Januar 2001

Februar 2001
  März 2001
  April 2001

Mai 2001
  Juni 2001
  Juli 2001
  August 2001
  September 2000
  Oktober 2000
  November 2000
  Dezember 2000

November

1. November 2000
Der junge Mond ist mit der Sonne verschwunden. Ein paar Tage noch werden die Nächte finster bleiben. Beim Leblosen erhellt die Stehlampe im Fenster den Erker. Anstreicherutensilien auf der Fensterbank. Ab und an eine kurze Bewegung, ein Rücken, ein Arm huschen in den Blick. Was mag er nun wirklich tun? Zieht er ein, oder aus?

Ach, stell dir nicht solche Fragen. Du weißt es doch. Er säuft sich die Wampe voll mit Blut, zu Allerseelen, Martini, zur Wilden Jagd und zur Fasenacht. Das ist es, was ihn rumtreibt und sonst nichts.

Da machen es sich die Unscheinbaren schon einfacher. Auf leisen Sohlen huschen sie durch die Wohnung, durchs Treppenhaus, durch die Stadt, um sich irgendwann ebenso auf leisen Sohlen auf den Friedhof tragen zu lassen. Freilich ist der Blick heute in ihre Gaube eine formale Weide für das Auge. Ich grase sie ab.

Die weiße Dachschräge des Dachs, von der Gaube zum Dreieck aufgeworfen. Dahinter die rechte Wand in einem grundlosen Grau, graue Tiefe, geblockt von der Decke in schön verschattetem Verlauf zur hinteren Wand. Dort ein Schmutzweiß, das über seinem Spiegel einen Hauch von Grau wie Nebel scheinen lässt, in der Farbe und doch nicht zu ihr gehörend. Dann der Türsturz in edlem Eisgrau, der Anschnitt des Türblattes schrägt in den Raum, den Sturz durchbrechend. Links die schwarze Linie des Bilderrahmens, eine Illusion von Reinweiß das Passepartout, knapper Schwarzglanz der Bildtafel, von der Nacht am Fensterbrett geschnitten.

Schwarze Fensterrahmen, leicht sonnengelb von der Glaskante bestrahlt. Im Oberlicht weiß und wassergrau die Blätter der Jalousie. Das rechte Fenster leer. Der Blick ins Innere reine Form, Flächen und Farben, die sich zueinander schneiden miteinander korrespondieren. Gelungene Harmonie voll belebender Spannung.

Im linken Fenster die bekannten Accessoires, als eigene Bildtafel. Blass die Sonne heute Nacht im linken Flügel, nicht schwarzblaugelb! Ein Glaskelch dahinter, verleiht ihr den Anschein eines eigenen Laternenfußes, ein Kelch mit Grau gefüllt daneben. Im Flügel daneben, das Geschlinge der Wasserpfeife, aufgerichtet der Galgen der Tischlampe und nachtweiß ein Zylinder auf der Fensterbank, durchscheinend als wäre er ein Gefäß für die Seelen der Grauen.

Wer es versteht hinzuhören, wird die Seelen durch die Lüfte schwirren sehen. Ein spätes Seelchen, eins dieser durchscheinenden grünen Mückenfliegenfalter, fliegt durch den geöffneten Fensterschlitz, umflattert die Schreibtischlampe und verkriecht sich schließlich unter meiner Tastatur.

2. November 2000
Frühlingslicht. Das ist die Sonne, die den Schnee wegleckt, die da schräg übers Dach einfällt. Nachmittag, Schattenwurf im 15 Gradwinkel. Späte Eintagsfliegen schwirren, wie dünne Flocken hochsommerlichen Samenflugs. Distelstaub. Und doch nur ein müdes Regen, ein sich in den Schoß der Erde eingrabendes Zurückziehen. Heimkehren. Sieh hin, es ist goldenes Winterlicht, Licht vom Rande der Welt, das das Gegenüber schmückt. Die Fassade mit Rotgold überzieht. Keine Bewegung sonst. Ferne Geräusche, einer fernen Stadt. Die Herbstbraut, dieses pralle satte Weib, hat sich aufgeputzt, um sich mit dem Winter zu vermählen. Warme Lust versinkt in kühler Strenge. Nebel werden geboren.

Ein Taubenpaar ist zurückgekehrt. Nein, noch nicht. Beäugt die Nische. Zwei besonders hübsche, junge Täubchen. Werden sie sie für sich küren. Es wäre ein gutes Omen für den Winter.

Ein Anstreicher hat heute Morgen, den Sockel des Hauses mit schnellem Pinsel aufgefrischt. - Frühjahrstun im späten
Herbst.

3. November 2000
Frage: Gibt es einen Sohn der Roten? Sehr familiär beugt sich ein rotblonder Schopf aus dem Fenster. Schaut in die Gasse, zieht sich wieder zurück und die Gardine vor das geöffnete Fenster. Was gestern noch wintern wollte, ist heute goldener Oktober. Warmes Herbstlicht streift die Fassade. Lange Schatten wie zum frühen Abend, wo es gerade Mittag ist. Tiefe und Form, Licht und Schattenspiel scheinen mir heute von einzigartiger Prägung: einerseits voll Schärfe, gleichzeitig von mildem Übergang; kantig und weich; verwoben und disparat. Das Gegenüber wölbt sich mir schier wollüstig entgegen, als sehnten sich die Fensterleibungen nach lebendiger Füllung. Eindringen. Eindringen in ein Haus ...

Das satte himmelblau des Morgens wird nun von wolkengrauer Watte gedeckt ...

Was ist ein himmlischer Fick?

8. November 2000
Für vier Tage war Cantina Patronata drüberhalb der Autobahn auf der einen Seite und das Meer auf der anderen Seite mein Gegenüber. Betrachtete ich es so wie das Gegenüber hier, legte ich mir wahrscheinlich zwei Teleskope zu. Das eine richtete ich auf die Stadt im Rücken und das andere aufs Meer, um in die Fenster der Wohnungen und in die Kabinen der Kreuzfahrer zu luren.

Es ist Nacht. Mein gewohntes Gegenüber ist jetzt unbewegt und verdunkelt. Die Gasse ist ruhig. Es finden sich keine Paare in Autos, die sich gegenseitig in den Schritt greifen. Keine Mädchenköpfe, die sich rhythmisch über dem Schoß der Kraftfahrer bewegen. Keine Drogensüchtigen, die sich im Laternenschein in die Venen stechen. Keine Fahrzeuge, die zertrümmert vor geknickten Laternenpfählen stehen. Keine Turner und Läufer, die die Promenade bevölkern. Keine Hunde,
die in den Sand scheißen. Hier ist die Nacht längst zu kalt, um sich öffentlich zu regen ...

9. November 2000
Was bewegt sich gegenüber. Der Schnauzer konferiert mit seiner Frau. Sie gibt sich verschlossen mit verschränkten Armen im roten Pullover, während er mit den Händen aus der Ecke hinter dem Regal hervor spricht. Nur ab und an sind seine Gesten kurz zu sehen. Einmal tritt er einen Schritt auf sie zu, und verschwindet sogleich wieder hinter dem Regal. Jetzt öffnet sie die Arme, erwidert knapp und verschließt sich wieder. Sie scheint sich ihre Gedanken mit dem Blick auf mich zu holen. Jedenfalls sieht sie in meine Richtung, während sie ihm zuhört.
Was aber sieht sie. Einen verschatteten Kopf, der über einen Bildschirm äugt. Ein fernes Bild, so fern wie ihre Gedanken.

Sie haben ihr Gespräch beendet. Sie verlässt den Raum, er begibt sich wieder hinters Regal. Beider Bewegungen verraten Einigkeit, doch keine Zufriedenheit. Man wird über das Gesagte noch weiteres sagen.

Die anhaltende Novemberstimmung schwingt auf zu einem sonnigen frühwinterlichen Abend.

Jetzt sitzt das Töchterchen auf der Couch, bürstet sich abwesend das Haar. Die Mutter steht daneben, hält eine Tasse in der Hand, blickt auf sie. Vater Schnauzer tappt hinzu, nimmt die Ecke. Ich sehe seine Hände Papier halten. Die Tochter ist das Gespräch und will es nicht sein, bockt ein wenig, hält sich an der Bürste fest, zupft ihre Strähnen. Die Mutter verlässt das Zimmer. Der Vater scheint die vorbesprochene Linie gefunden zu haben. Sie greift, das Mädchen wirkt nun aufgeschlossener, spricht nachdenklich, lächelt. Die Mutter kehrt zurück. Die Tochter verlässt das Zimmer. Die Frau spricht zu ihrem Mann.
Verlässt den Raum. Folgt der Tochter zum Nachtarock, auf dass die Linie Linie bleibt.

10. November 2000
Die letzte Aaronblüte im Fenster, die man, wie mir unlängst verraten, eigentlich Calla nennt, lehnt braun verdorrt gegen die Scheibe. Namen scheinen bedeutsam zu sein. Einen Aaron kann man keinen Aaron nennen, wenn er eine Calla ist. So wie ich den Schnauzer nicht Schnauzer nennen sollte, wenn er keinen Schnauzer trägt. Und doch ist er ein Schnauzer. Seine Oberlippe ist füllig zur Schnauze aufgeworfen. Egal ob darüber noch ein Bärtchen sprießt oder nicht, er bleibt ein Schnauzer.

Im Fenster der Unscheinbaren steht eine Plastiktüte, konisch geformt. Sie könnte einen Strauß verbergen. Ein Mitbringsel für eine Einladung? Nur an welchem Tisch würde man die Unscheinbaren als Gäste bemerken? Könnten sie doch stundenlang in einem Gasthaus rasten und mitgebrachte Butterbrote verzehren, ohne vom Wirt behelligt zu werden.

Verschattet und unbewegt versinkt das Gegenüber im frühen Abend. Geister lösen sich aus den Wolken. Sinken im Nebel in die Gasse.

Ein zweiter Blick zu den Unscheinbaren, die Plastiktüte ist aus dem Fenster genommen, die Jalousie heruntergelassen. Eine unscheinbare Handlung, unbemerkt und ungesehen.

11. November 2000

Martini. Nacht. Eine Gans als Seelenopfer schmort im Ofen.
Gestern liefen Kinder mit Seelenlichtchen durch die Straßen.
Heute wehen Seelen durch die Gassen. Wollen auf weiße Daunen gebettet von den geopferten Martinsgänsen in den Nachthimmel getragen werden. Der Himmel ist auf das Dach des Gegenübers gesunken. Einhüllende Schwärze. Ein blitzender Pfeil ragt in den Himmel. Leuchtet hell wie Merkurs Stab, auch er ein Seelenbegleiter. Nur für diese Nacht zeigt sich der launische Gott.

Sage nicht, es ist der Stahlzylinder auf dem Kamin, in dem sich das Licht des aufgehenden Mondes spiegelt. Selbst wenn es so wäre, weder der Gott noch die Seelen, die sich ihm anvertrauen, würden es dir verzeihen, dass du die Zeichen falsch deutest.

Zwei Tage schon herrscht Dunkelheit beim Leblosen. Liegt er mit aufgedunsenen Bauch voll schwarzem Blut unterm Dach? Rülpsend und verdauend? Oder hetzt er durch die Gassen hinter warmen Leibern her, um an diesem längst verworfenen Neujahrstag noch einmal warmes Blut zu trinken?

12. November 2000

Rasch wandelte sich der Nachmittag nach knappen Abend schon zur Nacht. Düster das Gegenüber. Mächtig wie ein Hochaltar ragt die Ziergaube des Leblosen in die Dunkelheit. Im mittleren Fenster des Leblosen spiegelt sich das Licht einer Studentengaube. Nur bei den Unscheinbaren ist Licht und stete Bewegungslosigkeit.

Das Bild des blonden Mädchens, das vor Wochen einmal ins Fenster ihrer Gaube gehoben wurde, kommt mir wieder in den Sinn. Ein Engelchen, das dort unterm Dach gehütet wird. Engel sieht man nur selten im Leben ...

Die Schwärze der Nacht sinkt tief in die Gasse. Der Lichtspiegel in der Scheibe des Leblosen ist gelöscht. Schlaf zu früher Nacht. Winternder Tod hängt in der sich tiefer senkenden Nacht. Ich werde mein rotes Rollo dagegenhalten.

13. November 2000
Eine warme Nacht. Der Fön hält an und die Menschen in Bewegung. Auch der Leblose ist zurückgekehrt. Voll des guten Blutes rumort er durch das Dachgeschoss. Alle seine Fenster hell erleuchtet. Ab und an sehe ich zwei Männer durch die Räume huschen. Keiner von beiden ähnelt der tumben Statur des Leblosen. Der rote Vorhang ist gegen einen weißen vertauscht. Die Yucca aus dem Fenster in den Raum gestellt und gegen die Wand gerügt. Acht Blattspitzen sind noch zu sehen.

Alles sieht nach Einzug aus, auch wenn keine Möbel ins Haus getragen wurden. Ein schwules Paar? Oder hat er sich verjüngt, gewandelt, der Leblose, nachdem er mit den Novemberseelen seinen alljährlichen Reigen tanzte, den Warmen das Blut aus den Lenden schlürfte? Einer der beiden jungen Männer wird das Medium zur Welt der Lebenden sein, der Besorger des Leblosen und zugleich sein Proviant ...

Kerzenlicht bei den Unscheinbaren. Helles Licht beim Schnauzer und abwechselnde Besetzung der Couch. Besuch, und zwischendurch die Tochter im roten Dress. Ein belebender Farbtupfer im Schwarz der Nacht.

Seit Tagen Dunkelheit bei der Roten. Wahrscheinlich ist sie mit ihrer Mutter ins Altersheim gezogen. Oder stolpert womöglich mit ihr noch über Friedhöfe, um den Ahnen Seelenlichter anzustecken. Oder aber der Leblose ist eine Etage tiefer gezogen und nun liegt sie blutleer über die Mutter aufs Bett geworfen im Raum gegenüber. Und die Mutter, deren Blut dem Leblosen zu alt, zu abgestanden ist, regt sich müde gleich einem sterbenden Käfer unter der Last der Tochter, versucht sich freizustrampeln und verheddert sich mit jeder Bewegung mehr in ihren Bettüchern, die ihr zu Leichentüchern werden.

14. November 2000
Der November ist wieder November. Vergraut der Blick aufs unbelebte Gegenüber. Die gelben Ziegel wirken grünstichig, das Kupferdach bleiern, die Scheiben schwarzleibig, das ganze Haus ein Trugbild, auf Schwemmland gründend. Regen wird es fortwaschen. Nebel es einhüllen. Der Fluss es fortwaschen.
Die Nacht es verschlucken. Und der Morgen es wieder vor meinen Blick stellen.

Der Schnauzer sitzt mit gestutztem Haar in seiner Schreibtischkanzel. Ein Fremder für meinen Blick. Seine Tochter kommt ins Zimmer, rein und raus. In wechselnder Garderobe zeigt sie sich dem Vater. Baut sich vor seiner Kanzel auf.
Mal mit Rock, mal mit Hose, stets mit roter Bluse. Zuletzt im schwarzen Pullover und beiger Hose und Anorak im Arm. Was erst wie ein Einkauf aussah, entpuppt sich nun als Einkleidung für ein Ereignis. Nur welches wird es sein? Heiter wie sie ist,
wird es kein Krankenbesuch werden. Wichtig wie sie sich in ihrer Garderobe dem prüfenden Blick des Vaters aussetzt, wird es auch kein Rendezvous sein. Besucht sie vielleicht die Erbtante?

Die herabgelassenen Rollos versperren mir den Blick für weitere Mutmaßungen und verstärken die Düsternis. Kräftig wirkt nun das fahle Licht der Unscheinbaren, himmelhoch, im tiefschwarzem Dach vor tiefhängenden Regenwolken.

Eine einsame Krähe fliegt entlang der Firstlinie nach Norden.

15. November 2000
Nacht ist, wo wir Abend wähnen. Die Stadt brüllt zum offenen Fenster herein. Mit heulenden Motoren jagen die Heimkehrer durch die Gassen, jagen nach Parkplätzen, jagen der heimischen Gemütlichkeit entgegen.

Der Leblose hat Licht in seinem Aquarium, aus den anderen Fenstern schimmert grauer Schein. So pflegt er sich, um nicht zu schnell im Licht zu altern.

Daneben im Dach die Unscheinbaren, in gewohnter Unscheinbarkeit. Nur ein Grüngewächs, neu hinzugekommen, am linken Fensterrand rankt sich Tag um Tag ein Stückchen näher dem Fensterkreuz entgegen. Zeigen sie damit nicht schon zu viel Mut, sich zu zeigen?

Die Rote zeigt weder sich noch ihre Mutter. Womöglich ist sie mit ihr auf einem Kirchhof verschollen. Oder wo sonst verbringen Hausbesitzerinnen, zumal rote, ihren wohlverdienten Herbsturlaub, als im warmen Schein der Grableuchten, auch Hindenburglichter genannt. Rote, langlebige Lichter ...

16. November 2000
Meerblau und unendlich tief der Abendhimmel. Die heraufeilende Nacht dunkelt ihn von Augenblick zu Augenblick mehr ein. Schon weicht das Blau dem Grau aufgewühlter See. Darunter das Kupferdach in konturlosem rotschwarz. Einsam der ferne Schein aus der linken Gaube des Leblosen, ein mattes Leuchten aus seinen rückwärtigen Räumen. Fürchtet er sich etwa, aufwachend aus nächtlichem Tagschlaf, im Dunklen zu erwachen? Ein Dämon, der sich vor der eigenen Entsetzlichkeit ängstigt?

Die Rote ist zurückgekehrt. Jedenfalls habe ich sie heute morgen kehrend vor dem Haus gesehen. Hektisch, als gälte es, die fortwährende Hausarbeit zu Ende zu bringen, schwang sie den Reisigbesen, und dennoch wird sie damit nie zu einem Ende kommen. Sie ist schrecklich dürr. Der Rücken gebeugt.
Ein Form annehmender Witwenbuckel. Sie wird der Mutter ähnlich. Bald wird ihr auch das dunkle Mal der Mutter auf die linke Backe wachsen. Muttermale ...

Nichts verrät indes ihre nächtliche Anwesenheit. Sucht sie etwa nach den Visiten auf den Friedhöfen ein letztes Liebesaben-
teuer, bevor sie sich ganz dem Altern hingibt?

Nur wenige Zeilen, und schon hat die Nacht den Abend verschlungen.

17. November 2000
Zehn gelbe Ziegel, dann ein Putzband, zwei Ziegel breit, braun gestrichen, darauf neun und ein halb gelbe Ziegel, dann die Sturzkrone, gut fünf Ziegel stark. Dreißig Ziegel hoch ist die zweite Etage meines Gegenübers. Parterre und Beletage sind wenigstens zehn Ziegel höher. Vielleicht werde ich sie einmal zählen.

Ziegel zählen und fantasieren, das ist das, was das Gegenüber mir zu bieten hat. Dieser dunkle bewegungslose Schnörkelklotz, mit seinen schwarz in die aufziehende Nacht ragenden Kaminen. Stelen, die weiß Gott, nur ich nicht, was bedeuten mögen ...

Da hat es mein Bruder in Berlin schöner. Steht er am Fenster seines Wohnzimmers, blickt er aus dem Dachgeschoss hinüber auf ein Haus in dem es wurlt und lebt. Keine Gardine versperrt seinen Blick. Des Abends ist alles von rotgelben Licht beschienen. Da spielen hier die Kinder, dort zieht eine mit Bedacht die Unterwäsche für den Abend an, wechselt die Büstenhalter und Schlüpfer, daneben paart sich ein Paar karnickelschnell, darüber wird das Abendbrot aufgetragen, darunter wird noch gearbeitet, und in anderen Fenstern ferngesehen oder gelesen.

Hier kann ich dem Schnauzer, heute im roten Gewand, in seiner Schreibtischkanzel mümmeln sehen oder, sofern ich mich aufrichten würde, den Studenten beim Fernsehen zuschauen, beobachten wie sie sich die Haare dabei verwursteln, sich im Schritt kratzen und den engen Stoff locker ziehen oder über den Tisch in ein Buch gebeugt studieren.

Dunkel ist das Dachgeschoss, ohne Kontur, nachtversunken. Nacht beim Leblosen und den Unscheinbaren. Kein Widerschein aus meiner Front. Ein nächtlicher Einriss, durch den mich das Gegenüber wie eine Ruine anmutet.

18. November 2000
Lichtspiele beim Leblosen. Grünes Auquariumlicht in der Doppelgaube. Weißgelbes Licht daneben. Blaugraues Fernsehlicht im dritten Fenster. Und wenn ich mich vorbeuge, Milchglaslicht in der Gaube daneben. Indes Dunkelheit in der abschließenden Doppelgaube ganz links.

Der Schmuckbogen der großen Gaube mir gegenüber schwingt sich in bislang nicht gesehenem Weiß in den Nachthimmel. Eine Grenzlinie zwischen was? Zwischen Nacht und Nachtwandlern, zwischen Wiedergängern und Seelenfrieden? Oder ein Bogen zur Dunkelheit hingespannt und gleichermaßen das kleine Leben umfriedend?

Gestern trug ich der Oma vom Nebenhaus wieder die Tasche zur Türe. Und obwohl ich dies für sie mache, wann immer ich sie durch die Gasse staksen sehe, erkennt sie mich nicht.

Wo stände sie im dunklen weiß umrandeten First der Gaube? Stände sie noch unter dem Bogen, oder spazierte sie schon über ihn, von der Nacht umfasst mit den Füßen aber noch im Sichtbaren weilend? Nun, sie erzählte mir von dem Bach, der einst durch unsere Gasse floss. Er fließe immer noch, nur sei er längst von der Straße gedeckelt. Ich meinte, es sei schon etliche Male in der Straße gegraben worden, doch nie hätte ich dabei den Bach entdeckt. Ja, erwiderte sie darauf, er ist ja jetzt nur noch ein Rinnsal.

Auch wenn sie mich nicht erkennt, sieht sie scheinbar mehr wie ich.

19. November 2000
Ein sonniger Totensonntag. Der alte Mond ließ sich noch zu Mittag sehen. Jetzt ist dunkle Nacht am Abend. Himmel und Dach meines Gegenübers ein einzig Schwarz. Aquariumgrün, weißlich gelb, fernsehgrau und milchglasweiß die Gauben des Leblosen. Weiß der Bogen der Doppelgaube. Blauer Kelch und Kerzenleuchter im Fenster unverrückt. Palmspitzen, heute elf an der Zahl, gegen die Wand gerückt. Schattenstreifen von Lampenschirm und Schräge an der Wand. Kahle geweißelte Wände.

Rotgelbes Scheinen bei den Unscheinbaren. Womöglich bluten sie diesmal zur Abwechslung in die Lampenschüssel, oder haben sie gar ein rotes Seidentuch über den Lampenschirm geworfen, um sich einander zu nähern. Lasziv bei unverstellten Fenstern in die kein Blick fällt.

Aber nicht doch, Gegenüber trägt man tote Hose, schließlich ist heute Volkstrauertag, Halbmast, und irgendwer muss ja heute Trauer tragen.

20. November 2000
Die Nacht schickt sich in den Morgen. Den lieben langen,
langen Tag kaum einen Blick für das Gegenüber gehabt.
Die Augen huschten über den Bildschirm und hefteten sich an Handbücher. Das erste Mal einen Computer von Grund auf installiert. Nur gelegentlich sah ich hinüber.

Die neue Dekoration der Kleidermacherin ist mir noch in Erinnerung. Ein schwarzes Kostüm, der Zeit entsprechend, liegt im Fenster. Und den Leblosen sah ich einmal, gebeugt, geschoren, in seinem Aquarium. Ließ er Wasser in die Etage oder scheuerte er Algen von der Wand. Wahrscheinlich letzteres, von seiner Bewegung her zu schließen.

Guten Morgen, unbewegtes Gegenüber in stiller Nacht ...

21. November 2000
Aquariumzauber, hineingeschnitten in die Nacht. Vier rechteckige Einbrüche. Zwei längs gestellt, die größeren, zwei quer darüber gelegt, die kleineren. Grünliche Wände, minzfarben Grau wie zerflossenes Pfefferminzeis auf dem Pflaster. Ein Ufo an der Decke klebend. Drei Strahler düsen Ionenstrahlen. Wahrscheinlich ist dies der Eingang in die Welt der Außerirdischen. Sie sind da, und sie steigen durch den Speicher hinab in meine Gasse. Heute in der Stadt habe ich Hunderte von Außerirdischen gesehen.

Seltsam, dabei ist in der Eingangshalle zum Irdischen keinerlei Bewegung zu sehen. Wo nur nehmen diese Wesen Gestalt an?

Vielleicht im Treppenhaus vor der Wohnung der Roten. Heute, tags, sah ich den Vorhang, den mit dem unveränderten,
ja wohl bewusst gehaltenem Spalt, leise fächeln. Nur ein wenig fächelne Bewegung, kaum wahrnehmbar und nur für eine kurze Weile. Standen die Wesen vielleicht im dunklen Raum und beobachteten mich, und nahmen sich mich vielleicht zum Vorbild für ihre Mutation? Oh, hätten sie es nur getan und nicht auf die Rote, ihre Mutter oder in die Gasse geschaut,
dann wäre mir mein Ausflug heute in die Stadt erträglich gewesen.

Dass die Rote zu Hause ist, erkenne ich nur an den leicht verändertem Wurf ihrer Gardine. Oder sind es vielleicht doch Gäste aus anderen Sphären ...

Seltsam, kaum denke ich daran, bewegt sich der Leblose zum Fenster des Aquariums, ein grau gewandeter geschorener Schatten, beugt sich, geht zur Türe, löscht das Licht. Da steckt mehr dahinter. Bestimmt.

22. November 2000
Bleierner Abend. Es wird nur ein kurzes Dämmern sein, bis die Nacht übers Dach springt und sich auf ihm niederlässt. In williger Erwartung auf diese Vermischung trägt das Dach bereits nächtliches Schwarz, verbirgt seine Konturen. Nur das Gitter des Schneebrechers und die Stelen der Kamine ragen in das dunkle Violett des Abends, bereit, die Nacht zu locken, einzufangen und festzuhalten.

Kurz wie Dämmerung das Aufscheinen der Roten. Auf dürren Füßen sah ich sie, die Haustüre aufschließen. Im lila Mantel, von ebensolcher Mischung wie das knallige Junigrün, nach dem die Rostroten so gerne greifen. Dabei wäre Creme, Isabellfarben oder ein warmes Gelb der kleidsamere Ton für diese Rotschöpfe.

Mit einem Sack Daunendecken beschwert verschwindet sie nach hektischem Sperren der Türe im dunklen Ern. - Womit dieses Kreuzworträtselwörtchen auch einmal zu literarischen Würden gelangt. - Ach ja, diese Hektik, sie frisst nur Zeit. Was in Hektik getan, dauert meist länger als wäre es mit Bedacht getan; weshalb viel Zeit braucht, wer keine Zeit hat.

Huschig ihr Auftritt in der Wohnung. Kurzes lüften im Zimmer „Vorhangspalt“. Zupfen an der Gardine. Knappes Licht, der bislang unerwähnte Bauernschrank ist kurz zu sehen. Sie legt die Daunen daneben ab. Dann im dunklen Zimmer der Mutter,
das Fenster aufgerissen und die Gardine vorgezogen.
Jetzt herrscht wieder Dunkelheit. Sitzt sie nun im Schrank oder in der Dienstbotenkammer, um die guten Stuben zur Straße hin zu schonen?

Ich werde mein Rollo herablassen und mir den Anblick des folgenden nervösen fensterschließenden Rundganges ersparen.

23. November 2000
Goldener Abendhimmel am südlichen Ende der Gasse.
Eine späte Ahnung vom Tag, der hoch vernebelt war.
Gestern ein Bankraub um die Ecke. Heute wieder Alltag.
Nacht. Späte Nacht, und wieder lies mich der immer wieder abstürzende Computer nicht aufs Gegenüber blicken.

Jetzt ist es für mich nur ein dunkler Block. Ein wenig gekacheltes Gelbes. Ein Ansatz vom Bogen im Himmel. Sonst nur schemenhafte Dunkelheit. Dunkle Fenster hinter denen seelenlos Beseelte schlafen. Ruhe in der Gasse.

Würde ich mich erheben, sehe ich in der Studentenetage zwei Freunde miteinander plaudern. Der eine nach vorne übergelehnt, der andere zurückgelehnt. Spricht man übers Studium oder über Mädchen? Nein, ich denke nicht, in diesem Alter spricht man zu später Stunde besser über seine Eltern.

24. November 2000
Regen tropft von der Laterne. Es nieselt. Die feinen Streifen verleihen der Leuchte einen milchigen Schein. Rund wie der aufgehende Mond. Laternenmond vor meinem Fenster.

Ungewohntes beim Leblosen. Die Leuchte vor dem weißen Vorhang strahlt in den Nachthimmel. Spiegelt Leben vor, wo nur leere Hülle ist. Er gibt sich den Anschein von Lebendigkeit. Doch ich lasse mich nicht täuschen. Er sitzt in grauer Dämmerung dahinter und spielt mit seinen Knochen. Welch schaurige Weise klimpert er so vor sich hin? Spielt er sich das Lied vom Leben? Gegen elf Uhr knipst er die Lampe aus. Nur kurzer Schein in der Stube hinter dem weißen Vorhang. Dann Dunkelheit. Roter Widerschein von den tiefhängenden Nebelschwaden. Freitagabend, er macht sich auf, um in kalter Nässe warmes Blut zu trinken. Die dunkle Zeit, seine Hochzeit.

Rotorange das nächtliche Scheinen bei den Unscheinbaren. Blutdurst auch bei ihnen? Die blaue Sonne im Fenster ist verdunkelt. Sonnenfinsternis in Laternenkarten.

Weiß wirken heute Nacht die Ziegel meines Gegenübers.
Eine jungfräuliche Nacht für alle Durstigen und alle Willigen,
die ihren Hals lutschenden, saugenden, nagenden Mäulern anbieten.

25. November 2000
Wie kann man nur so über sich hinausgehen? Eine Lichterkette hängt im Fenster der Unscheinbaren. Und die blonde Unscheinbare wagte es zuvor gar, sich ins Fenster zu stellen und in die Gasse zu blicken. Dabei ist erst nächsten Sonntag Advent. Morgen ist Totensonntag.

Das war das Stichwort, um meinen Eintrag vom letzten Sonntag auf Volkstrauertag zu verändern. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass mir hier zwei Tage trotz Datensicherung verloren gegangen sind. Wühlen in den Disketten. Nein, der Fehler hat sich festgeschrieben. Sei’s drum. Wenn der andere Computer von der Reparatur kommt, müsste ich die verlorenen Einträge wiederfinden.

Oder hat sie mir gar der Leblose mental herausgesaugt?
Vorhin stand er als Schatten vor seinem weißen Vorhang im Erker und sah mich an. Weiß er, dass ich über ihn schreibe? Weiß er, dass ich ihn durchschaut habe? Sah er, was ich an diesen zwei Tagen für Wahrheiten über ihn offenbarte? Ich weiß es nicht mehr. Seltsame Nächte.

Seltsame Nächte. Am Abend leuchtete es über dem Dach meines Gegenübers so hell, als wäre ein Fest auf der Theresienwiese. Jetzt schmiert das Dach als Schatten ins nächtliche Grau. War es der untergehende Mond, oder näherte sich ein neuer Weltraumbus zur Raumbrücke des Leblosen,
um seine Passagiere auszuladen. Möglich wäre es, so voll wie die Stadt heute wieder mit dumpfen, hässlichen Menschen war.

Verfrühtes Adventscheinen bei den Unscheinbaren. Rotes Vogelspitzleuchten zwei Etagen tiefer. Dazwischen das milchige Neon. Und links das müde Grau aus der Gaube des Leblosen. Es ist eine kalte Nacht. Schneeluft weht von Norden her.

26. November 2000
Am frühen Nachmittag löste bleierne Dämmerung den sonnigen Tag ab und wandelte sich rasch zu dunkler Nacht. Das gewohnte Bild. Dunkelheit bei der Roten. Versenkte Rollos beim Schnauzer. Flammende Stehlampe im Erker des Leblosen. Lichtergierlande bei den Unscheinbaren. Schemenhaft der First vor schwarzvioletten Himmel.

Noch im Absatz, meinen Blick in den Himmel gerichtet,
um ein Wort für seine Farbe zu finden, wirft der Leblose seinen Vorhang zur Seite und löscht die Stehlampe. In der Bewegung blickt er nach links, sieht mich an. Ein junges Bürschchen. Allerweltsgesicht, kurzes schwarzes Haar. Oder ist es nur der Proviant des Leblosen, der selbst im Hintergrund bleibt.
Proviant für die hellen Sommernächte, die ihn unterm Dach festhalten werden?

Das Bürschchen kehrt in die Gaube zurück, kippt das Fenster,
wieder mit Blick zu mir. Soviel Bewegung auf einmal,
während diesen knappen Textes: Ich werde verwöhnt in dieser Nacht.

Dünner Nebel hängt in der Straße. Der milchige Schein des Neons, ein zartes Halo für Seelenwehen.

27. November 2000
Lange Schatten haften an den Sprüngen und Stuckaturen meines Gegenübers. Die Sonne steht am südlichen Ende der Gasse. Ihr müdes Licht streift Ziegel und Putz. Streifen, Risse, Körnchen springen ins Auge. Was sonst Fläche ist, ist nun ein Heben und Wellen, ein Leuchten und Dunkeln. Von Augenblick zu Augenblick wechseln die Farben. Tiefgelb zu Melange, Rosig zu Sandigweiß, Grün zu Schmutzgrau. Wechsel und Gleichzeitigkeit, nichts ist von Bestand. Was zuvor bewegter Prospekt ist beim nächsten Hinsehen uniforme Fläche ohne Kontur. Ein spätherbstlicher Vorgriff auf das Wechselspiel des Lichtes im April.

Elf Ziegelreihen, dann braunes Putzband, wieder zehn Ziegel und Putzband, nach rechts zum Nebenhaus abfallend. Woher diese Neigung? Ist es der weiche Grund, oder war es ein trunkener Maurer? So geneigt drückt das Gegenüber dem Schnauzer in den Rücken, der in seinem Zimmer hin und her geht, sich mal in seine Kanzel setzt, um gleich darauf wieder aufzuspringen.
Der zugekaufte Farn im Fenster davor scheint unschlüssig zu sein, ob er wachsen oder welken soll. Vielleicht missfällt ihm der rosa Übertopf,
in dem er steht.

Die sonnige Laternenkarte im Fenster der Unscheinbaren ist gegen einen fünfzackigen Stern vertauscht worden. Das Grün reckt sich weiter in die Höhe. Die Gliederpuppe ist auf die Fensterbank zurückgekehrt. Steht mit dem Rücken zum Geschläuch der Wasserpfeife und blickt ins Zimmer. Blickt sie auf die Zeichnung, der sie vorbildliches Phänomen war?
Links daneben ein Daumennagel großes rotes Herz. Ist es Dekoration oder falsche Blüte?

Vier Tritteisen am Kamin zur Rechten. Sieben Tritteisen am Kamin zur Linken. Rechts verputzter Schlot, links Klinkerstele. Könnte ich wählen, würde ich beide Häuser nehmen.

28. November 2000
Abendliche Nacht. Operationslicht im Aquarium des Leblosen.
Die Außerirdischen fallen durch die Lampenschleuse ins Irdische. Muss ziemlich überheizt gewesen sein ihr Gefährt, feuchtwarmes Waschenküchenklima weht um die Häuser, trübt die Sinne, lässt einen erschlaffen.

Vier Lichter im Oberlicht links, fünf im rechten. Rechtes Fenster: Eins im rechten Flügel, zwei im linken. Im linken Fenster spiegelgleiche Verteilung. Macht fünfzehn Lichter, eine bogumile Zahl. Fünf plus fünf plus fünf. Mani, der Unscheinbare, in seiner Seele verkrochene, grüßt über die Gasse aus der Gaube der Unscheinbaren.

Leere Ziegel im Nebelhauch. Ohne Farbe, kein Gelb, kein Grau, kein Weiß, nichts ... Farblosigkeit. Leer sind sie, die Steine. Leere Formen. Wofür bieten sie sich an, was mag sie füllen, was will in ihnen wohnen, was sich in ihnen verhaften?

29. November 2000
Abendrot zur Vesper. Mittags schien die Sonne noch wie zum Morgen aufs Gegenüber. Nur die Zinne war beschienen, der restliche Prospekt lag noch im Schatten meines Hauses. Jetzt lässt abendliche Düsternis die Fassade verblassen. Milchiggrau verschleiert von herbstlichen Dunst.

Der Schnauzer ohne Schnauzer sitzt im roten Strickhemd in seiner Kanzel. Heimelig vom Leselicht beschienen, zeigt er Profil. Clownesk springt ihm die Nase aus dem Gesicht.
Nun Wechsel zum großen Licht. Dazu Heimkehr der Unscheinbaren. Das rote Herz entpuppt sich im gedämpften Licht als Stecker im Topf des dauernden Grüns, das vom Fensterrahmen verborgen wird. Links und rechts Blattwerk.
So wächst, was mir einst als künstliches Gewächs erschien.

Das Neon flackert an. Noch müde gelb, bald milchig weiß.
Der Blechzylinder auf dem Kamin glänzt schwach im goldenen Widerschein des Horizonts, der die Sonne verloren hat. Mein Gegenüber entrückt in die aus der Gasse steigenden Nacht.

Jetzt regt sich auch der Leblose. Schließt sein Fenster, mit gewohntem Blick in meine Richtung. Frühstückszeit für Untote.

Später,als ich beim Weggehen den Müll in die Tonne werfe,
klingt aus der Tonne „Guten Abend, gute Nacht“ von der Walze eines Klimperspiels. Es bricht nach „selig und süß“ ab.

30. November 2000
Morgenstimmung zum frühen Mittag. Die schräg einfallende Sonne, hebt den Schmutz auf den Scheiben des Leblosen wie ein vorgehaltenes Schild hervor. Zwei Fenster glänzen indes frisch geputzt. Hat er die beiden Stuben dahinter an das Bürschchen untervermietet? Ein sauberes Bürschchen ...

In seiner Schreibtischkanzel der Schnauzer im roten Strickhemd. Farn und Calakraut im Fenster, das Oberlicht geöffnet. Darüber bei den Unscheinbaren der Schnabel einer Thermoskanne im Fenster. Eine Frau mit Mütze und übergeworfener Pferdedecke lässt sich unter der Fensterbank nieder. Ein Fetischverhalten, eine Krankheit oder womöglich Trauer, das sie zu solcher Eigentümlichkeit treibt?

Wenig bietet das Gegenüber einem Voyeur, noch weniger einem Spanner. Ich habe die Feste des Schusters nie beobachtet,
über die unter Eingeweihten in der Stadt geraunt wurde.
Ich habe auch die beiden Schwulen verschlafen, die vor dem Haus eine Beule ins Auto fickten. Hätte ich nicht selbst einen verbrauchten Dildo in die Gasse geworfen, hätte ich nichts dergleichen Schlüpfriges je gesehen ...

Mählich streicht die Sonne zum Einlass der Gasse.
Es wird bis zum Nachmittag dauern, bis sie den Schatten meines Hauses auf die Hofseite wirft. Ein wenig verhangener, eher sonniger November geht zur Neige. Die wehenden Seelen haben wenig Halt in ihm gefunden.