gerissen, starrte sie ungläubig herüber. Ich sah nur ihren Umriss, ihr fahles Gesicht mit dunklen Höhlungen, doch sah ich auch, wie sie versuchte zu begreifen, was ihr unbegreiflich schien: Mein Sitzen und unbewegtes Schreiben.

Seit zwei Tagen keinen Zeppelin mehr gesehen. Fliegen sie nicht bei Regen, weil ohnehin keiner in den werbetragenden Himmel schauen möchte?

22. September 2000
Welch ein Bild! Der blaue Zeppelin schwebt beleuchtet unter karthäuserblauem Nachthimmel. Die Kamine ragen ihm nachtschwarz entgegen. Darunter die Gauben des Leblosen hell erleuchtet. Zur Jucca im mittleren Fenster ist ein Palmengespinst im rechten Doppelfenster hinzugekommen. Scherenschnitte in der Nacht. Im linken Fenster der Doppelgaube leuchtet die Lampenschüssel aus grünlichen Rauhglas. Drei Glühbirnen zeichnen gelbe Flecken hinein. Eine Kerze und der blaue Kelch als Schatten auf der Fensterbank.

Die Stadt rumort durch meinen Fensterspalt. Freitagnacht, das Fieber auf Tour zu gehen greift mich an.

Und wieder schiebt sich der Zeppelin am Kamin vorbei. Zehn Zeilen oder 562 Anschläge währt eine Oktoberfestrunde. Eine rasante Fahrt.

23. September 2000
Rot das Rollo vor schwarzer Nacht. Im rechten Feld durch die Lamellen wirft die helle Schüssel der Laterne ihr Licht, dahinter rötliches Licht aus der Stehlampe des Schnauzers. Zuvor sah ich ihn im Halbdunkel halbnackt zur Türe gehen. Jetzt sehe ich ihn zwischen zwei Lamellen mit über dem Kopf verschränkten Armen unbeweglich auf dem Sofa liegen. Wahrscheinlich klotzt er in den Fernseher. Muss ein kleiner Bildschirm sein, da kein Lichtwechsel aus der Röhre das Zimmer illuminiert.

Hin und wieder tollen ein paar jugendliche Rauschkugeln durch die Gasse. Weit ausgespiene Auswürfe des Oktoberfestes.

Ich könnte über die beiden Häuser gegenüber in Archiven nachlesen, ihre Bewohner befragen und mir so ein Bild verschaffen, das meinem Ausblick Hintergrund verleiht. Doch ich will es nicht. Durch solches Wissen verlöre sich mein Blick im Wissen, und ich sähe nicht mehr das was ich sähe. So aber mag morgen der Schnauzer in meinen Augen ein Pfarrer sein. Die rote eine Bordellbesitzerin, die ihre Studenten verkauft. Die Unscheinbaren eine Mordbande, die ihre Familienangehörigen auffressen. Und der Leblose ein Polizist, der von all dem etwas ahnt, und für sein Hinwegschauen bezahlt wird. Und übermorgen mag ich das alles wieder anders sehen.

Das Schnorcheln des Zeppelins dringt durch meinen Fensterspalt. Jetzt mag ich ihn nicht sehen. Zuvor aber sah ich ihn, wie er gegen den Wind stand. Die Nase leicht angehoben, langsam gegen Osten drängte. Ein ungewöhnliches Manöver, fliegt er doch ansonsten gegen den Uhrzeigersinn um das Oktoberfest. Nein, nur jetzt nicht diesen dämlichen Satz niederschreiben, der mir in den Kopf springt: in Bayern gehen die Uhren anders ...

24. September 2000
Vor kurzem noch vermischte sich das Abendlicht mit den Lichtern unterm Dach, zu einem Scheinen. Jetzt zeigt sich der Himmel in tiefem Blau, darunter das goldene Licht aus den Gauben. Tiefer die Neonwanne der Laterne von Eintagsfliegen umspielt. Ein schöner Herbsttag geht zu Ende. Frisch und sonnenwarm.

Als Ruth und ich über den Markt gingen, flog mich eine Taube an streifte mein linkes Bein und fiel kurz hinter mir zu Boden. Erschrocken blieben wir stehen. Die Taube kullerte und flatterte, hatte drei Flügel, dann vier. Tollten die beiden Vögel, in einer herbstlichen Balz? Erst im nächsten Blick sah ich, rief, ein Habicht! Dann sah ich den Sperber, in seinen Fängen das türkische Täubchen, fast so groß wie sein Jäger. Es schlug mit dem Flügel. Der Sperber beäugte mich irritiert. Hob an, um weiterzufliegen, doch der Flügelschlag des Täubchens zog ihn zu Boden. Ein paar Schritte weiter rastete er erneut. Drückte sein Opfer fest zu Boden und setzte sich aufrecht darauf. Zeigte seine schöne Zeichnung. Jetzt schwand die Lebenskraft des Täubchens. Todeszucken der Beinchen. Kurz zupfte der Sperber mit dem Schnabel an seiner Brust. Flaum hing ihm im Schnabel. Dann flog er auf, die Beute fest in den Fängen. Doch es reichte noch nicht, um aufzusteigen. Unter den Kastanien schwebte er zwischen die Bänke des leeren Biergartens. Wir gingen ihm nach, erreichten ihn nicht mehr. Er flog hoch. Zwischen den Ästen einer Kastanie hindurch stieg er auf zum Turm der Heilig Geist Kirche.

Ruth dachte an die Tauben gegenüber, ihr verwaistes Nest. Ob sie auch so endeten?

25. September 2000
Mittag, ein Sonniger Herbsttag. Das Gegenüber strahlt in sandigem Gelb. Rechts die rote Hose des Schnauzers im Blick. Sein lappriges Leibchen wirft Falten um den Hosenbund. Jetzt sitzt er wieder in seiner Kanzel. Später wird er sicher wieder Bier aus der Flasche trinken. Sein Aaron welkt ins Grüne. Oder sind das schon wieder neue Blüten?

Beim Leblosen in der linken Gaubenreihe steht ein Fenster offen, gegen den eisernen Bock gelehnt. Seine Scheiben sind eingedreckt und glanzlos.

Die Schatten der Pilaster, die die Fensterleibungen umgrenzen, werden immer länger. Die Sonne rückt merklich tiefer in den Süden. Sattheit und süße Melancholie, erdig fruchtiger Duft fällt durchs gekippte Fenster. Oh, du schöner Herbst.

26. September 2000
Ein Altweibersommertag. Alles ist mild und träge. Das Gegenüber ohne Bewegung. Mein Haus als zerwürfeltes Spiegelbild in seinen Scheiben. Im Oberlicht des Schnauzers sehe ich das Fenster, meines Nachbarn. Eine purpurne Jalousie ist herabgelassen. Es ist ein geheimnisvoller Fleck, im schwarzen Fensterspiegel. Die Laterne in der Straßenmitte knapp darunter grau und hässlich, mit ihren Isolatoren, dem Gedrahte und den kupfergrünen Klammern.

Heute habe ich einen Film gekauft und werde morgen, wenn der Computertisch zurückgezogen und mein Fenster weit zum Putzen geöffnet ist, das Gegenüber fotografieren.

27. September 2000
Die Scheiben sind klar geputzt, das Gegenüber in der Mittagssonne fotografiert. Jetzt vergoldet die Sonne tief im Westen den Himmel. Im satten Lehmton die Ziegel gegenüber. Alle Fenster sind geschlossen. Im Spiegel der Scheiben des Leblosen sehe ich auf dem First meines Hauses eine Taube sitzen. Auch auf dem Kamin sitzen zwei. Wird das Nest gegenüber noch einmal von ihnen besiedelt werden?

Die Rote hat viel getan, damit die Tauben dem Sims unter der Traufe fernbleiben. Zwei Reihen Kupferzähne aus Kupferblech geschnitten, wurden vor Jahren auf den Sims gelötet. Doch die Tauben ließen sich davon nicht abhalten. Hinter den Blechen trabten sie die Zahnreihe entlang zu ihrem Nest, mit dem Köpfchen vor- und zurücknickend. Einmal fuhrwerkte die Rote mit einem Besen über den Sims, zerstreute das Nest. Dazu lehnte sie sich weit aus dem Fenster des Leblosen. Doch die Tauben kamen wieder und trugen Zweigchen für eine neue Schütte zurück. Dazu zerrupften sie auch die Geranien der Roten. Saßen in den Blumenkästen und zerrten an den ausgedörrten Stielen.

Schade um sie, schade um ihre verloren gegangene Bewegung, ihr Turteln und Streiten, wenn ein anderer Hahn ins gemachte Nest wollte. Zurück bleibt ein entleerter Blick ...

Im linken Blick schlägt das angelehnte Fenster in der Gaube leicht hin und her. Dann noch hörbare Bewegung in der Gasse. Mädchenlachen, Kindergequake, Autorollen ...

28. September 2000
Föhn hebt den Himmel in den Himmel. Das Gegenüber erscheint heute höher als sonst, rückt auf mich zu und verengt die Gasse um ein gutes Stück. Die Hausfront liegt im Schatten, während von rechts Sonnenschein in mein Fenster schleicht. Das Geziegel heute mit einem deutlichen Stich ins Orange. Die Stuckknöpfe, Kopfschleifen und Sonnenkronen der Fenster zeigen an ihren Auflagen blauen Staub. Würde die Rote sie so sehen, würde sie sie gewiss von ihrer Putzfrau abwedeln lassen. Vom letzten Regen Rostspuren an der Traufe, obwohl aus Kupfer.

Wie langsam sich das Kupfer färbt. An den Dachschrägen schon grünende Streifen. Die Gauben erst bronzebraun. Und die Stützen der Schneebrecher noch Kupferrot. Dabei sind es schon gut fünf Jahre, dass die Spengler ihr Dach neu verkleidet hatten. Muss die Rote eine Menge Geld gekostet haben, all die Kragungen und Bögen ins Kupferblech pressen und dengeln zu lassen. Was sie wohl Miete verlangt? Allzuviel kann es nicht sein, denn außer in der Studentenetage zieht keiner ihrer Mieter aus noch ein. Wie sonst auch könnte der Leblose so lange durch seine ausgeräumte Wohnung geistern.

29. September 2000
Abendstimmung nach einem sommerlichen Herbsttag. Das Gemäuer gegenüber wirkt vielfarbig. Graublaue, weiße, sandige und bräunliche Steine zerteilt von den isabellfarbenen Bändern der Fensterleibungen und Querstreben. Der Leblose hat in der Doppelgaube sein Licht aufgedreht. Sein Deckstrahler leuchtet schilfiggelb. Bleierner Himmel über grünbraunem Dach.

Heute morgen noch hatte ich viele Gedanken darüber, was ich über das Gegenüber sagen könnte. Jetzt nach einem langen Spaziergang durch die sonnige Stadt sind sie verflogen.

Wir schlenderten durch ein Gewühle hässlicher Menschen. Vor allem die behosten Frauen waren meinen Augen eine Qual. Ratschten in verschiedenen Läden, an den Ständen am Markt, beim Kaffeetrinken im Ausschank im Rathaus und bei Miguell. Sein Matecapuccino ist wirklich belebend. Sollten Sie einmal über den Markt schlendern, vergessen Sie die Pause bei Miguell an der Frauenstraße nicht. Die Ausstellung der Maler aus Simbabwe, die unser Ziel war, hatten wir versäumt. Kamen gerade recht zum Torschluss.

Hoch im Himmel quert ein Flugzeug über den Dachgipfel nach Nordwesten. Sein Kondensstreifen zeigt fernes Abendrot. Wohin wird es fliegen? Frankfurt, Paris ...

30. September 2000
Kühler Wind kündet vom Ende der sonnigen Tage. Dunkel schmiegt sich das Gegenüber in die beginnende Nacht. Laternenlicht skizziert, was sich meinem Blick entziehen will. In meinem Fenster fahles Gelb der fernen Ziegel. Weißer Fleck, die Laterne. Schwarzes Band und dunkles Ragen, das Dach. Blauschwarzes Himmelhöhen. Grauer Schein vom fernen Fest. Ich werde mein rotes Rollo herablassen. Das Dunkel ausschließen.