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März

1. März 2001
Unterm Fenster des Leblosen krabbelt eine schwarze Spinne. Einen halben Fingernagel groß mag sie sein. Offenbar hat sich der Leblose in einen Achtfüßler verwandelt. Weil er das Fastengebot für Blutsauger missachtete, muss er nun zur Strafe bis Ostern in Spinnengestalt bitter schmeckende Käfer aussaugen. Wohl darum wirkt seine Wohnung heute verlassener als sonst.

Verlassener? Wie kann Verlassenes noch verlassener als verlassen sein? Verlassenes ist unbelebt, doch ein Hauch mag es noch beseelen. Erst wenn der Geist aus dem zuvor Belebten endgültig entwichen ist, erscheint es uns verlassener als verlassen. So wie ein Toter erst zur Leiche wird, wenn er gänzlich entseelt ist. Wann das ist, wer mag es wissen. Als Kinder, damals, als die Särge noch geöffnet in den Leichenhallen standen, bemerkten wir den Unterschied zwischen den Toten und den Leichen.

Verlassen auch der Laden der Schneiderin. Nach wie vor haftet der gelbe Marker ihrer Abwesenheit in der Tür. Bin in Mailand, nicht im Mezzo, steht darauf. Ich habe es nicht gelesen, doch irgendwann muss ein jeder sich dem Erfolg in den Weg stellen, will er erfolgreich sein. Darauf zu warten, dass dich der Erfolg allmählich einholt, dafür ist ein Leben oft zu kurz. Erben wissen, was damit gemeint ist.

Im Studierzimmer Lichtpunkt auf das aufgeschlagene Buch. Am Rand des Lichtkegels der Studiosus, bleistiftkauend. Bedeutendes in der Schrift markierend. Die Bedeutung scheint ihm indes nicht leicht einzugehen. Er sucht die Ablenkung, telefoniert, steht auf, spitz den Bleistift, klopft mit dem Bleistiftende gegen den Text, als würde er sich dadurch lösen. Dennoch, seine Hand, die die Linien festhält, gleitet nicht tiefer im Text. Wieder greift er zum Händi ...

Die Tauben flattern um den schon lange ausgespähten Nistplatz und wollen ihn doch nicht besetzen. Er scheint ihnen nicht verlassen genug.

Verlassen der Schnauzer im grünkariertem Hemd in seiner Schreibtischkanzel. Nach kurzer Familienkonferenz haben sich Mutter und Tochter auf den Weg gemacht. Heute ist das Licht nach Kleiderkauf. Sie werden alsbald in leichter Bekleidung den kündenden Frühling beschwören und sich dabei ihr Bläschen verkühlen, um schnupfend und hüstelnd das Bett zu hüten, während in den Hinterhöfen die Kirschen zur Blüte erwachen.

Verlassen die Etage der Roten. Mutterschädel und Mutterknochen liegen wieder im Tontopf im Fenster. Jetzt in der Fastenzeit wird sich die Rote ebenfalls bis auf die Knochen schälen und sich alsbald zur Mutter legen.

Im Fenster des Schnauzer sitzt ein zweites Mädchen, etwas kleiner als die Tochter zuvor, auch mit anderer Frisur. So zaubert sich also ein zweites Töchterlein herbei. Der Schnute nach ganz der Vater. In welchem Schrank mag er sie nur all die Zeit, die ich zu ihm hinüberblicke, versteckt haben?

2. März 2001
Frühlingswehen bläht die Kröpfe der Tauben. Es ist ein Gurren und Balzen, ein Turteln und Hacken auf dem Gesimse meines Gegenübers. Seit Stunden treibt es die graublauen Vögel um die Luke unter der Traufe herum. Für den Augenblick herrscht Ruhe. Und schon flattern sie wieder herbei. Mal sind es ihrer drei, mal fünf, mal drückt sich die Henne unter die Dachrinne, tanzt, lässt sich beschnäbeln und gibt so Anlass zu erneuten Hahnenkämpfen. Ein überreiztes Treiben der Triebe. Jetzt hockt das Paar schnäbelnd unter Traufe. Darüber ein verschmähter Hahn, als dritter im Bunde und Störenfried, der dem Erwählten den Kamm anschwellen lässt. Alsbald wird das Paar Ästchen zum Sims hinauf tragen und einen Nistplatz anhäufeln.

Zum gelben Zettel in ihrer Türe hat die Schneiderin zwei grüne dazugeklebt. Botschaften an die Freier, auch hier lockt der Frühling die Triebe und wiederholt sich das Spiel der Tauben. Schäkern, rangeln und wählen.

Die Namenlosen haben die Weihnachtssterne aus ihrem Fenster genommen. Irgendwann blicken wir alle neu auf das Gewohnte und Unbeachtete. Ein Blick, der uns manches Mal beschämt, manches Mal erschreckt und nur selten erfreut. Seit exakt einem halben Jahr betrachte ich mein Gegenüber in beschreibender Weise und habe dabei gewiss vieles gesehen, was ich immer noch nicht gesehen habe.

Die Rote schreit vor Hunger, die Mutterknochen sind abgeschält, die Fastenzeit wird ernst genommen. Sie hat den Tontopf aus dem Fenster genommen und in die Küche getragen. Dort wird sie die Mutterknochen zerhacken und sich daraus ein Fastensüppchen kochen. Seitdem der Vorhangspalt nicht mehr ist, und auch der Überwurf gerade hängt, bin ich mir sicher, dass die Mutter nicht mehr ist. Bestimmt, es waren ihre alten Augen, die mich aus dem düsteren Dahinter anglotzten. Jetzt sitzt die Rote am Küchentisch, das aufgehäufte Erbe vor sich, die Muttersuppe löffelnd, und rechnet sich aus, wie viele Freier sie sich leisten könnte.

Unter der Traufe eine schlafende Taube, gelegentliches Schnabelzucken. Ob Hahn oder Henne, ihr fehlt der Widerpart zum schnäbeln, dafür aber hat sie einen ausgesuchten Nistplatz.

3. März 2001
Nacht. Vom Süden her strahlt Jupiter als einsamer Stern über dem First meines Gegenübers.

Gestern, vom Einkaufen kommend, habe ich gegen meine Gewohnheit doch einen Blick auf die Zettel in der Tür der Schneiderin geworfen. Sie ist nicht in Mailand, lenkt keine Freier um, doch Karriere scheint sie zu machen, ein Hinweis, sie ist in ihrem neuen Laden in Berlin zu erreichen. Die Berliner werden sich über den Berliner Schick in ihrer Auslage freuen. Die Rote wird sich bald einen neuen Mieter suchen müssen. Die anderen beiden Zettel: neben den Ladenöffnungszeiten, diesen Samstag geschlossen.

Das grüne Licht beim Leblosen ist in die Gaube der Unscheinbaren geflossen. Nur die Lichterkette liegt davor, strahlend wie das Feuer eines Smaragds. Trotzdem fällt sie aus der Zeit, wirkt unpassend, irgendwie aufgesetzt. Zeitgleiche Wischer vom Boxerschädel und vom Leblosen. Flüchtige Bewegungen in den Fenstern. Sie haben die Brandmauern durchbohrt und dünne Plastikschläuche hindurchgeschoben. Durch sie strömt dickflüssig Rotes von einem Haus ins andere. Sie tauschen ihr Blut aus. Blutsbrüderschaft der Mutanten. Gleichzeitig vermischen sich die Hausgeister, gleichen sich an. Ein bisschen Heiterkeit nach links, ein wenig Biederkeit nach rechts. Verständlich, nebeneinander will man nicht so unterschieden sein.

In der zweiten Gaube des Leblosen wurde der blaue Kelch gegen die Wand gerückt. Ein Zeichen? Für wen? Sanftes Apricot, das Licht im Raum. Lockfarbe für die Weiblichkeit?

Die Fernsehsüchtige hat sich ihr Bett vor dem Fernseher gerichtet, sie sucht den Schlaf vor der Mattscheibe, nachdem ihr Beischläfer das Nest verlassen hat. Er ist um etliches älter als sie, könnte ihr Vater sein. Wenn es ihr Professor war, dürfte sie die fällige Klausur bestanden haben.

Eigentlich wollte ich noch die Rote nackt ins dunkle Fenster stellen und mir Gedanken über die Verschiedenfarbigkeit von Kopf- und Schambehaarung machen. Doch ich lasse es lieber so dunkel und unbewegt auf ihrer Etage wie es ist. Es genügt, wenn sie in ihrer Küche das Mark aus den aufgebrochenen Mutterknochen schlürft.

4. März 2001
Im Studierzimmer ist der Vorhang vorgezogen, vom Schein einer Stehlampe beleuchtet. Warmes Gelb. Zurückgezogenheit. Er tut das einzig Richtige, weist den trüben Sonntag ab, verkriecht sich in der Gemütlichkeit seiner Stube. Regen glitscht die Dächer ein, sättigt die Farben der Fassaden. Ein Buch, eine Kanne Tee, eine Tafel Schokolade und eingemümmelt in eine Decke, so lässt sich der Tag ertragen.

Im Schnauzerzimmer Licht vom Deckenstrahler. Daneben auf der Couch die Frau, die Tochter - es ist nicht auszumachen - ein Buch blätternd. Gleichmäßig blättert der sichtbare linke Arm. Zweiblütig das Aarongewächs, ein Blütenblatt frisch entfaltet, das andere welk. Es ist ein sehr, sehr langsames, menschengleiches Welken. Im Hintergrund ein Gummibaum. Erst einmal erwähnt. Heute wirkt er wie eine Skulptur aus geschwärztem Eisen und nicht wie ein belangloser Schatten zwischen Tür und Fenster. Zwei Galgenleuchten im Gleichklang nach links gerichtet. Lichtlos, hintereinander gestaffelt. Eine am Schreibtisch, eine über der Armlehne der Couch. Dahinter ein Thermostat an der Wand. Gleichbleibende Wärme.

Wer es nicht versteht, sich dieser Sonntagsstimmung hinzugeben, wird diesen Tag verlieren. Grau kann eine äußerst distinguierte Farbe sein ...

5. März 2001
Der Schnauzer wird mir diese Woche seine Schulter nicht im Bergsteigerhemd entgegenhalten, sondern in altrosém Strick. Aus der Studierstube erhalte ich aus dunklem Raum spätnachmittäglichen Fernsehschwachsinn serviert. Zapp, zapp, ein unsichtbarer Daumen rutscht über die Fernbedienung. Von Talk zu Boulevard und Seifenoper. Auch ein studiertes Hirn schwimmt sichtlich gern in geschmackloser Sülze. Die Schneiderin ist noch nicht zurückgekehrt. Die Berlinerinnen reißen sich um ihre Klamotten. Die Tauben missachten heute den Nistplatz. Ansonsten leere Fensterhöhlungen. Stimmung: Nachsaison in einer Feriensiedlung.

Kurz gesagt, das gewohnte Bild, und doch ein wenig anders. Sehr grün das Dach heute. Sehr gelb die Ziegel. Satt cremig das heitere Gegenüber zur Rechten. Matt poliert der Zinkzylinder auf dem Kamin. Tief rotbraun die Kaminziegel. Mit steigender Luftfeuchtigkeit steigt auch die Farbintensität.

Der Student hat den Fernseher ausgeschaltet und sitzt nun telefonierend auf der Fensterbank. Grau, farblos und verwechselbar. Tochterheimkehr beim Schnauzer. Sie berichtet dem Papa, beim Verlassen des Zimmers knipst sie ihm die Stehlampe an und dämmt sie auf Gemütlichkeit. War der Papa gar lieb zu ihr? Heimkehr der Unscheinbaren. Licht in der Gaube und in der Dachluke rechts darüber. Dahinter Schlafkoje oder Zwergenwohnung. Wahrscheinlich letzteres, wo sich in dieser Stadt selbst eine Hundehütte noch als Luxuswohnung anpreisen lässt. Es werden Gnome sein, die dort hausen, weil ebenso unscheinbar.

Die Zeilen mitlesend wird sich die Unscheinbare ihres monatlichen Zinses bewusst. Sie drückt ihrem Preisboxer eine Axt in die Hand. Er soll die Fenster aus dem Rahmen schlagen. Sie selbst dreht die Wasserhähne auf. Sobald das Wasser Fensterhöhe erreicht, wird es in die Traufe fließen. Der Vermieter hat solch possierliche Ausbrüche vorausgesehen und den Estrich wasserdicht angelegt. Der Schnauzer wird somit von dem Pool über sich nichts mitbekommen. Es sei denn, die Unscheinbare geht ganz aus sich heraus und lädt zur Poolparty ins Dachgeschoss.

6. März 2001
Heute fügt sich das nächtliche Lichtspiel in den Dachgeschossen. Zur rechten, um eine Oberlichthöhe tiefer gesetzt, die Gaube der Unscheinbaren. Eisgrau mit einem Hauch Mint die Decke durch die Lamellen der Jalousie gesehen. Darunter staubiges Grau bräunlich eingeschwärzt in den Hintergrund ziehend. An der Deckenlinie ins blauschwarze kippend und auf den Lichtkegel des Deckenstrahlers zulaufend. So erhält der Raum Tiefe und die Decke täuschende Höhe. Ideal und zeitlos die Lichterkette im Vordergrund. So stelle ich mir den Blick vom Saturn aus vor; in die ferne kalte Sonne blickend, das All als blauschwarzes Zelt unter dem mir unzählige Monde sternengleich scheinen.

Zur Linken gelbstichig Grün das leere Aquarium. Die Ufo-Leuchte als sichtbare und ebenso unbestimmte Lichtquelle; nur ein Scheinen im zerstreutem Schein. Sattes Apricot ein Fenster weiter als Schlaglicht in die Fensternische gesetzt, Wand und Decke seidig schmeichelnd in den Schatten setzend. Dunkler Spitz des blauen Kelches, gegen die Wand gelehnt. Palmenspagat hinter der Gaubenkante ins Fenster reichend. Ansonsten Leere als warmes Sehen, im Gegensatz zur kühlen Klarheit des Aquariums.

Keine Bewegung, nur ein flüchtiger Schatten links, nachdem das Licht bei den Unscheinbaren gelöscht wurde. Jetzt rotviolette Tiefe. Sonnenuntergang auf dem Saturn.

Die Tauben, heute zu viert, wollten sich immer noch nicht entscheiden, wer mit wem unter die Traufe ziehen mag. Entschlusslosigkeit scheint das Los der Bewohner meines Gegenübers zu sein. Jede Wahl schränkt ein. Also bleibt alles beim Alten, und damit ebenso eingeschränkt. Ein Tunnel ohne Ein- und Ausgang.

Bezaubernd war das Bild, als sich die Tauben unter dem Bogen der Aquariumsgaube trafen, jener nächtlichen Himmelslinie, die mir Himmelspforte, Sternenleiter und Nachtgebet zugleich ist. Mit einem Male und nur für einen Wimpernschlag war diese Blende nicht nur verspielter Zierrat gewürfelter Architektur, sondern ein Raum, in dem sich des Lebens Größe offenbarte. Das Übersehene wurde so kurz zum Mittelpunkt.

7. März 2001
Entgegen dem Wetterbericht bleibt es heute grau verhangen. Kurzer Nieselregen fleckt das Dach ein. Gleich eisigem Schorf haften die Tropfen am schrägen Kupferblech. Im altrosa Pullover der Schnauzer an seinem Schreibtisch. Er reibt sich die Hände, wühlt im Papier. Was soll er tun? Blättern, Briefe beantworten, dies und das, all das nur, um den wertvollen Gedanken zu finden, der einem durch den Sinn schoss und sich mit der nächsten Unwichtigkeit verflüchtigte. Wie gut ich das kenne. Seine Frau hat das Zimmer verlassen.

Licht zum grauen Nachmittag in der Gaube der Unscheinbaren. Ein seltener Blick an einem Wochentag. Und trotzdem keine Impression, um ein Bild daraus zu zeichnen. Zu schwach das Scheinen. Zu dünn das Leben. Auch das Grün im Fenster wächst nicht mehr.

Mein direktes Gegenüber: Ein Strohhalm am Einflug unter der Traufe, doch keine Taube, die ihn nach innen zieht. Leblosigkeit auf allen Etagen. Kaum geschrieben, flattern die Tauben herbei, ziehen den Halm zum Nest. Wenigstens auf diese Abwechslung darf ich mich verlassen. Doch werde ich mich darüber nicht zum schreibenden Taubenmutterl wandeln. Heftige Hahnenkämpfe. Würde ich den Streithahn mit einem Luftdruckgewehr erledigen, wie ich es einst in rauschigen Zeiten tat, wäre nichts gewonnen. Der nächste Gockel säße schon mit geschwollenem Kamm auf dem First. Es ist ein bekanntes Bild, das Paar im Nest und der Hausfreund daneben. Offenbar gehört zu jedem Taubenpaar ein solcher Freier, Abstauber und Stenz.

Genug der Tauben. Im Durchblick zur Küche sehe ich die Rote über den Mutterknochen hingestreckt, seltsam verrenkt, als wäre der Knochenbrecher nun auch über sie gekommen. Es muss ein heftiges Abenteuer gewesen sein. Sie hätte ihn nicht von der Leine lassen sollen. Ihre Chancen auf weitere Techtelmechtel wären hierdurch gewiss gestiegen.

8. März 2001
Einem sonnigen Tag folgte ein verhangener Abend. Heute scheinen die Tauben die Nische unter der Dachrinne als Nistplatz angenommen zu haben. Der Hahn sitzt vor der Öffnung, aufgeplustert zum Schlaf, den Schnabel an den Kropf gedrückt. Der Streithahn hat sich einen Schlafplatz eine Etage tiefer neben der rechten Zierdolde gesucht. Mit den ersten Sonnenstrahlen wird er neue Hahnenkämpfe provozieren. Das gleiche Spiel wie vor Jahren schon gesehen, nur mit neuer Besetzung in Szene gesetzt. - Wie oft mögen wohl die Spiele, die wir heute neu ersinnen und mit bitterem Ernst in Szene setzen, vor uns zur Aufführung gekommen sein? 60.606,0606 Generationen im Heilandsalter wären zu zählen, sofern wir unserer Spezies zwei Millionen Jahre gäben.

Rotoranges Licht bei den Unscheinbaren, blassgelbes Licht in der Stehlampengaube des Leblosen. Licht an, Licht aus beim Schnauzer, ein vergesslicher Abend. Ich werde diesen Abend nicht vergessen. Ruth ist von der Kur heimgekehrt. Ihre Stimme, ihr Duft ist wieder um mich. Die Wohnung hat wieder die ersehnte Wärme.

Mein Gegenüber verliert seine Seele. So wenig belebt, wie es ist, wird es zum steinernen Klotz, zur putzig altbackenen Fassade. Die Rote hängt immer noch am Schlaftropf. In der Studentenetage wird am einen Ende ferngesehen und am anderen Ende studiert. Die Wohnungen links und rechts des Eingangs sind bislang in meiner Betrachtung nicht aufgeschienen. Warum auch, wo sie eh nur Schlafstätten sind. Wer sich in ihnen bettet, bleibt mir verborgen. Es sind Schattenmenschen, so verwechselbar wie die Studenten oder der Leblose. Unauffälligkeit muss sehr beruhigend sein.

9. März 2001
Das Experiment ist mangels Bewegung fehlgeschlagen. So der Gedanke, der mir heute durch den Sinn geht. Zwei Menschen in ihren Stuben zu beschreiben, wie sie an ihren Schreibtischen sitzen, wirkt als fortgesetzte Aussicht deprimierend. Das Geturtel und Geplänkel der Tauben auf dem Dachsims in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, ist ebenso wenig ermunternd. Eine Taube hat gerade ihr Gefieder ausgeschüttelt und dabei einen Schleier feuchten Staubes in den Wind gesetzt. Eine überraschende Sicht. Das Nest unter der Traufe wird eingerichtet. Ein langer weißer Strahl in die Gasse gedrückt.

Beim Nachsehen, ob der Taubenschiss traf oder nicht, sehe ich den Hausel, wie er im Parterre Löcher in den Lamellen des Rolladens mit Plastik kittet. Niedersitzend blicke ich wieder auf achtzehn leere Fenster. Sechs davon nur angeschnittene Oberlichte. Die Regenstreifen auf dem Kupferdach sind abgetrocknet. Die Gedanken werden fahrig, um Bewegung vorzutäuschen. Doch es bleibt beim Stöckchen sammelnden Taubenpaar, als einzig wirkliche Belebung meines Gegenübers. Also lasse ich sie, dieses Nekrodomium zukacken, bis es unter der Last ihres Kots zusammenbricht und als Guano abgebaut in ebenso leblosen Vorgärten ausgestreut werden wird. Nachdem die kaiserliche Herrlichkeit ihr Ende fand, wurde das Forum Romanum binnen tausend Jahren bis zu den Säulenkronen zugemüllt. So lange, denke ich, müsste ich nicht warten, bis sich der Schutt in meiner Gasse bis zu meinem Fenster schichtet. Vielleicht sollte ich schon jetzt damit beginnen, mir eine Türe in die Gasse zu schlagen. Ich denke, ich sollte diese Türe praktischer Weise in die Küchenwand setzen. Dann könnte ich mir einen Kräutergarten direkt vor meinem Herd anlegen.

Ich werde das gescheiterte Experiment fortführen. Schließlich kann es gar nicht scheitern. Denn nicht das Experiment würde scheitern, sondern allenfalls ich an ihm. Also werde ich Scheite sammeln, Scheite der Unbeweglichkeit. Ich werde sie zu Haufen schlichten und meine Ungeduld darauf verbrennen.

10. März 2001
Die große Tochter, der Mutter aus dem Gesicht geschnitten, sitzt auf der Couch, daneben der Papa. Sie albern miteinander. Im Satz verlässt sie das Zimmer und lässt den Papa Zeitung lesen. Das Wochenende beginnt.

Abendlicht bei den Unscheinbaren und in der Stehlampengaube des Leblosen. Bei den Studenten ein Raum mit Gaze verhängt, dahinter fernes Licht. Ansonsten Abwesenheit in meinem Gegenüber. Mähliche Dämmerung und feuchte Luft sättigen die Farben, die rasch verblassend ins Dunkle abgleiten.

Statt über meiner Aufgabe zu grollen und mit meinem Gegenüber zu zürnen, so dachte ich mir heute, als ich zum Einkaufen am Prospekt entlang ging, sollte ich mich mit ihm versöhnen. Es einfach ins frühlingshaft Heitere stoßen. Nicht mehr die Rote Mutterknochen zertrümmern lassen, nicht mehr den Leblosen abgestandenes Blut aus Eimern schlürfen lassen. Ja, gutmeinend die Garderobe des Schnauzers erwähnen, sein Werken am Schreibtisch als Vorbereitung zu sonntäglicher Laienpredigt erkennen, und in der Unscheinbare eine lebenslustige Handarbeitslehrerin sehen, deren Preisboxer ein liebevoller Ehemann und Vater ist. Eben darum will ich Blumen in alle achtzehn Fenster stellen, buschige Azaleen, sonnengelbe Märzenbecher und prächtige Papageientulpen nebst traumhaften Hyazinthen.

Es wirkt, glaube mir, du musst es nur versuchen. Siehst du nicht, wie sich dir bereits mit diesen Zeilen dein Gegenüber im milden Laternenschein öffnet, wie es dir Wärme schickt? Ich sehe es, ich spüre es, ich lächle ihm zu und blicke gerade aus ins Mutterzimmer und sehe wie ihr Skelett gegen die Gardine lehnt und sie aus leeren Augenhöhlen zu mir herüberstarrt. Ich will ihr zuwinken, ihr wieder Fleisch auf die Knochen zaubern, da zerrt die Rote das Muttergebein zurück ins dunkle Zimmer. Ich lächle darüber. Schließlich muss ich die Welt nicht so übel sehen, wie sie ist.

11. März 2001
Ein Hubschrauber kreist über dem Fluss. Das Geräusch der Rotoren echot von meinem Gegenüber durch das gekippte Fenster an mein Ohr. Er sucht in der dunklen Au nach einem Unhold oder einer Wasserleiche. Morgen oder übermorgen wird sich darüber eine Notiz in der Zeitung finden.

Als ich durch leichten Regen, vom Tanztraining kommend, nach Hause ging, dachte ich: Wäre mein Fenster Parterre vor einer Ampel, würde sich mein Blick auf mein Gegenüber rasch verlieren. Ich würde nicht mehr mein Gegenüber betrachten, sondern das was vor ihm ist. Ich würde nicht das gelbe Licht der Laterne vor meinem Fenster, nicht den Regen, der ihren Schein verschleiert, beschreiben, sondern über nasenbohrende Autofahrer sinnen. Nicht mehr der Blick auf die Tauben würde meine Betrachtung beleben, sondern die Technik des Popeldrehens und die diversen Spielarten, sie unbemerkt zu verschlingen.

Der neben der Zierdolde nächtigende Streithahn hat eine Partnerin gefunden, die sich knapp über ihm an den taillierten Fuß über dem Sockel drückt. So sind sie zusammengerückt und bleiben sich dennoch fremd. An diesem Platz werden keine Täubchen schlüpfen.

Versonnenes Nasenbohren vor rotem Ampellicht scheint ein Phänomen der Wagenlenker zu sein. Jedenfalls sah ich noch keinen der Bewohner vis-a-vis seinen Finger in die Nase stecken. Schnäuzen, ja des öfteren. Offensichtlich ist man in seiner Wohnung doch nicht so mit sich allein wie in seinem Automobil. Andere Gewöhnlichkeiten sind dafür zu sehen. Etwa heute morgen der Student, übrigens wieder ein anderer und doch der stets gleiche. Er saß kauend am Tisch, die Bücher ein Stück von sich geschoben, halb nackt, nur ein Stück Tuch um seine Lenden. Man hätte meinen können, er säße mit herabgelassener Hose beim Frühstück. Doch dann hob er das Tuch und schlüpfte in die Ärmel seines Morgenrocks und schloss ihn vor seiner Brust. Zu heiß geduscht, dürfte die Erklärung für dieses Verhalten sein.

Helikopterbrummen über dem Haus. Unhold oder Wasserleiche haben sich in die Gassen des Viertels geflüchtet. Der Regen wird stärker. Dreifarbiges Licht bei den Unscheinbaren. Eisblau, apricot, weißgelb. Sonntagabendliche Gemütlichkeit.

12. März 2001
Unverkennbar, ein Frühlingslüftchen weht durch die Stadt, auch wenn der Himmel sich bedeckte. Für eine kurze Weile nur zeichnete die Mittagssonne einen Schattenwinkel von 45 Grad an die Fassade.

Mit dem zunehmenden Licht wird auch der Zwang zum Frühjahrsputz erwachen. Das wintergrau ausgeworfener Schattenseiten muss zur Türe hinausgekehrt werden. Die Rote wird die Fenster aufreißen und die Reste der Mutterknochen in die Gasse bröseln und sich eine neue, blitzsaubere Mama in die Stube setzen. Der Leblose wird seine Blutgläser spülen. Die Unscheinbare wird ihr Wasserpfeifchen in Betrieb nehmen und den blonden Schopf ihres Engelchens zum Bleichen in die Sonne halten. Der Schnauzer, der gerade in einem ledernen Goldschnittband vorm Fenster blättert, wird sich hellkarierte Hemden anziehen. Und die Studenten, die heute morgen ihre Wäsche zum Trocknen in die Studierstube hängten, werden ihr Studium in die Parks und Cafés um die Hochschule verlagern. Die Schneiderin, die sich längst nicht mehr blicken lässt, wird ihr Bündel packen und endgültig von dannen ziehen. Und die Tauben werden ihren Nachwuchs unter der Traufe mit ausgewürgtem Speisebrei füttern. Und ich? Ich werde dem Erwachen meines Gegenüber zusehen.

Es wird werden, auch wenn mich augenblicklich nur launige Wärme anhaucht. Doch in dieser Wärme waltet ein Regen, das mich ergreift, mir durch Sinn und Körper fährt. Es ist wieder an der Zeit, Bäume auszureißen.

13. März 2001
Der Abend bot eine Überraschung. Die Augen nur auf die Installation gerichtet und nur gelegentlich abschweifend, zwischen schöpferischen Chaos aus Kabeln, neuem Scanner und Disketten sitzend. Mal ein Blick in den Himmel, stahlblaues Abendlicht. Dann zwischen zwei Blicken das Mutterfenster der Roten erleuchtet, die Vorhänge vorgezogen. Die Mutter ist zurückgekehrt, der erste Gedanke. Der zweite, die Rote hat das Mutterzimmer bezogen. Endlich gehört ihr der Raum, den zuvor die Mutter einnahm. Sie wird sich ins Mutterbett legen und deren Albträume träumen. Das Bett in dem sie geboren ist, richtet sie sich nun zum Welken, zum hineinwelken in die Mutterseele.

Jetzt bei vollem Licht im Raum hier ist mein Gegenüber dort nur ferner Schatten. Mitternacht, auf der anderen Seite sind die Lichter gelöscht. Blauschwarz meine Scheiben. Ruth und ich spiegeln sich vor den Bildschirmen sitzend darin. Das Ziegelwerk kachelt unsere Gesichter. Übergang ins Schwarze und himmelwärts sich ins Grauschwarze erhellend. Die Kaminstelen als bedrohliche Monolithe, die Tiefe der Nacht markierend. Regenstreifen im Sonnenwinkel um die Laterne.

14. März 2001
Nachtschlafen mein Gegenüber. Es ist kurz vor Mitternacht. Leselicht hinter Baumwolltuch bei den Studenten, in mir der Wunsch, mich gleichfalls in mein Bett zu mümmeln. Mitternacht, das Buch wird zur Seite gelegt, das Licht gelöscht. Anhaltendes Fernsehblau beim Leblosen. Keine andere Lichtquelle lenkt sein Auge vom Bildschirm ab.

Zum Abend war wieder Licht im Mutterzimmer hinter geschlossenen Vorhängen. Tagsüber keine Lebenszeichen. Ist es die Stunde, zu der sie sich von ihrem Schlaftropf abhängt, um sich allmählich von ihrem Winterschlaf zu entwöhnen? Oder ziehen sich die Tagungen der versammelten Weltweisheit jetzt bis in die Nacht hinein? Die Welt ist darüber noch nicht klüger geworden. Dafür zeigte das Wetter heute wahre Aprillaune. Also wird es die Rote sein, die allmählich erwacht. Es sei denn sie hat sich doch eine neue Mutterpuppe besorgt, die sie nun umhegt, weil die alte über den Winter verschlissen, gefressen und zerbröselt ist. Aufregender wären allerdings fortgesetzte Tagungen der Weltweisheit, wenn auch nicht hoffungsvoller. Die Wahrheit freilich ist, die Rote kehrte in das Zimmer zurück, um ihre Schäferstündchen dort zu verbringen. Im Mutterbett die Mutterseele durch Lotterei zu quälen ist ihr Genuss.

Heute nacht wirkt die Fassade heller. Im Spiegel der Scheiben treten die Ziegel in den Vordergrund, kacheln unser beider Köpfe nicht mehr, sondern lassen sie aus dem Gegenüber heraus scheinen. Hat mich gar mein Gegenüber geschluckt? Bin ich etwa durch den Lauf meiner Betrachtung unbemerkt auf die andere Seite gewechselt? Bin ich es etwa, der im Mutterzimmer das Licht ansteckt und sich hinter den Vorhängen verbirgt? Möglich, vielleicht will ich mich erst allmählich als Wechselgänger zeigen, damit der hier Zurückgebliebene sich nicht zu Tode erschrickt, wenn er sich im anderen wesen sieht.

Ein Blick zum indigofarbenen Himmel, dann fällt das rote Rollo, um mich vor unangenehmen Überraschungen zu bewahren.

15. März 2001
Unschlüssig mit einem Küchentuch über der Schulter stand die Unscheinbare im Fenster. Dann sah sie das längst Gewohnte und kehrte mit einem Hocker zurück. Mit zufriedenem Gesicht hängt sie jetzt die Weihnachtsgirlande ab. Es ist getan, der Frühling mag kommen.

Der Frühjahrsputz beginnt. Ihr blondes Englein steht auf einem Tisch und schaut der Mama zu, wie sie Nippes, Grün und Wasserpfeife aus dem Fenster räumt. Ein Putzkübel steht nun auf der Fensterbank. Sie hebt ihr Kind daneben, drückt ihm einen Lappen in die Hand. Mit großem Ernst wischt es die Scheibe, während sie das freie Fenster reinigt. Die Kleine spritzt derweil eifrig Glasrein aus der Flasche. Für die letzte Scheibe hebt sie ihr Kind nach unten. Dann öffnet sie ein Fenster nach dem anderen und reinigt sie von außen. Für lange Zeit werde ich sie nicht mehr so wenig unscheinbar sehen.

Es ist getan. Die Rote hat im Mutterzimmer die Vorhänge zur Seite gezogen. Zeigen tut sie sich jedoch nicht. Auch ich kann mich in meinen Gegenüber nicht finden. Der angedachte Schrecken der vergangenen Nacht bleibt mir also noch erspart. Die Gardinen verwehren den Blick in die Stube. Zur Nacht wird die Rote die Fenster wieder unbemerkt verhüllen, die Stehlampe anstecken und sich im Schummer verbotenen Frühlingsgefühlen hingeben.

Die Fensterbank ist wieder zugestellt und die Unscheinbare so unscheinbar wie zuvor. Vorbei der kurze Blick auf die Mutter-Kind-Idylle. Kalter Wind bläst von den Bergen her. Morgen wird es föhnen.

16. März 2001
Morgenstimmung. Ein seltenes Schauen für den nächtlich Schaffenden. Gleißende Sonnenlinie am Zinkzylinder auf dem Kamin. Der Brennpunkt weist knapp über meinen Dachfirst.

Langsam, aber doch merklich fließen die Schatten aus der Gasse. Zu Beginn dieser Zeilen rückte die Schattengrenze unter den Dachsims. Jetzt steht sie bereits zwei Handbreit tiefer. Im Sonnenlicht nun die Kapitäle der Pilaster und die Strahlenkränze der stilisierten Sonnen in den Fenstergiebeln. Das Dachgeschoss im frischen Morgenlicht.

Ein Tag beginnt, die Lust am Schaffen ist geweckt. Pfirsichfarben der Hintergrund in der Gaube der Unscheinbaren, als würde noch ein Nachtlicht gegen den Tag strahlen. Kräftig gelb, leuchtet im Morgen das Pentagramm der Laterne im Fenster. Nach dem Fensterputz wurde ihre Sonnenseite in den Schatten gedreht. Darüber markantes Grün. Das linke Fenster ist frei von Nippes.

Morgenputz beim Schnauzer bei gleichzeitigem Kaffeeausschank. Geschäftiges Rumoren dringt durch mein offenes Fenster. Staubsaugergeräusche aus verschiedenen Richtungen. Fernes Brausen der erwachten Stadt. Der Flug aus Zürich schwebt über der Firstlinie ein. Die Tauben flattern mit Zweigwerk im Schnabel zur angenommenen Brutstätte unter der Traufe. Grünblau schillerndes Farbenspiel ihrer Kröpfe im Morgenlicht.

Nun streift erstes Sonnenlicht in die Oberlichte der roten Etage. Nur scheint sich dort niemand zu regen, den Morgen zu empfangen. Gestern Abend meidete sie das Mutterzimmer und verbrachte ihre Zeit in ihren Mädchenzimmern an der linken Seite des Flügels bei Keks und Tee und schwülem Geplauder mit dem eigenen Spiegelbild.

Noch ein Blick in das frühlingshafte Blauen des Himmels. Kein Wölkchen trübt den Tag. Tiefes Durchatmen. Der Kontrast vom grün des Daches zum Blau des hohen Horizontes, abgemildert vom Kupferrot des Schneebrechers, öffnet mir die Brust. Eine unbändige Freude, da zu sein.

17. März 2001
Glutlos verschwindet der Tag in der Nacht. Regen glitscht die Dächer ein, sättigt die Farben der Fassaden. Der Schnauzer hat seine Wochenendzeitung auf der Couch ausgelesen, steht auf und löscht das Licht. Kerzenlicht zur Teestunde bei den Unscheinbaren. Kaltes Leuchten beim Leblosen. Dunkelheit bei der Roten. Gefunzel im Sektor der Fernsehsüchtigen auf der Studentenetage. Hausarbeit bei den Namenlosen. Neon im vergessenen Laden der Schneiderin.

Rechts bei der Gummiplastikerin stehen zwei rote Flamingos als Leuchten im Fenster. Um ihr Licht zu sehen, muss ich mich weit in die Scheibe vorbeugen. Als ich sie vor zwei Tagen sah, musste ich an John Waters Film Pink Flamingo denken: Zwei Familien kämpfen darum, die verdorbenste Familie der Vereinigten Staaten zu sein. Wie schön wäre es, einen solchen Wettstreit in meinem Gegenüber zu verfolgen. Indes fehlt es mir an Kandidaten. Der Roten, die sich wieder in die Dunkelheit verabschiedet hat, würde ich es vom Temperament her zutrauen. Ich denke, Sie hätte ausreichend Gift, um aufs Gemeinste zu streiten. Allerdings hat sie keine Ahnung von Verdorbenheit. Und wer sonst? Die Schneiderin vielleicht noch, sie scheint mit kratzbürstig und verbissen zu sein. Aber auch das reicht nicht. Nein, sie sind allesamt zu brav, die Leute in meinem Gegenüber, zu gewöhnlich. Die Frauen würden allenfalls ihre Partner vergiften und die Männer ihre Frauen erschlagen. Aber das wären Affekte, fern ab jeder Verderbnis.

Über die Zeilen ist mein Gegenüber in der Nacht versunken. Die Teestunde bei den Unscheinbaren aufgehoben. Das Leselicht eingeschaltet. Frischer Wind weht durch meinen Fensterspalt. Ich werde mein Rollo senken und meine Arbeit fortsetzen.

18. März 2001
Grau verschleiert scheint mein Gegenüber in der Nacht zu ruhen. Als ich zuvor aus dem Taxi stieg, sah ich es anders. Schmuck, in sattem Lehmgeld stand es vor mir. Präsentierte mir seine Puppenhausfassade wie eine stolze Braut ihr Hochzeitskleid. Für den Augenblick hätte ich mich auch in Mayfair wähnen können. Gleichwohl wäre mein Gegenüber dort nur eine Dorfpomeranze unter all den feinen Häusern. Ihm fehlt das Air der Noblesse. Das kleinbürgerliche Wesen seiner Bewohner steckt ihm in den Mauern, wie uns die eingedrillten Notwendigkeiten aus Kinderzeiten in den Knochen.

Mitternacht, mein Gegenüber schläft. Dach und Himmel vermischen sich in blauenden Schwarz. Sehr fern der helle Himmelsbogen der großen Gaube. Fernsehblau das Licht in der Gasse. Stumpf das Laternenlicht vor meinem Fenster. Es ist, als machte sich mein Gegenüber auf eine Seelenreise, als träumte es sich in noble Straßen großbürgerlicher Städte. Ich sollte es aus diesem Traum reißen, ihn vor dem Alb bewahren, denn es wäre dort nur ein kleiner Stutzer unter altem Adel, einsam und verachtet. Also werde ich ihm heute Nacht einen Traum entgegensetzen; ihm seidene Tapeten an die Wände träumen und Herrschaften in die Räume, die ihm jene Patina verleihen, die ein großes Haus trotz Renovierung nie verliert. Und so werde ich im Contratraum die Silberschnur des Träumenden zertrennen und es in seinem Grund bewahren, hier an dieser Stelle, wo es Juwel ist und sein fehlendes Air Münchner Charme.

19. März 2001
Frühlingsringen. Der Winter behauptet seine Zeit, und doch ist sein spätes Obsiegen steter Niedergang. Das Taubennest ist bereitet, noch fehlt das Gelege fürs Brutgeschäft. Gelber Welk und sattes Blütenweiß nebeneinander im Fenster des Schnauzer. Er blättert sich durch den Tag, verwaltet und mehrt sein Vermögen.

Mildes Sonnenlicht an meiner Wand, schwacher Glanz am Zinkzylinder auf dem Kamin. Nur ein Zwischenspiel, im grauem Wolkentreiben.

In sich versunken mein Gegenüber. Die mangelnde Kraft im Inneren verleiht ihm ruinenhaften Hauch. So müssen verlassene Häuser auf Kinder wirken, ehe sie beginnen, mit Steinen die toten Fenster einzuwerfen. Noch haben sich die Gassenbuben nicht zusammengerottet.

Abgeschliffen die Farben unterm Wolkengrau. Bleigrün das Kupferdach, schmutzgelb die Fassade. Moosschwarz die Mörtelritzen. Uneben die Ziegel. Die Braut von gestern ist nach dem Fest in die Pfütze gefallen. Nun steht sie vor mir wie eine dumme Trine. Mitleidserregend, und doch zum Spott reizend. Vielleicht sollte ich einen Stein in ein Fenster der Roten werfen. Denn ist der Anfang vom Ende erst getan, ist das Ende rasch besiegelt.

20. März 2001
Erst wollte der Winter nicht kommen, nun mag er nicht gehen. Astronomischer Frühlingsanfang, heute. Schneetreiben wechselt mit kaltem Schnürregen. Kommenden Sonntag wird man mir eine Stunde Schlaf stehlen. Sommerzeit, die vollkommene Idiotie.

Die vollkommene Idiotie, jeden Tag sein verschlafenes Gegenüber zu beschreiben. Manchmal habe ich Lust, dazu überzugehen, Farbe und Struktur der einzelnen Ziegel festzuhalten. Durch die fotorealistische Beschreibung von Details mein Gegenüber in Worte zu atomisieren. Es durch die nüchterne Beschreibung ins Unkenntliche zu abstrahieren. Andererseits geschieht dies längst in gewisser Weise. Denn das, was ich beschreibe, ist nie das, was ich sehe. Dieser Abstand, diese Widersprüchlichkeit zwischen Wort und Sicht wirkt manchmal quälend, manchmal erheiternd und ist meistens doch nur die übliche Plackerei des Handwerks.

Die vollkommene Idiotie kann es indes nicht sein. Weilt mein Blick doch auch ohne diese Skizzen alltäglich auf meinem Gegenüber, sucht sich Halt, Abwechslung und Eingebung. Erfasst dies und das im selben Blick und höchst selten nur das Gleiche. Dies Schauen gleicht dem Blick durch ein Kaleidoskop. Nur - auch dies habe ich schon getan - bietet hierfür mein Gegenüber zu wenig Farben. Ihm entsprechend wirkt das Muster in goethescher Weise gedeckt, bieder und kleinkariert. Eben mein Gegenüber dieser Tage im Achteck der Spiegelung.

Regen tropft von der Laterne. Eine weiße Insel in der Nacht. Grünstichig die Ziegelfront. Karthäuserblau der tiefe Nachthimmel. Mitternacht ist vorbei.

21. März 2001
Das Tagwerk dehnt sich in die Nacht, das Arbeitspensum verknappt die Zeit. Zur Mitternacht einen Blick auf das Gegenüber in der Hoffnung, mich mangels Ereignisse kurz fassen zu können. Ein verrücktes Bild bannt mein Auge. Verrückt mögliche Betrachtungen über das späte Schmuselicht bei den Unscheinbaren oder das Sehverhalten der Fernsehsüchtigen, die kurz zuvor mit ihrem Professor auf der Couch saß. Beide nebeneinander aufgereiht und wie loriotsche Figuren auf den Bildschirm glotzend ... Nein, bleibe verrückt, rücke das Bild, das dein Auge bannt in den Vordergrund.

Leichengelb die Ziegel im Laternenlicht. Leichengelb, weil da dieser seltsame Grünstich ist, den ich seit Tagen bemerke. Ein Grünstich, der nicht über der Farbe liegt, sondern aus ihr herausdringt, ähnlich dem grünlichem Scheinen des schwarzen Bluts durch die fahle Haut Verstorbener. Also leichengelb die Ziegel, ohne Struktur, als wären sie plan geschliffen. Dann die Zierdolde, den Fenstergiebel des Studierzimmers zur Linken schmückend, als blassbrauner Schatten vor ihrem blauen Schatten. Rechts an die Dolde geschmiegt ein schlafendes Taubenpaar. Die eine Taube zwischen Sockel und unter die Blattvolute geschmiegt noch keine Sensation. Jedoch sensationell die andere, darüber, auf der Volute stehend, als wäre sie Teil des Zierrats. Im Stehen schlafend, für sich allein bereits eine lange Betrachtung wert. Doch nein, noch mehr, im Stehen in erstarrter Bewegung schlafend. Den Schwanz, leicht aufgestellt, an den Obelisk gedrückt. Den Körper, die Linie nach unten neigend fortführend, in sanftem Bogen von der Wand in die Gasse gerichtet. Den Kopf nach vorne gesenkt, als wollte das Täubchen seinen Schlafgefährten unterhalb der Volute im Blick behalten. Unbewegt sitzt es da, und doch sehe ich sein Köpfchen nicken, es seinen Kropf aufblasen und im Traume balzen. Erstarrt im Balztanz und dennoch die Bewegung erhaltend. Nur wenigen Meistern ist bislang ein solches Kunstwerk gelungen, mit dem hier einzig der Schlaf mein Gegenüber schmückt, für niemanden und nur für diese Nacht.

22. März 2001
Der Regen hat nachgelassen. Nur noch wenige dünne Striche sind im Schein der Laterne zu sehen. Zu wenige, um ihr Licht zu umschleiern. Mitternächtlicher Schlaf in meinem Gegenüber. Die Lichter sind gelöscht, die Fernseher ausgeschaltet.

Das Taubenpaar zeigt mir das gleiche Bild wie gestern, nur diesmal an der rechten Zierdolde. Doch diesmal fehlt dem Bild der Zauber. Nicht weil es schon einmal gesehen ist. Nein, es ist die glatte Ziegelwand zur Rechten, die dem Bild zu viel Raum gewährt und es dadurch entzaubert. An der linken Zierdolde war es die Schräge des Fenstergiebels, die den Raum verengte und dadurch das Bild einschloss. Jetzt ist es offen, dehnt sich einem Kontrapunkt zu, der indes nicht aufscheint. Lediglich die Ziegelreihen, auf die ihre Kröpfe weisen heben sich als Linien ab, lenken in den Raum und brechen vier Mörtelritzen weiter am Nebenhaus gleich einem Ruf ins Bodenlose ab.

Inzwischen ist der Schlaf der Vögel unruhig geworden. Von Mal zu Mal putzen sie ihr Gefieder und suchen eine andere Position, drehen sich auf den schmalen Graten und stecken ihre Köpfe wieder schlafheischend in die aufgeplusterten Kröpfe.

Der Leblose ist heimgekehrt, blinkert kurz mit den Lichtern von einem Raum zum anderen. Und gibt dann in Dunkelheit und Fernsehleuchten seiner Leblosigkeit weitere Nahrung.

23. März 2001
Vor kurzem standen wir noch am Markt bei Miguel in der Sonne, rauchten eine Sweet Afton und schlürften einen Mate-Capuccino. Jetzt blicke ich durch meine mit Regentropfen gesprenkelte Scheibe und sehe auf mein feuchtes Gegenüber. Ein Frühlingsgewitter hagelte vorüber, jetzt tränt Nieselregen in schrägen Streifen, füllt die Traufe und macht den Tauben an der Zierdolde das Gefieder schwer. Der Nistplatz unterhalb der Regenrinne scheint doch nicht so begehrt. Womöglich liegen dort noch die Gerippe des zuvor nistenden Taubenpaars, und es schaudert sie, so nahe neben dem Tod zu brüten. Viel ist nicht in so einem Taubenkopf, doch das Wenige genügt offenbar, sie seltsam werden zu lassen.

Seltsam scheint die Rote geworden zu sein. Sie zeigt sich nicht, setzt aber dafür Signale mit ihren Übervorhängen. Zieht sie in unterschiedlicher Weise in die Fenster, ohne sie ganz zu schließen. Stoffbahnen unterschiedlicher Breite in Grüngelb. Ein Gelbton, der zu ihrem Haar passt. Wieder eine typische Rotenfarbe. Solche Farben können nur Naturrote wählen, die Gefärbten haben dafür kein Auge. Wahrscheinlich überblicken die Naturroten ein anderes Spektrum als gewöhnliche Menschen. Wahrscheinlich hören sie auch andere Töne; ich denke da an den eigenwilligen Klang irischer Musik. Wer also soll ihre Signale verstehen? Ich werde wohl einen Rothaarigen befragen müssen.

Über die braun gewaschenen Kupferbahnen des Daches steigt mein Blick in den grauen Himmel, sucht die Sonne, verweilt am stumpfen Zinkzylinder, senkt sich in das warme Licht in der Gaube der Unscheinbaren, gleitet tiefer in den schwarzen Spiegel des Schnauzerzimmers, sucht, sucht und findet nichts, das ihn hält. Also werde ich meine Arbeit fortsetzen.

24. März 2001 Am Alpenrand heiter, hod da Weddabericht gmoant. Und es scheint so z'sei. D Sunn schoant, d'Woikn ziang, dazwischn bläckt a bissal a Blau aussi. Mei Visavis stehd do, wias scho ollawei dostehd, staad, a staada Klotz. D'Foam san a weng satta ois sonst, s'Grean vom Doch is greana, s'Gäib von de Stoana gäiba, a d'Scheibn scheina a kloans weng glasiga. Ös is ned ausz'macha, wos wiakle oandas is, aba oandas is, dös siagst, a wannsd dös ned siagst. Ös is hoit so.

D'Taum hocka am Abriss, san a weng fahrig, und fliang a glei wiada weida. Da Schnauza hockt vo soam Computa. Schaugt aus, ois wenn's eam zeidlong woa, a grod so isa in seim Stui vasunka, vaschränkt die Broatzn üba seim Schädl, und rüahd se ned weida.

Is scho a Kreiz, mid döm Trumm do drübm. Mei Bruada, dea in Balin so a schäns Puppnhaisal gengüba hod, wo se oiwei wos drinn rüahd, hod heid friah gmoand, i war a Narrischa, dös sei ja wia auf da Galeean, wos i da macha dät. Un recht vui dadns gwiass ned duachhoidn, dös z lesn, wos i mia da aus dö Finga zöagad. Gsprengt ghöada da Koastn, domids a End hod mid dem Krampf, hod a gsogt. Rechd hod a. Spreng mas weg dös bläde Trumm, domit a Ruah is. I geh glei niaba.

Übersetzung:

Am Alpenrand heiter, meinte der Wetterbericht. Und es scheint so zu sein. Die Sonne scheint, die Wolken ziehen, dazwischen spitzt ein bisschen Blau heraus. Mein Gegenüber steht da, wie es immer dasteht, still, ein stiller Klotz. Die Farben wirken ein wenig satter als sonst, das Grün vom Dach grüner, das Gelb der Ziegel gelber, und die Scheiben scheinen ein klein wenig glasiger. Es ist nicht auszumachen, was wirklich anders ist, doch es ist anders. Du siehst es, auch wenn du es nicht siehst. Es ist so.

Die Tauben sitzen an der Dachkante. Sie sind ein wenig unruhig und fliegen auch gleich wieder fort. Der Schnauzer sitzt vor seinem Computer. Es sieht aus, als wäre ihm langweilig, so versunken hängt er in seinem Stuhl. Er verschränkt die Hände über seinem Kopf, ansonsten rührt er sich nicht.

Es ist schon ein Kreuz, mit dem Trumm dort drüben. Mein Bruder, dem in Berlin ein so schönes Puppenhäuschen gegenübersteht, in dem sich ständig etwas rührt, meinte heute früh, ich wäre ein Verrückter. Das, was ich da machen würde, wäre ja wie auf der Galeere. Außerdem besäßen nur wenige die Muse, zu lesen, was ich mir da aus den Fingern zöge. Der Kasten gehöre gesprengt, damit die Plackerei zu einem Ende käme. Recht hat er. Sprengen wir das idiotische Trumm, damit wieder Ruhe einkehrt. Ich gehe gleich hinüber.

25. März 2001
Niedergehend durchscheint die Sonne im Westen das Regengewölk. Silberglanz vor blauen Himmelsfetzen, dickbäuchiges Regengrau umrahmend. Sie steht um eine Stunde zu hoch, um die eine Stunde, um die mir die Mächtigen diesen Tag verkürzten. Schlafdiebe, sesselfurzende. Puritanerpack, das einst die Kaffeeschnüffler ausschickte und heute Raucher in den Regen schickt.

In solchen Bausteinkästenhäuschen, wie mein Gegenüber eines ist, wächst es heran. Gottlob, das in ihm derzeit keine Kinder groß werden. So wird ihre Zucht um ein paar Köpfe ärmer werden und ihre kargen Freuden spärlicher.

Im Studentenzimmer hängt die wöchentliche Wäsche zum Trocknen auf dem Ständer. Gestern nacht packte einer der Studentenklone, seine Habe in Kisten. Später gegen Mitternacht stand er rauchend im geöffneten Fenster, als warte er auf den Umzugswagen, der indes nicht kam. Nun, da ich mir die Gesichter dieser Klone über den Tag nicht merken kann, werde ich nicht erfahren, ob er in eine andere Bleibe zog. Wahrscheinlich ist er nur ein flüchtiger Mensch mit Nomadenblut, der seine Habe in Kästen staut, auf dass er, wann immer die Dürre ihn einholt, zu neuen Quellen ziehen kann. Eine Lebensart, um die ich ihn beneiden könnte, mutete mir solches Hausen nicht doch ein wenig neurotisch an. Aber vielleicht ist es auch nur sich selbstversichernde Lebensart. Notwendig, sobald man in puritanischem Gemäuer lebt, um nicht allmählich selbst an schmucklosen Melodien Gefallen zu finden und darüber die Lebenslust zu verlieren.

Sonnenglanz auf meinem Dach, klar steht es in den Gaubenfenstern. Der bemooste First samt Taubendreck ist so scharf gezeichnet, als stünde mein Haus im Vis-a-vis. Indes bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihm auf dieser Seite ein Gegenüber bin. Bleib mir fern. Bleib mir fernes Schreckbild gegenüber, du gotteslästerliche Freudlosigkeit.

26. März 2001
Der Abend will nicht Abend werden. Die blaue Stunde hängt noch in der Gasse. Ein Licht zum Träumen. Es wird eine Woche währen, bis ich mich an die neue Zeit gewöhnt haben werde.

Ein Blick aus dem Küchenfenster hinüber zu den Namenlosen. Das Wohnzimmer ist abgedunkelt. Im Hintergrund, aus meiner Sicht in der oberen Hälfte des Fensters, steht die Türe offen. Ich sehe das gelbe Licht des Flurs als Trapez. Auf dem Parkett liegt ein Blatt Papier zwischen Küche und Wohnzimmer. Wer in die Wohnung kommt, wird die Mitteilung sehen. Ciao, ich bin ausgezogen, lasse mich scheiden, oder bin bei Trine, hole mich ab, oder das Essen steht auf dem Herd, ich komme gegen Mitternacht, oder was ich lesen möchte, ich liebe Dich. Mehr nicht. Drei Worte, die mir einen einsamen Abend erträglich machen würden.

Der Zettel wurde aufgehoben, in der Küche ist Licht. Welche Gefühle werden wohl jetzt in die abendliche Suppe gerührt und mit der Butter aufs Brot gestrichen? Ich liebe Dich auch! Was anderes mag ich mir nicht ausdenken.

Mein Gegenüber erscheint mir jetzt in der Dämmerung warm und heimelig. Stilles Schauen nach außen und nach innen.

27. März 2001
Blühten nicht die Märzenbecher auf den Wiesen und schmückten sich nicht die ersten Bäume in weiße Blütenkleider, wäre es ein später Herbsttag gewesen. Und doch nicht ganz, das Licht war anders. Warum, wer mag es erklären? Obgleich die Sonne nicht anders stand als zum gleichen Tag im Herbst, war ihr Licht frühlingshaft frisch. Frische kühles Blau brach wie ein Lichtdom durch die Wolken, zirkelte den Sonnenkreis auf die brache Erde, die durchgelüftete Stadt.

Gegenüber sind die beiden kahlen Kammern des Leblosen beleuchtet. Apricot links, lindgrün rechts. Einen Blick weiter die Fenster der Unscheinbaren in mandarinem Lampenschein. Vor meinem Fenster das blauweiße Schiff der Neonleuchte. Tiefer, Theaterlicht am Baumwolltuch vor der Studierstube. Daneben zwischen der Durchgangstür von der Schlaf- zur Rumpelkammer, die Fernsehsüchtige im weißen Morgenrock, um sie ein Männerschatten. Korrektur nach einem langen Blick, in dem beides nicht zusammenfällt: Nein, es ist ihr eigener Schatten, der sie im Arm hält. Ihr eigenes Sehnen nach Geborgenheit, das ihr der Fernseher nach langem Blick verspricht und doch nie einlöst, da beides nicht zusammenfällt.

Eine einsame Taube nächtigt am Fuß der Zierdolde über der Studierstube. Wahrscheinlich der verlassene Hahn, der seiner Henne keinen wetterfesten Nistplatz bieten wollte, weil er noch ein Auge auf die Henne unter der Traufe hat, sich allzu gern lustvoll flatternd zwischen ihren Schwingen verkrallen möchte. Dabei ist das Nest unter Traufe schon seit Tagen verlassen. Der Leblose hat sich des Nachts die beiden Täubchen aus dem Nest gegriffen, sie gerupft und ausgenommen, in der Pfanne mit viel Schmalz gebraten, sie gefressen und die Knochen zurück ins Nest geworfen. Braten-Voodoo, damit ihn keine Taube mehr auf seinen Stiftenkopf kackt. Sie werden es trotzdem tun, und er wird darob ein weiteres Täubchen fressen.

28. März 2001
Mittag. Sonnenschein. Der Föhn macht den Wetterfröschen einen Strich durch ihre Prognose. Der Sonnenwinkel an meinem Gegenüber nähert sich sechzig Grad. Blass das Lehmgelb der Klinker, vom Schmutz der Stadt verschleiert. Kein Edeldreck, nur schlichter Dreck. Die Fassade im Sonnenlicht, jedoch ohne Wärme. Winterliche Kälte liegt im Licht. Der Föhnnebel hoch im Firmament ist's, der die Sonne dämmt und trotz Sonnenscheins den Tag so still vergraut.

Frühlingsmüder Stillstand gegenüber. Nichts bewegt sich. Nur die Mittagsdämonen flirren durch die Lüfte. Verkrallen sich in Ritzen und Sprünge der Fassade, drücken gegen die Scheiben. Aufbrechen wollen sie das Nekrodomium, die verstaubten unbewegten Seelen herausziehen, sie in ihren Kreis nehmen und über längst Vergessenes wispernd im Mittagslicht schwirren.

Doch die Fenster bleiben verschlossen. Die Rote hält die Mutterseele, die sich in die Lüfte heben will zurück. Sie springt von einem Fenster zum anderen, spannt die Gardinen zu Seelenfängern, durch die die Alte nicht schlüpfen kann. Zu dicht, zu wenig luftig ist ihre Seele noch. Der Leblose hat solches Tun nicht nötig, er hat die Seelen seiner ausgebluteten Opfer in deren getrocknete Herzen verschlossen und bewahrt sie als Kalendarium seiner Rastlosigkeit. Nein, er muss nicht nach Altötting wallfahren, um vor den Herzurnen der Wittelsbacher vom ewigen Währen gottgewollter Regentschaft berührt zu werden. Er wandelt an den Herzen seiner Opfer vorbei, wie Baby Doc einst auf Haiti, um zu erahnen, dass ihr Fluch ihn auf Ewigkeit verfolgt. Allein ihr Fluch ist es, der ihn in alle Ewigkeit erhebt.

Die Mittagsstunde geht zu Ende, die Schatten neigen sich der edlen Schräge zu. Fünfundvierzig Grad Sonnenstand.

29. März 2001
Die Sonne ist ausgesperrt. Die Studierstube bleibt verhangen. Die Kisten sind in den Hausflur getragen worden. Heute Früh, vom Semmelnholen kommend, sah ich den Student in der Haustüre stehen, Ausschau haltend, nach dem Transporter, der seine Habe mitnehmen soll. Jetzt zum späten Nachmittag wird er das Haus verlassen haben. Er könnte aber ebenso gut eingezogen sein, denn er sah anders aus, als der Bursche, der sich im jetzt verhangenen Zimmer über die Bücher beugte. Doch ob aus- oder eingezogen, es macht bei diesen Klonen keinen Unterschied. Sie wechseln ihr Aussehen wie Chamäleons und bleiben doch die selben, brave Studenten und spätere Bürokraten. Seelenlose, denen am Ende ein Grabstein für sieben Jahre zur Visitenkarte wird. Danach wird ihr Grab geöffnet, ihre verbliebenen Knochen zermahlen und die Grube neu belegt. So wie ihr Zimmer im Nekrodomium gegenüber neu belegt sein wird, obgleich nach wie vor derselbe in ihm wohnt.

Das bleigraue Kupfer über dem Giebelfenster ist schwarzweiß gesprenkelt vom Taubenkot. Er ist lebendiger als alles andere dort drüben. Ein kleines Chaos im steten Verlangen nach Ordnung. Wenn die Rote zurückkehrt, wird sie Taubengift ausstreuen und alsbald mit zufriedenem Lächeln über ihre Kadaver in der Gasse steigen, als wären sie mit dem Frühlingsregen vom Himmel gefallen.

30. März 2001
Hochzeitstag. Was kratzt mich da zwischen Zusammenliegen, Liebeskomödie im Kino, spätem Tee und Kuchen im Königshof, Essen im Shiraj und wieder Zusammenliegen mein Gegenüber. Was kratzt mich da der Regen, der die Farben meines Gegenübers sättigt, wo wir vor neunundzwanzig Jahren am Gründonnerstag bei strahlendem Frühlingswetter heirateten. Was kratzt mich das Pfirsichlicht bei den Unscheinbaren, der Neonschleim der Laterne, die schwarzen Scheiben der Schläfer und Langweiler, der Roten und Leblosen, der Schnauzer und Studenten. Nichts. Es geht mich nichts an. Nichts will mir dazu einfallen. Nichts will ich sehen. Soll es doch ohne Schattenriss im Nachthimmel versinken, von der Dunkelheit geschluckt werden. Mich sorgt es nicht. Ruth und ich, wir feiern uns. Blicken uns in die Augen, lächeln uns an, halten uns die Hände, erzählen uns mit warmen Ton. Da bleibt kein Blick für ein anderes Gegenüber. Wir sind uns ganz allein genug. Mag auch das Pfirsichlicht über diese Zeilen bei den Unscheinbaren gelöscht werden, und nur noch weißer Neonschleim blauorangestichig vor meinem Fenster aus der Laterne für sich allein in die Nacht quillen. Ja quillen und nicht quellen, wie mir mein Rechtschreibprogramm vorschlägt, denn zwischen beidem ist ein großer Unterschied: das eine dringt hinein, das andere drängt aus sich heraus. Egal. Mag es quillen oder quellen. Mir quillt das Herz über, wenn ich in ihre blauen Augensterne blicke. Das ist ein Gegenüber, wie ich es jeden Tag aufs neue voller Liebe, voller Sehnen für mein Leben gerne schaue. Was sollen mich heute also kalter Stein und fade Menschen scheren. Nichts. Und darum habe ich jetzt nichts geschrieben.

31. März 2001
Milde Frühlingsstimmung. Vesperzeit. Einen Choral aus Kinderzeit im Ohr. Helle Flecken Sonnenlicht, Spiegelungen der Abendsonne, die ihr Licht über die Firste streut und die Wolkenflecken silberhell beglänzt.

Im Studierzimmer sind die Tücher zur Seite geworfen. Also doch ein Einzug. Das übliche Durcheinander dazu im Blick. Geöffnete Kisten mit Wäsche. Eine Stehlampe aufgebaut, eine mittlerweile altmodische ausladende Schwingleuchte, der Schirm über den Schreibtisch gerichtet. Die Krönung, ein Kaktus, vermutlich aus Plastik, den so hässlich kann Natur nicht sein. Fett, giftig grün, ein paar fleischige Dornen, eine phallusartige Schwellung, nur drei Handbreit hoch, doch von der Fülle her einem Elefantenbullen zum Stolz gereichend. Noch möchte ich nicht über den Knacks in der Seele des Kaktushegers nachdenken, sondern abwarten, welche Art von Klon sich diesmal meinem Auge stellt.

Ich werfe mir die zwei Doraden, die ich geangelt habe, über die Schulter und schlendere durch sanfte Dünen und blühendes Ginstergestrüpp nach Hause. So ist das Licht, und es verspricht mir einen warmen Abend. Nach dem Mahl, werde ich dem Meer lauschen. Später wird Musik erklingen, ich werde meinen Schatz in den Arm nehmen, mit ihm einen Tango drehen. Die Figuren, die wir in den Sand zeichnen, wird der Wind verwehen. Mein Blick wird den Horizont absuchen - nach der Wiege des Windes - und tief im Süden im Sirius verweilen. Kein Gegenüber. Kein Gegenüber, nur Weite, Weite bis in die Ewigkeit ... Nachts hebe ich manchmal den Kopf, um sie zu sehen, doch der Himmel über der Stadt hängt hierzu viel zu tief.