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Oktober 1. Oktober
2000 Noch zwei Tage wird die Nacht über dem Dach scheinen. Dann ist das Fest vorbei, und der Auswurf wird in die Gullys zurückgespült werden. 2. Oktober
2000 Eine fette alte Taube sitzt seit zwei Tagen auf dem Fenstersims über dem Parterre. Sie wird das alte Nest nicht beziehen. Die Stadt riecht und tönt nach Feiertag. Die Tür der Kleidermacherin steht offen, der Laden ist leer. Durch die Gasse rollt der Müllwagen. Doch auch das Tonnengeklapper verwischt die Feiertagsstimmung nicht. 3. Oktober
2000 Es klingt lauter, als wenn der Stein trocken ist. Dabei müsste es doch umgekehrt sein, müsste trockener Stein die Profile eher zum Singen bringen. Keine Bewegung gegenüber. Nur beim Schnauzer signalisiert das rückwärtige Küchenlicht, durch seine offene Zimmertür Bewegung. Wie um diesen Satz zu bestätigen erscheint er mit dem Rücken im Türrahmen, nestelt an seinem Hosenbund und dreht nach rechts ab. Seine Frau im dunklen Rock und weißen Leibchen ist kurz danach zu sehen, und lehnt die Türe an. Nieselregen zwischen Nord und Süd wechselnd zieht einen feinen Schleier zwischen mir und der anderen Seite. Er fällt so langsam, beinahe schwebend, dass ich an Schnee denken muss. Ein wenig kälter und es wäre Pulverschnee. Eisig glänzt der Zinkzylinder auf dem Kamin, der die Brandmauer zwischen beiden Häusern in den Himmel hinein verlängert. 4. Oktober
2000 Als der Schuster aus dem Nebenhaus auszog, versehrt durch einen Stromunfall, der ihm die Hand lähmte, gezeichnet von Krankheit, die ihn nur noch wenige Monate seiner Pension erwarten ließ, sprang ihn diese Gewalt an. Zuvor zeigte sie sich in Mieterhöhungen, jetzt in maßlosen Renovierungsforderungen. Die zuvor gepflegte Freundlichkeit zerbrach, an der Härte des Geldes, am Nehmen können, an der Armut des Besitzes, der nie genügt. Unbewegt die Fassaden, die Fenster, jetzt bedrohliche Augen. Hier herrscht keine Eile, sondern leises, gewaltiges Mehren. 5. Oktober
2000 Grünend die welkenden Blüten des Aaron gegenüber. Sie welken seit einem Monat. Ein dankbares Gewächs. Schwaches Nieseln, als würden Wolken durch die Gasse streichen. Evangelische Frische und Stille liegt in der Luft. 6. Oktober
2000 Die Nacht in dieser Stadt ist so düster wie der Himmel. Einmal zu Silvester saß ich mit Ruth auf dem Olympiaturm. Wir drehten uns viele Male durch das Panorama und es lohnte kaum, nach unten zu schauen. Das schwache Gelichter der Stadt unter uns verschwamm in der Dunkelheit, verwischte sich mit der Brache ringsherum. Dann, kurz vor Mitternacht, wurden die Lichter aufgedreht und für eine kurze Spanne hob sich die Stadt aus ihrer Düsternis. Gegenüber müdes Licht beim Schnauzbärtigen und bei den Unscheinbaren. Düstere Gemütlichkeit. Die Laterne dazwischen spendet mehr Licht. Die Mücken, die sie sonst umtanzen, hat es verregnet. 7. Oktober
2000 Die Neonschüssel über der Gasse funzelt stumpfes Licht. Darüber in rötlicher Düsternis die Gaube der Unscheinbaren. Die Puppe mit den Schnorcheln der Wasserpfeife ein lebender Schatten. Sie blickt hinaus in die Regennacht, auch wenn ich weiß, dass sie mir den Rücken zuwendet. 8. Oktober
2000 Heute sah ich den Schnauzer vom Küchenfenster aus mit seiner Frau auf der Straße. Er trägt gar keinen Schnauzer. Klebt er ihn sich womöglich an, sobald er seine Schreibtischkanzel besteigt? Jetzt wirtschaftet seine Frau in der Küche. Es ist nur ein Ausschnitt den ich über das Blattgewucher des Arons hinweg von ihrer Küche sehe. Ein Boiler, ein Spülstein, vielleicht. Es ist mit dem Blick nicht auszumachen, was es ist. Aber von den Bewegungen der Frau her tippe ich auf eine Wasserstelle. Ich könnte ja, mit dem Fernglas erkunden, was sich da hinter der geöffneten Tür zeigt. Doch ich halte es nicht für bedeutend, durch Schärfe zu verändern, was ich zu sehen glaube. Jetzt hat der Schnauzer die Küchentüre angelehnt. Ihr Türblatt scheint im Licht des Ganges orange. Darüber blickt die Gliederpuppe in die dunkle Wohnung der Unscheinbaren. 9. Oktober
2000 Zuvor glänzte Blaulicht durch die Gasse. Ein Löschzug stand vorm Haus, um einen Motorbrand zu löschen. Das Rumoren in der Gasse brachte Leben zu den Unscheinbaren. Ein kleines weißblondes Mädchen wurde auf die Fensterbank gehoben. Es war das erste Mal, dass ich das Kind sah. Wo sie ihr Püppchen die ganze Zeit über nur versteckten? Inzwischen herrscht wieder Dunkelheit bei ihnen. Durch das Zimmer der Studenten im ersten Stock strich das Blaulicht in sanften Wischern. Es war schön anzusehen, doch sie bemerkten es nicht; fügte sich wohl zu gut zum Flimmern des Fernsehers, in den sie zu zweit klotzten. Während es im Dach dunkelt, hat der Schnauzer seine Stehlampe voll aufgedreht. Weißes Licht kegelt zur Decke. Ein klassizistischer Türsturz aus Stuck krönt seine geschlossene Zimmertüre. Sonst sehe ich ihn nur als schattiges Gebilde. Links im Fenster ein Regal. Ein Nippespokal in der oberen Etage, darunter ein Fernseher. Oder ist es eine Stereoanlage? Der Schnauzer im blauem Hemd, lümmelt auf der Couch, liest, kratzt sich im Schritt und beugt sich öfters fummelnd zur linken Ecke. Wahrscheinlich steht dort ein neues Gerät, das er in Betrieb setzen will. Er wird damit den lieben Abend lang beschäftigt sein. Das Neonlicht in der Straßenmitte wird vom Schein aus seinem Zimmer überstrahlt. Ein weißblau gelblicher Fleck, gefüllt mit Mückenkadavern. 10. Oktober
2000 Vor zwei Tagen sah ich sie ihren Wagen aus dem Hof fahren. Sie war in gewohnter Hektik. Ferner, gehetzter Blick, als gälte es, längst zu beenden, was noch nicht einmal begonnen wurde. Sie verfehlte die Spur in die Gasse, musste zweimal zurücksetzen, ehe sie in die Nacht entschwand. Sicher keine Fahrt zu einem Rendezvous, und wenn doch, dann nur um die Hitze, die sie nicht kennt, zu lindern. Regen streicht jetzt durch die Gasse, schmiert das Grün des Daches ein und zeichnet braune Fäden auf das Blech. Die Wolken hetzen über das Dach, als litten sie an der gleichen seltsamen Eile der Roten. Abregnen, sich zerfetzen, auflösen und sich erneut zu ballen. Wie weit wohl das graue Wolkenmeer nach Westen reicht? Wo dort ist sein Quell, der Schlund, der es ausspeit, aus dem es quillt so ohne Unterlass? 11. Oktober
2000 Man muss oft weit reisen, um seinen Nachbarn kennenzulernen. Gestern beim Geburtstag unseres Sohnes lernten wir zwei junge Frauen aus der Gasse kennen. Die eine, ist die Nachfolgerin des Schusters, die andere ihre Nachbarin. Als die Nachfolgerin den Laden besichtigte, hauste der Schuster noch darin. Grauenerregend habe es dort ausgesehen, meinte sie, als sie seinerzeit den Laden besichtigte, um ihn anzumieten. Dem ist nicht zu widersprechen. Es war in der Tat eine Räuberhöhle. Von den Festen des Schusters ist noch zu sprechen. Mädel steht jetzt über dem Laden in dem sie wohnt. Eine Froschpfote teilt das Ä der Länge nach. Spreizt sich im offenen Bauch des Buchstabens mit kreisrunden gelben Zehen, ähnelt so auf den ersten Blick einer gestürzten Krone. Wurde hier der falsche Prinz geküsst, oder gerade erst zum Frosch verhext, um eine goldene Kugel zu Tage zu fördern? Sie macht in Latexdekoration, bizarre Hülsen für Feuerzeuge und ausgefallene Theaterdekorationen. Vor ihrem Schaufenster bleibt man stehen, um sich zu amüsiert zu wundern. 12. Oktober
2000 Der Schnauzer besetzt seine Kanzel, spricht mit seinem Sohn, der im Hintergrund steht. Der Aaron grünt welkend vor sich hin. Eine Blüte hat sich nach links in die zweite Fensterhälfte geneigt. Habe vom Zeitungsholen kommend der Alten aus dem Nebenhaus die Tasche bis zur Haustüre getragen. Sie lebt seit 92 Jahren, soviel Jahre wie sie zählt, im Viertel. Nur ihr linkes Bein, meint sie, glaube es sei ein Jahr älter. Deshalb mache es ihr solche Beschwerden. Aber es lasse sich halt leider von diesem Glauben nicht abbringen. Sie wohnt unterm Dach. Die Wohnung hat sie mit ihrer Familie nach dem Krieg auf die Trümmer des zerbombten Hauses gesetzt. Ein Zuschuss wurde ihr damals, weil sie Münchnerin war, verwehrt. Ja, meint sie, der Münchner hat eigentlich kein Recht mehr zu leben. Selbst das Schnaufen in München sei mittlerweile unbezahlbar. Sie ist die letzte aus ihrer Familie. Die anderen hat sie alle zum Friedhof hinaus begleitet. Es ist schon eine rechte Plag so alleine. Sie lacht. Aber es geht schon noch ... 13. Oktober
2000 Gegenüber ist Licht im Zimmer der Mutter, seit Monaten wieder einmal. Ein Landschaftsbild mir direkt gegenüber. Davor die Rote, eine Decke aufhebend. Im linken Fenster ein runder Rücken. Langsame Bewegung. Die Mutter ist in der Tat zurück. Die Rote schüttelt ihr das Federbett auf. Schickt sie, sie zum rechten Fenster, trägt an ihr vorbei das Federbett in die Ecke. An ihrer Gestik erkennt man, dass die Mutter schwer hört. Es dauert bis sie ins Eck schlurft. Jetzt dreht sie mir den runden Rücken zu, lässt sich offenbar in einen Sessel fallen, der mit der Decke gepolstert wurde, und entzieht sich meinem Blick ins rechte Eck. Sobald das Haus zur Gänze in Nacht getaucht ist, wird die Rote ins Zimmer zurückkehren, die Vorhänge schließen und das Licht löschen. 14. Oktober
2000 Unglaubliche Veränderungen sind geschehen. Die Gliederpuppe ist aus dem Fenster verschwunden. Nur das Geschläuch der Wasserpfeife ragt in die rechte Scheibe. Wird jetzt etwa gezeichnet? Noch aufrührender: der Mond auf rotem Grund, dieser verblichene Laternenrest eines St.Martinszug, ist von der Scheibe genommen. An seiner Stelle blickt mich eine Sonne an. Gelb vor blauen Grund. Ein neues Laternchen? Jedenfalls wirkt es plastisch, als wäre es eine Lampe. Es ist eine bedrohliche Sonne, die mich da in der Nacht anscheint. Darunter lümmelt die Tochter des Schnauzers auf der Couch und beobachtet die rechte Ecke. Steht dort vielleicht der Fernseher? Ich blicke über den Bildschirmrand meines Computers, sehe mich im Spiegel meiner Scheibe. Daneben hackt Ruth auf die Tasten des Chats. Zeit, mein rotes Rollo fallen zu lassen. 15. Oktober
2000 Ich freue mich über meinen scharfen Fernblick. Darüber gehen die Lichter beim Leblosen aus. Gewiss, er muss hinaus in die Nacht. Im Schatten Leben aus den Lebenden trinken. So unerkannt weilt er weiter unter dem Dach mitten unter uns. 16. Oktober
2000 Bei den Unscheinbaren zeigt sich die Laternensonne im Fenster im Gegensatz zur Nacht auf gelben Papier. Die Gliederpuppe ist nicht an ihren Platz ins Fenster zurückgekehrt, an ihrer Stelle steht jetzt ein weißer Porzellanzylinder. Für einen kurzen Augenblick zeigte sich die Rote heute Mittag im Fenster der Mutter und winkte über die Gasse zur Nachbarschaft. Ihre Haare wirkten im Sonnenschein wie ein Gespinst feuriger Kupferfädchen. Sie hatte einen blauen Schurz vorm Leib. Hektischer Hausputz, Gardinenzupfen und Lüften. So wie jeden Werktag. 17. Oktober
2000 18. Oktober
2000 Ich sitze am linken Computer und sehe auf die Stuckaturen des Nebenhauses meines Gegenübers, die die Fensterstürze zieren. Sie fielen mir heute bereits auf der Straße wieder einmal auf. Jetzt wirkt das Gesicht unter dem Dachsims noch grimmiger als am Tag, während der Engel eine Etage tiefer noch lieblicher scheint. Gut, dass ich den grimmigen Kopf dieses Hausgeistes nicht von meinem Arbeitsplatz aus sehe. Der Leblose hat seinen Fernseher ausgeschaltet. Nun bläken mich seine nachtschwarzen Fenster ebenso an, wie die übrigen Fenster meines Gegenübers. Zeit, das rote Rollo zu schließen. 19. Oktober
2000 In der Studentenetage wird nach frühabendlichen Fernsehkonsum studiert. Und in der Gasse suchen Heimkehrende Parkplätze für ihren Wagen. Sie werden lange um den Stock kreisen oder in Einfahrten auf entstehende Lücken lauern. Ein Spiel, das gelegentlich auch mehr als eine Stunde währen kann. Trotzdem werden sie morgen früh wieder in ihr Auto steigen und den erlisteten Parkplatz ohne Not aufgeben. Es muss ein unglaublich spannendes Spiel sein ... 20. Oktober
2000 Ich blicke auf mein Gegenüber, nehme die Computerbrille ab, um die Farben unverfälscht zu sehen. Süße Feuchte, schönstes Herbstlicht weht durch die Gasse. Dieses sanfte blauende Grau, das den Duft der Erde, den Hauch der Fülle und des Vergehens mit sich trägt. Dieser die Sinne berauschende lichte Duft, zu dem ich mich niederlegen möchte in dunkles Gras und buntes Laub, und meine Hände auf die Erde lege, mich mit den Fingern in ihr verkralle, und Sterben, die Idee des Sterbens, mich wie pures Glück anmutet. Das ist in die Welt getreten, wie zu jedem Herbst. Ich atme tief, schwelge in diesem satten Odem, bin berauscht von Herbst. Vom Herbst, diesem satten Weib, dieser lüstern feuchten Buhlin, dieser reifen Traube, die mich nährt, um mich zu verschlingen ... Das Gegenüber ist unverändert, nur ein wenig mild entrückt. 21.
Oktober 2000 Sonnige Herbststimmung lässt mich die Unbeweglichkeit des Gegenübers wie milde Zeitlosigkeit empfinden. Es ist, als würde ich von einer Höhe aus weit ins Land blicken, auch wenn mein Blick nur ein gutes Dutzend Schritt weit über die Gasse reicht. So suche ich die Dachkante, die mir heute zum grünen Hang wird und blicke in den Himmel, in das Wehen der Föhnwolken und erfreue mich an den sonnenbeschienenen Kaminen. Später sommerlicher Abendglanz zu herbstlichem Spätnachmittag. Die Sinne verwirren sich. Das Gespinst ist verweht. 22. Oktober
2000 Gewiss er schwimmt. Durchs kupferbemäntelte Dachgeschoss, von einem Zimmer zum anderen, die schwach beleuchtet sind. Tiefgrün schattig die mittlere Gaube mit dem grünen Palmengespinst im Fenster. Hier wird er wahrscheinlich in die Tiefe tauchen, um prustend im Nebenzimmer wieder nach oben zu treiben. Im Schein seines roten Vorhanges Sonnenuntergang erleben, sich auf Parkettstrand fläzen. Indessen hat bei den Unscheinbaren die nachtschwarze Sonne, ans Fenster geklebt, ihre nächtliche Reise angetreten. Senkrecht ragt der Galgen einer lichtlosen Halogenlampe, wie eine Schöpfkelle ins Fenster. Licht steigt aus der Tiefe auf, schlägt Schatten zur Decke. Würde ich sie sehen, die Unscheinbaren, dächte ich, sie erklimmen Berge im Morgenlicht. Nebel zieht in die Gasse und befeuchtet das Neonlicht. 23. Oktober
2000 Der Leblose schwimmt wieder in seinem Aquarium. Grünes Licht vor schwarzer Nacht. Seinen Strand, zwei Zimmer weiter hat er heute nicht beleuchtet. Dafür ist sein Tieftauchbecken daneben angeschimmert. Die Mutter der Roten schläft darunter. Im Fenster und im Haus daneben, schmökert der Schnauzer bei Licht auf seiner Couch. Ein satter Herbsttag ist in tiefe Nacht gestürzt. Satte Erschöpfung ... 24. Oktober
2000 Schwarze Regenwolken ziehen auf. Schneller Wetterwechsel. Jetzt glimmt beim Leblosen die grüne Rauhglasleuchte in der Doppelgaube auf. Wird allmählich heller. Der blaue Kelch samt Kerzenleuchter im rechten Fenster entleeren die Leere des Zimmers noch mehr. Vielleicht ist es doch kein Aquarium dieser Raum, in dem er plätschert. Womöglich ist er mit seiner eigenen Nekropsie beschäftigt, plätschert in seinem geöffneten Bauchraum mit den Sekreten seiner Fäulnis. Jedenfalls wäre das Licht auch hierfür passend, erinnert es mich doch an den Schein alter Operationslampen. Die sterile Kälte der aufziehenden Nacht gibt ihr übriges hinzu. Fünf Tage ohne Telefon. Abgeschnitten. Ärger grollt in meinem Leib, schwarze Gedankenblasen steigen mir ins Hirn. Hilfloser Zorn. Das Gegenüber
verschwindet mit diesen Zeilen mehr und mehr in Dunkelheit. Die blaue
Glaskugel des Himmels hat sich zu einem tiefvioletten See verwandelt,
der die Stadt bedeckt. 25. Oktober 2000 Ein sonniger Tag. Wie soll es auch anders sein, wo Ruth und ich uns heute seit 30 Jahren kennen. Ein flüchtiger Blick auf das südlich beschienene Gegenüber. Italienisches Licht. Beschauliche Stille, herbstliche Fülle ausstrahlend. Wenig Bewegung. Beim Schnauzer steht das Oberlicht auf. Darunter eine einsame Blüte des Aarons. Der Wind riecht nach Meer. Meeresbriesen wehen. Der Anker ist gelichtet. Wind bläht unsere Segel. Unser Schiff ist mit Liebe beladen. Welch süße Fracht. Wir nehmen Fahrt auf, die nächsten 30 Jahre zu durchschiffen. 26. Oktober
2000 Die Rote hat den Vorhangspalt wieder erweitert. Eine klaffender schwarzer Keil. Es fehlt nur noch, dass das Gesicht der Mutter aus dem Dunkel auftaucht. Zerknittert, vergilbt, mit trüben Augen und wirrem Haar klotzte es mich an. Ruht mein Blick länger auf dem Spalt, meine ich gar, sie im Hintergrund zu sehen. Vor Jahren stand sie im gleichen Zimmer vor ihrem lodernden Ölofen. Die Flammen schlugen bis zur Decke. Dichte Rauchschwaden hingen binnen Sekunden über ihren Kopf. Sie stand da, starr und starrte auf die Flammen. Doch was tat sie dann? Ich weiß es nicht mehr genau. Ich sehe sie nur noch wie Paulinchen aus dem Struwwelpeter zum Fenster wanken, mit erhobenen Armen. Flammte es noch hinter ihr? Egal, sie riss das Fenster auf. Stand eine Weile hilflos im Raum. Das Feuer war erloschen. Dann verließ sie das Zimmer. Danach sah ich sie viele Wochen nicht mehr. Die Rote hatte sie wahrscheinlich in ein Heim gefahren. Nur kurz, wie ein Kind zu Ferien bei den Großeltern, weilte sie seitdem bei ihrer Tochter. Womöglich hat sie wieder Ferien vom Heim. Jedenfalls scheint sie noch da zu sein. Die zugezogenen Vorhänge direkt gegenüber lassen es mich glauben. 27. Oktober
2000 Jemand liegt auf dem Sofa und blickt unbewegt in die rechte Ecke. Wer es sein könnte, verhüllt der Farn. Ich sehe die müden Funzeln über den Lampenschalen des Lüsters. Womöglich ist dieser Biedermeierverschnitt eine Hinterlassenschaft des Vormieters. Es war ein großer Kahlkopf mit einer Riesenfrau. Einmal die Woche spielten sie mit Gästen Rommé in dem Zimmer. Der Tisch stand dort, wo jetzt das Knie des Unerkannten in den Raum ragt. Zu Weihnachten stellten sie einen Weihnachtsbaum, der vom Boden bis zur Decke reichte in die rechte Ecke, in die nun lümmelnd gestarrt wird. Dann starb der Kahlkopf. Kurz darauf zog seine Riesenwitwe aus der Wohnung. Es war eine eigene Gemütlichkeit, den beiden in ihrem immergleichen Trott zuzuschauen. 28. Oktober
2000 Wenn ich mich aufrichte, sehe ich im rechten Haus durchs Oberlicht eine rubinrote Lampe leuchten. Von hier aus wirkt sie wie eine Narrenkappe. Könnte aber auch ein indianischer Vogel sein, oder eine Blüte mit spitzem Kelch. Eine prächtige Laterne in dieser mondlosen Nacht. Dunkle und helle Punkte schmücken ihre Bögen, täuschen Glitzern vor. Es ist ein Vogel. Gewiss, es ist ein Vogel. Sieh doch, trägt er nicht einen Traum im Schnabel. Oben in den linken Gauben reißt der Leblose an seinem geöffneten Leib. Schlurft mit heraushängendem Gedärm durch seine leeren Räume. 29.
Oktober 2000 Wir rauchen die letzten Zigaretten. Ich denke an die Rauchentzüge des Schusters. Wie hat er getönt und geraucht. Mit Nikotinpflastern bepflastert, sprach er darüber wie leicht das Aufhören ist. Als er schmal und gebrechlich war, hatte er es endlich geschafft ... auf das Nichtrauchen zu verzichten. Eigentlich wollte ich heute den Leblosen meucheln lassen. Nun ja, vielleicht wird er es zu einem anderen Tag tun. 30. Oktober
2000 Ja. Blicke ich länger dort hin, sehe ich ihn im Fenster stehen und in die Gasse starren. Nein es sind mehrere Geister, die sich übereinanderlehnen, die Köpfe aneinander drängen, zu mir herüberschauen, und mir das Licht neiden, unter dem ich sitze. Ich werde mich ihren Blicken entziehen und das rote Rollo schließen. 31. Oktober
2000 Nachts durch nieselnden Nebel nach Hause geeilt, in die warme Gemütlichkeit meiner Wohnung. Jetzt zeigt sich mir beim Leblosen, was ich zuvor bei Tag auch hätte sehen können: die Wohnung wird renoviert. Geweißelt und dekoriert. Der rote Vorhang ist verschwunden, ein Stehlampenschüsselstrahler wurde ins Fenster gerückt ... Doch das geschieht sicher nicht für neue Mieter. Jedenfalls ist es nur diese Nacht, wo sich die Toten unter die Lebenden mischen können, oder dürfen. Und nur an diesem Tage mag ein Lebloser seine Aufträge fürs kommende Jahr verteilen, auf dass er weiter unbehelligt weilen kann. Und wahrscheinlich wird er jetzt, während die Farbe an den Wänden trocknet, durch die Gassen rasen, um seinen Durst nach Leben zu stillen. Die Studenten schauen sich die Börsennotierungen im Teletext an. Die Rote ist mit ihrer Dunkelheit alleine. Und die Unscheinbaren sitzen im unscheinbaren Schein einer Leuchte. Spot von rechts. |