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Juni 2001

1. Juni 2001
Keine Inspiration, kein Einfall. Mir gegenüber eine fahle Wand, die im nachtschwarzen Himmel verschwindet. Regenwolken verbergen den halben Mond. Nichts, was Augen und Gedanken Weile bietet. Kein Eintagsmückenschwarm umschwirrt die Laterne, kein Lichterspiel belebt die Etagen.

Unten im Laden scheinen Tauben zu nisten. Jedenfalls verändert sich die Situation tagtäglich, ohne dass ich Wirkende bemerke. Heute war wieder Kulissenaufbau. Aufgesteckt die rote Schaufensterblende, nach vorne gerückt der Hintergrund. Teilung des Raumes in zwei Kammern. Was lerne ich daraus? Habe Geduld und mache dir kein Bild von anderer Leute Kram, sie tun ja eh nicht, was du in sie hineinliest.

Irrtum, sie tun genau dies! Der Leblose bleibt leblos, die Unsichtbare unsichtbar, die Rote rot, der Schnauzer schnauzig und alle zusammen sitzen bei der Fernsehsüchtigen auf der Couch und naschen Kartoffelchips mit Erdnussflips und greifen sich abwechselnd zwischen die Zähne und den Schritt.

Vorgebeugt blicke ich zur Schlafkammer der Fernsehsüchtigen auf den Vorhang: baumwollfarben, von hinten beleuchtet. Leselicht. Der Faltenwurf weich, feminin. Feine Rippen. Im Spalt, knapp über dem Fensterbord, die beiden Schals übereinander geworfen. Schwungvolle Verschränkung. Das Leselicht illuminiert die schräggestellten Falten. Dies wäre ein inspirierender Blick, ein Gedankenfessler, wäre da nicht die unbequeme Sitzhaltung, vorgebeugt, überstreckt ... Nein!

Also lasse ich mich zurückfallen, sehe das leichengelbe Geziegel, die lichtlosen Fensterlaibungen, das Himmelsschwarz und lasse mein rotes Rollo dazwischenfallen.

2. Juni 2001
Gegen Mitternacht nach Hause gekommen. Ein Blick hinüber auf das Gewürfel im Laternenlicht. Schatten, Streben, Vorhanggrau, Selbstbespiegelung im eigenen Fenster. Noch ein Blick. Wechselndes Licht in der Studentenbude. Der Bilderwechsel im Fernsehgerät bricht sich am Wäscheständer. Irgendwo in der Dunkelheit folgt ein Augenpaar dem zerhackten Geflimmer. Ein zweiter Blick, das Fernsehgerät ist ausgeschaltet.

Eine trunkene Stimme gröhlt durch die Gasse, Deutschland Scheiße. Offensichtlich ein Patriot, der noch an seinem Vaterland leidet. Es ist auch wirklich zu kalt für die Jahreszeit.

Regen stäubt ums Neon. Die Spinne vor meinem Fenster lauert in der Mitte ihres Netzes. In nervöser Erwartung vibriert sie mit dem Wind. Sie ist beutehungrig und bekommt nur Regentropfen zu fressen.

Noch ein viertel Jahr, dann wird dieses Experiment zu Ende sein.

Pfingstsonntag 2001
Hinzugestellt, die aus Holz geschnittene Tulpe im Fenster der Unscheinbaren. Nicht erst heute, doch erst heute, zu Pfingsten, erkannt. Hinzugestellt der sechskantige Glaskrug mit Nährlösung im Fenster der Unscheinbaren. Erst heute geschehen, da keine Erinnerung ein Gestern für möglich hält. Gleichwohl traue ich der fehlenden Erinnerung nicht. Hinzugekommen, ein neues Gesicht im Fenster der Unscheinbaren, englischrotes Haar. Sie tritt aus dem Schatten, trifft auf meinen Blick, der dem Krug gilt, wähnt sich erkannt, will zurücktreten, trotzt dem Fluchtinstinkt, nur eine kurze beinahe unbemerkte Wiege in der Haltung, sie schlendert zum Fenster, hebt die linke Hand an die linke Kinnbacke, lateinisch: sinistra mala, versichert sich so ihres Hierseins, blickt hinüber, ohne zu sehen, sich zeigen, als würde man nicht gesehen, den vermeintlichen Blick nicht beachtend und sich ihm doch mit jeder Fieber widersetzend, dann löst sie die Linke von der linken Wange und triftet entspannt zurück in die Schatten des Hintergrundes. – Viele Worte für einen Augenblick, und noch immer zu wenig, um zu beschreiben, was mich anrührte.

Darunter spitzt der Schnauzer seine schnauzige Gosch, streckt seine Zunge, lässt sie flattern, gibt Ton dazu und lallt, das Lallen schwillt an zur Rede, und die Rede füllt sich mit Offenbarung. Daneben tut es ihm die Rote gleich, in der Art der Rede jedoch nicht im Ton, spricht sie doch für andere Ohren. Und wo einer spricht, sprechen auch zwei und drei und viele. Die Fenster fliegen auf und die Zungen lallen, lallen die Wahrheit, lallen die letzte Weisheit und lallen die höchste Offenbarung zum Fenster hinaus, hinein in die Gasse. Und so lallt die Erkenntnis in Kaskaden hernieder, plätschert übers Trottoire, sammelt sich im Rinnstein und fließt in den Untergrund, fließt hinaus in die Kloake vor der Stadt, fließt gereinigt in den Fluss, strömt versammelt ins große Meer, hebt sich als Destillat in den Himmel, ballt sich zu Wolken und regnet auf uns herab. Irgendwann muss der stete Tropfen auch unsere steinharten Schädel höhlen ...

Das Spinnennetz vor meinem Fenster hat über Nacht der Regen weggewaschen.

Pfingstmontag 2001
Der Rolladen bis auf einen Spalt herabgelassen, dahinter blauweißkariertes Bergsteigerhemd, massig auf der Couch verteilt. Wir blicken in die Schnauzerstube. Nur kurz. Beim zweiten Hinsehen ist das Licht gelöscht, der Berg erklommen. Die Feiertage sind vorüber. Morgen wird wieder mit aller gebotenen Wichtigkeit papiert, telefoniert, gemailt und gepostet, geprotzt und kassiert.

Graublau die kalte Frühsommernachtluft. Märzenkühle. Fahles Gelb, welk wie der Aaron des Schnauzers: mein Gegenüber. Wann wird es in sich zusammenfallen? Die Frage in dem Dreivierteljahr dieser Betrachtung in verschiedener Weise öfters gestellt. An mich gestellt, an den Text gestellt, an mein Gegenüber gestellt, an meinen Leser gerichtet, an mich gerichtet.

Fahl und fern mein Gegenüber. Heute im Saal der Blauen Reiter Bilder von Alexej Jawlensky gesehen. Sie fielen mir vor allen anderen ins Auge. Leider war keines seiner Bilder "Blick aus dem Atelierfenster" ausgestellt. Ich hätte gerne wieder eins im Original gesehen. Wie hätte er den Blick heute festgehalten. Meinen Blick. Ich weiß es nicht. Ich sehe das fahle Neon: verblaut. Die unbeleuchteten Fenster: vergraut, senkrechte Schattenlinien im Store. Das leichige Geziegel, vernebelt, blaustichig, waagrechte Fugenstriche, ins Violette streichend. Ein blaues Bild würde es, aus dem Blauschwarzen fallend, zu fahlblauen Gekastel in der unteren Bildhälfte gerinnend. Die senkrechten Schatten in den Himmel hinein verlängert. Zwei Bewegungen also, sich widersprechend und doch in Zwiesprache miteinander.

Pfingsten, das selbstredende Fest, ist vorüber. Dem Frommen bleibt noch die Oktave.

5. Juni 2001
Die Sonne heute ist noch keine Versöhnung. Die Kälte der letzten Tage steckt noch in den Knochen und im Gemüt, wie die Feuchtigkeit im aufgeweichten Boden. Von der anderen Seite der Gasse her weht mich ein kalter Wind an. Die Rote sollte ihre gekippten Fenster und aufgehaltenen Oberlichte schließen. Die kalte Luft bläst aus ihren verschatteten Räumen, sie wird genährt von kalter Angst. Es ist pure Angst, keine Angst vor etwas.

Der Zinkzylinder auf dem Kamin, stahlfarbenblau mit Sonnenpunkt. Keine Ahnung von seiner eigentlichen Beschaffenheit, so vollkommen verbirgt sich seine Eigenheit hinter der Spiegelung. Rundum stählernes Graublau, elegant, himmelsdicht, Tarnfarbe für Hubschrauber und Drohnen. Dieser idiotische Zinkzylinder, diese unbedachte Auflage eines Kaminkehrers, zeigt heute so seltsam menschliche Züge. Schöner noch, himmlisch verhüllende Projektion.

Das Spinnennetz vor meinem Fenster ist neu gewoben. Größer als je zuvor. Zwei Handspannen weit. Regelmäßiger als sonst. Nur noch wenige Löcher und versetzte Weben an den Spannfäden. Prismengleiche Brechungen in den Fäden. Allmählich rückt die Sonne in mein Fenster.

6. Juni 2001
Neonlicht im Sprühregen. Feiner nebeliger Regen, wie man ihn sonst nur erlebt, wenn man beim Bergwandern in eine Wolke gerät.

Nach und nach erloschen die Lichter auf der anderen Seite. Zuerst die großen Lampen. Leselampen spendeten noch heimeligen Schein. Mildes Licht, das beim Entkleiden die kleinen Schwachstellen umschmeichelt, schöner Schein. Gegen ein Uhr verließ der Schnauzer die Ecke vor seinem Fernseher, löschte das Licht und schlurfte im Bergsteigerhemd zum Schlafzimmer. Er wäre der letzte Wache im Gegenüber gewesen, hätte nicht nach ihm der Student noch einmal das Licht aufgedreht. Hinter seinem Rupfen für einen Moment gelbrotes Gefunzel. Fiel er ins Bett, suchte er den Topf oder sprang ihm ein traumhafter Gedanke zu Papier?

Der Kupferdraht fluoresziert im Neonschein. Ich muss an die kupfergrüne Büste auf dem südlichen Friedhof denken, die ich gestern sah. Ein verwaschener grünspaniger Bärtiger. Schon bei Tageslicht ein seltsamer Anblick. Ich stellte mir vor wie gespenstisch sein Gesicht im Vollmondlicht leuchtet. Der Grabstein ist nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, der nachts manchmal offen steht. Vielleicht wage ich mal einen Blick hinein, um zu sehen, ob die Büste im Mondschein wirklich so schauerlich glänzt, wie ich es mir denke.

7. Juni 2001
Die blaue Hortensie wächst im Fenster der Fernsehsüchtigen. Im Fenster daneben wächst ihr Kind in der Wiege. Bald muss die Hortensie umgetopft und das Kind in ein größeres Bett gelegt werden.

Im Fenster des Schnauzers welkt der Aaron blühend dahin. Eine Schere und ein neuer Topf könnten ihn noch retten. Doch solange ihn der Blick der Gewohnheit streift, wird niemand sein Siechtum bemerken.

Nichts bemerken wir, solange etwas nur mählich genug geschieht. Vielleicht fühlen wir uns inzwischen nicht mehr ganz so komfortabel, bleiben aber doch unfähig, zu deuten warum. Wir sind wie Frösche, die im Kochtopf paddeln, während das Wasser sich allmählich erhitzt.

Silberhell der Zinkzylinder auf dem Kamin. Verfestigt die Nährlösung im achteckigen Krug im Fenster der Unscheinbaren. Das Kunststoffgrün daneben ist um ein Blatt gewachsen. Was habe ich nicht bemerkt, während der neun Monate, die ich mein Gegenüber beschreibe? Neun Monate. Zeit um einen Menschen zu schaffen. Zu wenig Zeit, um ein Haus zu bauen.

Der Müllwagen brummt und quietscht und rumpelt und zurrt und schnurrt und knurrt durch die Gasse. Die Tonnenmänner pumpern mit den Bio- und Altpapiertonnen über das Pflaster, gedämpftes volles Rollen und lautes leeres Rollen wechseln einander ab.

Kurzes Getöse, dann kehrt wieder Ruhe ein. Samenflocken wehen in Traufhöhe durch die Gasse. Morgen werde ich auf die Insel fliegen und das Meer zum Gegenüber haben.

8. Juni 2001
Spätes Morgenregen im Gegenüber, auf meiner Seite frühes Staunen über den Tag. Die Fernsehsüchtige im Schlafrock mit Samuraifrisur wickelt ihr Kind. Ansonsten verhangene Räume und unbelebte Räume. Keine Fenster sind zum Lüften geöffnet. Man hockt noch rückwärts bei Marmeladenbrot und Kaffee. Blickt in die Badezimmerspiegel, schabt den Bart und legt Schminke auf. Ein Tag beginnt, so abweisend wie der vergangene.

Das Wetter hält sich nicht an den Wetterbericht. Noch bis Mittag war uns Sonne versprochen, doch schon jetzt ziehen Regenwolken von Südwest nach Nordost. In wenigen Stunden werde ich sie durchstoßen und unter der Sonne der Sonne entgegenfliegen.

15. Juni 2001
Von der Insel zurück. Fortsetzung des Experimentes. Mit müdem Blick nähert sich der Versuchsleiter der Scheibe. Abbrechen will er. Hofft, dass sich die Versuchsanordnung während seiner Abwesenheit auflöste. Hofft ebenso, wie er in zehntausend Meter Höhe darauf hoffte, dass ein solches Abendrot, wie er es für eine lange Weile aus dem Flugzeugfenster sah, einmal über dem First seines Gegenübers glimmen sollte: Ebenso aus sich selbst heraus leuchtend, ein leuchtendes Magentarot, so rein, so tief, wie er es nie zuvor sah, durchbrochen von rauchschwarzen Wehen, schwarzgrauen Schlieren, so unvermischt schwarz und grau und so deckend, so abdeckend und überdeckend, wie er sie nie zuvor sah. Diese Farben hätte er gerne über seinem Gegenüber gesehen. So gerne würde er den Pinsel in solche Töpfchen tauchen und mit rauschiger Leidenschaft die Farben auf die Leinwand kitschen, kitschen und klitschen. Einmal gesetzt, spränge mit dem nächsten Pinselzug das Dach in poliertem Flaschengrün, in grasgrün glänzendem Froschemail hervor, höben sich die Ziegel in leuchtendes Ockergelb, zu likörfarbenen Tupfdidelitupf, Tupf an Tupf, spiegelten die Scheiben in einfältigem weißblauem Widerschein, hingeklitscht. Hinkitschen würde er das Bild mit kreischenden, gellenden grellen Farben und schnellem Pinsel. Doch statt dessen sitzt er da, Mitternacht ist vorüber, Regen strich an seine Scheibe, Wasserdampf dämpft das Neonlicht, so sitzt er, vor seinem Bildschirm, schwärmt von Farbenkitsch und Farbenklitsch und blickt hinüber in die Nacht, ins Blaubraunschwarze, auf ausgekotzte Ziegel und fahle Fensteröffnungen, sah mal der Fernsehsüchtigen auf der Fernsehcouch unter den Schlafrock, sah mal in das gelbe Gefunzel der Namenlosen, sah mal auf den schwarzbehemdten Rücken des Schnauzers, sah mal hinüber zu den Unscheinbaren, sah mal auf die andere Seite und sah doch nichts.

Das Experiment nimmt seinen Lauf, das Gegenüber ist das Gegenüber und kein Meer und keine Autobahn und kein Strand und kein Parkplatz, keine Cantina Patronata Pizzeria, keine ein- und auslaufenden Kreuzfahrer, kein Stadtgewürfel, kein verwässerter Horizont hier und kein versteinerter, zerklüfteter dort. Wie ehedem ist das Gegenüber dort drüben, die Flucht vor dem Fenster, zehn Meter weiter, zum Greifen nah, auf Rufnähe.

16. Juni 2001
Taubenbewegung unter sonnenwarmer Traufe. Der Vogel fliegt herbei, landet am Flugloch, dreht sich zur Gasse, dreht sich zur Traufe, gluckt hinein, eine leicht dienernde, heischende Bewegung, dreht sich zurück zur Gasse, wieder zur Traufe schlüpft unter die Dachrinne, duckt sich hinter den Taubenabwehrzähnen, nimmt Bruthaltung ein, erhebt sich wieder, lugt zwischen den Kupferzähnen hervor, knickt zurück in Bruthaltung, blinkert, hebt sich erneut, schiebt Kopf und Hals durch die Kupferzähne, wieder zurück, drängt zum Flugloch, sitzt vor der Traufe, fällt von der Dachkante. Abflug nach rechts.

Das war es. Mehr Bewegung gegenüber wäre frivol. Man harrt der Dinge, verlässt die Wohnung, fährt in Ferien, kommt zurück und harrt der Dinge. Tick, tack, wippt die Zeit. Sensenschlag. Schnitt für Schnitt mäht Meister Hein Blüten von der Wiese, fällt die Harrenden, greift die Fliehenden. Dort drüben auf der anderen Seite ist keine Furcht, ist keine Flucht, ist nur Verharren und Wurzeln schlagen.

Ich bin zurück, noch nicht im Trott, doch schon versöhnt. Heimat sucht man sich nicht aus ...

17. Juni 2001
Regenschnüre zwischen hier und meinem Gegenüber. Kurze Wellen überm grünbraunen Spiegel des Kupfers. Regenstriche mal von links, mal von rechts, mal schnurgerade, mal dünner werdend, mal nebeldicht. Heller Pfeil am Zinkzylinder kündet von fernem Himmelsblau im Wolkengrau. Lichtinseln durch Wolkenbrüche.

Zwischen Frühstück und Spülmaschinenfüllung ein Blick hinüber. Grüne Bluse, sommerbesprosster Arm, für einen Wimpernschlag vom Store bedeckt, dann war das Fenster geschlossen. Blitzfeine Hektik. Dieserart sind die raren Lebenszeichen der Roten. Was macht sie in der Zwischenzeit? Sitzt sie ihrerseits auf der mir abgewandten Seite und beschreibt ihr Gegenüber? Sitzt dort wieder jemand und vor diesem wieder einer und so weiter und so weiter bis mir endlich einer, mich betrachtend, im Rücken sitzt. Und indem wir so reihum unser Gegenüber beschreiben, beschreiben wir die Welt, so wie sie wirklich ist: einem stets und immer etwas Gegenüber.

Es hat aufgehört zu regnen. Vom First her trocknet das Kupferblech blassgrün, als flöße frische Farbe aus dem aufgelöteten Schneefänger. Durch die ausgewaschene Luft rückt mir die andere Seite näher, näher und plastischer, lebhafter und farbiger als sonst. Für einen kurzen Augenblick sehe ich mein Gegenüber mit neuen Augen. Ich blicke und staune ... die Welt ist schön. Regentropfen bedecken erneut das frische Grün.

18. Juni 2001
Mein Blick ist zerschnitten in daumendicke Streifen. Zwischen mir und meinem Gegenüber steht das rote Rollo. Seine Lamellen fallen nur leicht aus der Waage.

Aus rotem Jalousienhimmel fällt Nieselregen. In drei Tagen ist Sommeranfang. Dann werden die Tage wieder kürzer. Es ist gut so, im Sommer ist der Winter nicht so kalt.

Bei der Roten stehen zwei Fenster offen. Weiße Gardinen verwehren den Blick in ihre Wohnhöhle. Welchen Mief, welchen Trübsinn lüftet sie aus? Keine Odorschleier wabern aus den Fensterhöhlen. Sie verbirgt sich hinter der Gardine, zeigt sich nicht bei ihrem Tun. Der gewohnte Blick, oder wurde sie übers Stubenhocken ihrer Tapete immer ähnlicher? Das mag es sein. Ganz gewiss! Niveau ohne Tiefenschärfe erleichtert das Leben.

Beim Schnauzer schaut die Tochter in die Fernsehecke. Zuvor saß sie am Schreibtisch und notierte sich etwas mit der Nasenspitze. Sieht sie wirklich so schlecht wie über dem Papier, sieht sie kein schlechtes Programm, sondern hört nur ein schlechtes Hörspiel. Doch sie spricht. Nicht mit dem Apparat, sondern mit dem Papa. Er sitzt mit ihr vor der Fernsehecke. Verdeckt vom Regal. Für einen Moment kommt er hervor. Das Mädchen ist müde. Es gähnt und zappelt. Sie blicken beide hinein. Vater und Tochter beim gemeinsamen Fernsehabend.

Jetzt halten sie sich ein Buch vor. Die Rote schließt ihre Fenster. Der Sprühregen verdünnt sich zu Nebel. In drei Tagen ist Sommeranfang. Der zweite Monat ohne R im Namen geht vorüber, ohne dass ich einmal auf der Erde gesessen habe.

19. Juni 2001
Immer wieder fiel mein Blick hinüber, immer wieder hielt ihn nichts, immer wieder richtete er sich nach innen, ließ mich nachdenken über das worüber ich nachdenken sollte, ein Schema, das zu konstruieren ist, nichts fand ich in mir, nichts dort drüben, das meinem Grübeln Halt bot, einzufallen. Nichts. Und mit einem Male, bleibe ich am Außen, im Licht meines Gegenübers haften. Es ist die grünliche Lampenschüssel des Leblosen, der gläserne Diskus, mit einem vierarmigen Aluminiumfuß an die Decke unterm Dach geheftet, diese schlichte Geschmacklosigkeit, entworfen zum Wegsehen. Egal, ich sehe sie und schaue sie immer wieder an, suche die Schönheit in der Hässlichkeit, so wie ich andererseits die Hässlichkeit in der Schönheit suche. Ich sehe also hinüber, sehe ihr Licht für eine Sekunde von der gleichen Farbe wie die Sonne, die leuchtend hinter dem First steht. Zwei Lichter, verdorben und göttlich, schwingen im selben Ton ...

Es war nur ein Wimpernschlag, ein Taktschlag zwischen zwei Zeiten, dann war das Wunder vorüber, das Selbe wieder Gleiches. Wunder währen nicht, sie haben keine Zeit, keine Sekunden, sie sind Hauch der Ewigkeit. Der Tod währt vier Minuten, im medizinischen Sinne. Vier Minuten auf denen eine wissenschaftliche Disziplin gründet, die Thanatologie. Und doch ist der wahre Tod, welch Wunder, ohne Zeit. Ein Geschlechtsverkehr währt sieben Minuten, in literarischem Sinne. Zwei Bücher wurden über diese Spanne geschrieben. Eine Untergrundausgabe von J. J. Jadway und ein Buch über dieses Buch von Irving Wallace. Ich besaß einst beide, das erstere besitze ich noch, das zweite stellte ich mit anderen Büchern beim Entrümpeln in die Gasse. Eine vorzügliche Methode, Bücher los zu werden, wiewohl ich bei wenigstens zwei Dutzend Buchläden im Viertel, gleichsam Eulen in meine Gasse trug. Dennoch: ein Karton mit Büchern vor der Haustüre ist nach einer Stunde geleert. Zurück bleiben allenfalls zwei, drei Schriften, die selbst ein Bibliomane nicht mehr nach Hause tragen mag. Zum Heizen eignen sich Bücher nicht. In der Wohnung zuvor heizte ich mal mangels Kohlen mit Büchern. Der Heizwert war gering, dafür die Asche umso mehr. Heute wärmt mich Fernwärme. Außer beim Studenten sehe ich keine Buchregale in den Räumen auf der anderen Seite, dafür Abendlicht und Wolkengrau. Doch darüber möchte ich heute keine Worte malen.

20. Juni 2001
Kurzes Regen im Laden der Schneiderin. Ein neues Gesicht, Händi am Ohr, blaues Hemd, männlich. Das war am frühen Abend. Was habe ich noch gesehen? Ein Taubenpaar unter der Traufe. Sonst?

Nichts. Ich habe die Nacht abgewartet, um vom Unbewegten zu schreiben. Dunkelheit und Gegenüber, zwei Seiten der Bewegungslosigkeit.

Astronomische Mitternacht. Dies ist die Nacht vor dem längsten Tag. Sie ist hell, obgleich mondlos und diesig. Im Süden leuchtet Mars, im Norden eine Ahnung von Dämmerung. Vor meinem Fenster neont die Laternenschüssel am frisch gezogenen Kupferdraht. Umschwirrt von einigen Eintagsfliegen im nebelgelben Halo. Die Luft ist feucht und kühl.

Fahles Gelb auf der anderen Seite. Der Student hat sein Nachtlicht gelöscht. Dunkelheit. Ungeordnete Vorhänge der Roten. Sie muss ihre Nichtigkeit nicht mehr verhüllen. Jeder mag in ihre dunklen Kammern blicken, in denen sich nichts mehr rührt. Sie ist weise geworden, nachdem sie die versammelte Weltweisheit aus ihrer Etage gewiesen hatte.

Morgen siegt die Sonne.

Sommeranfang 2001
In Afrika verfinstert sich die Sonne, hier bin ich von ihr beschienen. Weißblauer Himmel, ein bayerischer Sommertag. Mein Gegenüber im Widerschein meines Lichtes, sonnig. Der leblose Klon öffnet sein Gaubenfenster. Blick auf die kahlen Wände seiner kärglichen Stube.

Jalousienbewegung bei den Unscheinbaren. Zuvor bewegte sich von unsichtbarer Hand das Grün hinter der Wasserpfeife um ein Stück nach rechts. Wer war der Beweger?

Der Schnauzer im ärmelfreien Leibchen. Ockergelb. Dazu khakifarbene Kurze. Farblich passendes Habit zu seiner sonnengebräunten Haut. Er blättert über weißem Papier. Ansprechender wäre eierschalenfarbenes Papier.

Die Rote schichtet auf dem Dach Scheite zum Sonnwendfeuer. Sobald die Sonne hinter dem Horizont versinkt, wird sie es anstecken und mit den anderen Hausbewohnern darum tanzen. Das Feuer wird sich von oben nach unten durch die Etagen brennen und den alten Mief verzehren. Sobald es im Keller zusammenschlägt, werden sie sich an den Händen fassen und über die noch lodernde Glut springen und durch den Boden brechen und allesamt in die Hölle ihrer Unbeweglichkeit zurückstürzen.

Ich blicke hinüber auf die Mutterstube; sehe die Gardine, die seit Tagen halb aufgeschlagen ist, welch Liederlichkeit; sehe den Muttersessel, blicke durchs Fernglas, um die Richtung auszumachen, in die er ausgerichtet ist; sehe durchs Fernglas, sehe die Spiegelung vom Putz meines Hauses gleich einer gehämmerten Scheibe, die mir den Einblick verwehrt; sehe wieder mit bloßem Auge und sehe tiefer als durch das Okular; sehe die Leselampe auf der Anrichte im Hintergrund und sehe weiter nichts.

Die Sommersonne scheint mir auf den Bauch. Strahlend blau der Himmel. Ab morgen werden die Tage wieder kürzer werden. Höhepunkte stimmen mich sehr traurig. Sommerfreuden.

22. Juni 2001
Strahlend steht der Stern über dem First. Sein Licht blendet mich, überstrahlt den schwachen Schein des Bildschirmes. Die Buchstaben sind nur noch blasse Ahnung. Nein, diesmal senke ich meine Jalousie nicht, will es nicht ausschließen, das himmlische Licht, sondern bis zur Neige trinken. Die Sonne wärmt mir Gesicht und Bauch. Es ist ein herrlicher Tag.

Die Glocken von Sankt Maximilian läuten zur Freitagsvesper. Eine Kinderstimme in der Gasse nimmt den Ton auf. Dingdong, dingdong. Für den Augenblick ist mein Gegenüber nur noch Fassade. Geblendet dringt mein Blick nicht tiefer. In den Fenstern spiegelt sich mein Haus, sonnenbeglänzte Verzerrung. Mein Gegenüber als der Zerrspiegel meiner selbst. Eine simple Weisheit, so oft vergessen, hier in simpler Symbolik zu lesen.

Trotz himmlischen Glanzes bin ich in Hast. Die Schatten fallen in die Gasse, mein Zerrbild löst sich von den Scheiben, flieht nach oben. Die Dunkelheit kommt von unten, auch dies ein klares Bild, so klar und ebenso oft vergessen und missdeutet. Die Sonnenscheibe rollt dem First zu. Jetzt bescheint sie mein Gesicht mit milder Kraft. Kühler Abendwind weht durch die Gasse, singt durch mein geöffneten Fenster. Ich schreibe geblendet, fast blind ...

Ich werde mich zurücklehnen, den Rest Sonnenschein genießen, Sonne tanken für die schon länger werdende Nacht ... Nein, denke nicht daran, wo dieser Tag so lang ist, ein schöner langer Tag ... abspeichern des Textes; Korrektur morgen im Gegenlicht.

23. Juni 2001
Die Spinne hat ihr Netz von der unteren in die obere Ecke meines Fensters verlegt. Dort spinnt sie nun vor milchig goldenem Abendhimmel.

Seit sich die Sonne hinter mein Gegenüber senkte, verändert sich das Farbenspiel von Augenblick zu Augenblick. Hätte ich statt Worte einen Pinsel zur Hand, hätte ich die andere Seite in vielen Farben gemalt. Vielleicht hätte ich, da mein Gegenüber ohnehin unbewegt, ein Gewürfel aus vertikalen und horizontalen Kästchen mit graublauem Strich gezogen. Kästchen für Kästchen finge ich darauf das Spiel der Farben, die Augenblicke ein. Rotgold, rosa, moosgrün, bleigrau, mandarin, purpur, sandgelb, rostbraun ... die meisten Töne in wechselndem Gemisch von Gelb und Rot, die tieferen Chakrenfarben, und über allem ein wechselnder Ton in hoher Blaulage unterlegt von Violett. Ein Abendlied in bunt. Vielleicht sollte ich mein Gegenüber einmal mit einer Leier vermessen, wie es die alten Baumeister mit ihren Tempeln taten. Es klänge weniger harmonisch als es den Augen schmeichelte. Was wohl daran liegt, dass unser Blick heute den biedermeierlichen Puppenstubenklassizismus, jene schrecklich gute alte Zeit, für gemütlich hält. Misstönend vor allem die Etage der Roten, hingequetscht zwischen Belletage und Dienstbotenkammern unterm Dach. Wohl deswegen jene kleinkarierte verdichtete Gehetztheit, die sie mir vermittelt. Auch wohnen formt die Seele.

Zu meiner Rechten über dem First des italienischen Hauses dünne Wolkenwatte vom Abendrot behaucht. Ein Traum in golddurchwirktem Rosa. Ein schöner Tag geht zur Neige.

24. Juni 2001
Sternenklare Nacht. Die Sterne verblassten, je näher wir auf die Stadt zurollten. Jetzt wo ich über dem First meines Gegenübers nach den Sternen suchen, blicke ich nur in schwarzblaue Tiefe. Kein Stern ist zu sehen, kein urbaner Widerschein erhellt den Nachthimmel. Als schwacher Stern strahlt das Licht der Stadt ins All. Der neue Mond ist längst hinter dem Horizont verschwunden. Mars steht in Erdnähe. Ob unser Licht bis dorthin scheint?

Spätes Leselicht in der Schlafkammer des Studenten, ein keilförmiger gelber Spalt im blauen Tuch. Noch über den ersten Absatz dieses Textes wird es gelöscht.

Mein Blick zieht sich zurück, verweilt am Neon über der Gasse. Rotgelbes Leuchten. Mücken, Eintagsfliegen, Nachtfalter umschwirren die helle Insel, verfangen sich in den Spinnennetzen, die um die Lampe gewoben wurden. Ob Spinnen um die Eigenheiten ihrer Beute wissen?

Zwei Fragen zu später Stunde über die sich munter spekulieren ließe. Ich bin zu müde, um über solcherlei Spekulation noch munter zu werden.

25. Juni 2001
Himmelhoch, einschwebende Flugzeuge von der untergehenden Sonne beglänzt: pünktlich. Tiefer, kreisende Schwalben beim Mückenfang: hungrig. Darunter, flatternde Krähen auf ihrem Weg zu ihrem Schlafplatz: verspätet. Dann die Linie der Schornsteine, durchbrochen vom Schneefanggitter, zerschnitten von Giebelspitzen, dann die Dachkante, die Traufe, die Etage der Roten. Vorbeugen, Blick auf die Studentenetage, die Belletage, Licht im Zimmer des Studentenklons. Eine Ahnung von Bewegung. Ein dreistämmiger Ficus im Hintergrund links: zimmerhoch. Ein elfenbeinfarben lackiertes Küchenbüffet neben der Eingangstür: Nachkriegsmodell. Davor ein dunkler Holztisch, dann das Bücherregal, ein Flokati. Schnitt am Fensterbrett. Im Fenster links im Topf die ausgeblühte Lilie, rechts im Topf Grünzeug. Ein Geldbaum? Das Ganze aufgeräumt, reinlich. Das Chaos wurde ins Nebenzimmer verlegt und mit blauem Tuch verdeckt. Schatten an der Wand verraten, dass das Bild bewohnt ist.

Bleierner Abend ohne Abendrot. Gedankensplitter: Auffällig, wie selten in meinem Gegenüber die Fenster nur geöffnet werden. Was will dort nicht hinein, was nicht hinaus? Das Neon flammt auf. Schattenspiel im Zimmer des Schnauzers. Zwielicht. Die Stunde der verlorenen Seelen. Ich hätte doch zum Tango gehen sollen. Der Text wäre wohl geschmeidiger geworden.

26. Juni 2001
Wasserblau der Himmel über meinem Gegenüber. Nachtschwarz das Dach, die Kamine, die Zähne des Schneefängers, umspielt von einem Silberstreif. Er ist nicht Teil des späten Lichtes, in das die Nacht allmählich fließt. Es ist als strahle das Haus die gespeicherte Tagesglut in die kühle Nacht. Oder ist es die Aura, das Seelenlohen, der anderen Seite. Wäre es so, müsste das Leuchten überm klassizistischen Biederklotz von anderer Farbe sein als über dem italienischen Luftikus. Ich blicke hinüber und sehe, es ist so. Über dem italienischen Dach scheint mir der Silberstreif rötlich weich, während er mich über dem biederen Dach gelblich dicht anmutet. Schön. Und was mache ich nun mit dieser Sicht?

Ich werde Selbsterfahrungskurse für Häuser geben? Motto: Wie lebe ich in Gleichklang mit meiner Fassade und meinem Seelenlicht? Oder, die Seelenkraft meiner Einwohner im Lichte meines höheren Selbst? Oder sollte ich darüber Bücher schreiben? Oder besser noch Auratherapien für Häuser samt klärender Massagen anbieten: Shiatsu für Fassaden und tragende Elemente. Als Stifter einer solchen Quacksalberei könnte ich einmal mehr die Hopis ausgraben: Pueblobau und das Seelenheil moderner Häuser. Womöglich bekäme ich eine Professur, was mir freilich nicht so recht wäre. Ein österreichischer Professor honoris causa stände mir doch besser zu Gesicht.

Ach ja, mein Gegenüber ... mittlerweile ist es in die Nacht gerückt. Müdes Licht bei den Unscheinbaren. Es wird ihr Hausgeist sein, der den Dimmer so weit nach unten regelte. Geister leben auf Sparflamme, weswegen sie auch im alltäglichen Leben so wenig ausrichten. Schon wieder schweife ich ab ... es gibt nichts dort drüben, das mir heute Weile böte ... dafür stiftet es meine Gedanken zum kreisen an. Also lösche ich mein Licht, blicke hinüber in die andere Seite und lasse meine Gedanken Luftschlösser gebären. Es werden keine schweren Geburten sein ...

27. Juni 2001
Mitternacht. Schwüle. Die Fenster sind geöffnet, ab und an verweht ein kühlendes Lüftchen die feuchte Hitze. Die Stimmen in der Gasse sind lauter als sonst, mal aufgekratzt, mal aggressiv. Das die erhitzten Gemüter löschende Gewitter mag sich nicht entladen. Wolke um Wolke drückt es unter den tiefen Himmel über der Stadt.

Auf der anderen Seite ist es rasch dunkel geworden. Zuvor saßen sie noch zu viert am Tisch im Studentenzimmer. Zwei Paare. Sie hielten Karten in den Händen und spielten. Ein Spiel mit Aufgaben, denn mal stand der eine, mal die andere im Zimmer, machte Faxen, die anderen sahen ihnen zu, kicherten, lachten. Dann war das Zimmer leer. Das Spielbrett noch am Tisch, eine Bierflasche daneben. Eine gute Weile später, sah ich sie zurück ins Zimmer kommen, aufräumen, kurz beratschlagen. Beim nächsten Blick hinüber, war das Zimmer bereits dunkel. Ausgehen, Fortgehen, Schlafen gehen, miteinander Schlafen gehen, alleine Schlafen gehen ... Egal welche Aufgabe das Spiel ihnen abgefordert haben mag und der sie nun im Dunklen nachkommen, sie werden ihre schwitzende Freude daran haben.

Endlich erste Regentropfen. Das Gewitter scheint sich leise abzuregnen. Auch so lassen sich Konflikte lösen. Es ist still geworden in der Gasse, unheimlich still. Ich höre das Säuseln des Windes, das Flüstern des Regens, das Summen meines Rechners und das Klappern meiner Tastatur ...

28. Juni 2001
Ein Himmel wie vergossene Purpurmilch. Darunter schwarzgrün das Dach. Die Kamine bleiben ausgeblendet. Tiefer blaustichig das gelbe Ziegelband. Die dunklen Fenster bleiben ausgeblendet. Zentral das Gelborange in der Gaube mit dem blauen Spitzkelch. Indes ist es nicht Lichtspender, sondern Bezugspunkt für das Licht um es herum.

Was ist vergossene Purpurmilch? Ein Löffel voll Blaubeeren, eine Erdbeere auf ein Glas Milch, mit dem Mixer verrühren, dann ausgießen. Oder eine Purpurschnecke über einem Glas Milch zerdrücken, umrühren und ausgießen. Oder Sommerregenwolken über dem First, darüber Abendrot, zurücklehnen und schauen. Sobald es regnet, fließt die Purpurmilch in die Gasse, allerdings darf der Regen dabei nur sprühen.

In letzter Zeit blicke ich lieber in den Himmel als auf mein Gegenüber. Mich verdrießt dieses Nekrodomium. Drüben beim Schnauzer wackelt ab und an ein blonder Schopf. Fernsehhaltung, Fernsehgewackel. Arme verschränkt, Arme geöffnet. Es könnte seine Frau sein, dort im Dämmerlicht. Es könnte auch ein Gast sein oder eine Wildfremde, die um die Verlassenheit der Wohnungen weiß, sich zwischen die toten Seelen setzt, sich vor dem Spuk der Entleibten nicht fürchtet, sich dafür die Gruft zur Wohnstatt macht. Auch in Kairo leben Menschen auf den Friedhöfen, ohne um ihr Seelenheil zu fürchten. Warum also nicht in diesem Nekrodomium auf der anderen Seite?

Der Blondschopf geht zur Türe, hager ist sie, kommt wieder zurück, spricht in den Fernseher, nippt an einem Branntweinglas, dass ihr aus der Ecke gereicht wird ... Nein, dort drüben lebt noch keine Seele zwischen den Entseelten, dazu sind Fenster und Türen zu fest verschlossen.

Der Blondschopf greift sich ins Haar, hebt sich den Skalp ab, blassgrün glimmendes Gewürm windet sich ineinander verschlungen in ihrer Schädelhöhlung ... Zur gleichen Zeit erfahre ich über Chat von einem berauschenden Abendrot in Rheine.

29. Juni 2001
Kerben im Ziegel. Seine Lage: die Tafel rechts oben, linke Mitte, zweite Reihe über dem nach rechts abfallenden Zierband. Sein Name: Wolfsrachen. Ja, mittlerweile kenne ich die Ziegel meines Gegenübers mit Namen. Ich weiß, wie sie ihre Stimmung über den Tag verändern, weiß um ihre Eigenarten und Temperamente und beobachte, wie meine Worte sie abschleifen. Immer wieder zielen meine Worte auf mein Gegenüber, prallen an ihm ab, springen auf mich zurück, purzeln hinab in die Gasse. Manche bleiben an der anderen Seite haften, bilden Belag, geben Farbe und blättern wieder von ihrer Vorlage ab, ehe sie zu Patina werden. Mein Anreden, Anrennen, Ansprechen hat in den Wolfsrachen Kerben geschlagen. Drei in der linken, drei in der rechten Ziegelhälfte. Morgen, übermorgen oder irgendwann werde ich sie wieder glatt sprechen oder noch tiefer murmeln oder missachten und als eingesprochene Wunden ausbluten lassen, bis dunkler Schorf sie schließend schützt; so wie ich den Aaron, die Cala, im Fenster des Schnauzers zu dürrem Welk zerredete, indem ich ihm die siebte Blüte, die Todesblüte, die Ausblutende hinzuwortete.

Der Schatten, zuvor noch an der Unterkante des Wolfsrachen, ist über den geschriebenen Absatz um eine Ziegelbreite hinab gewandert und auf das Zierband gefallen, für einen Augenblick, nur diese Bandbreite während, staute er. Und schon fließt er weiter hinab, sichtbar und ganz mählich schneller werdend, bis er schließlich in die Gasse fällt und das Licht auf meine Seite drückt und es, ebenso mählich wieder langsamer werdend, aus der Gasse hebt.

Eine Frauenhand wirft den blauen Vorhang in der studentischen Schlafkammer zurück. Zuvor sah ich sie, während ich Tee aufgoß, aus dem Küchenfenster. Sah wie sie sich im Schlafhemd an den bebrillten Studenten kuschelte, etwas ungelenk, beinahe kindlich und doch erwachsen im schüchtern stürmischen Verlangen.

30. Juni 2001
Das Gewitter zur Nacht wetterleuchtet über dem First. Für Augenblicke umreißt es die Grenze zwischen Nacht und Gegenüber am Schattenriss der Kamine. Kühlender Wind bläst durch das Fenster und leckt zugleich die Regentropfen von der Scheibe. Kaum ist der erste Regenguss vorüber, zeichnen sich schon Trockenstellen am sonnenwarmen Pflaster. Ein zweiter Gewittersturm baut sich auf, eine aufgeschreckte Taube flattert am gelben Viereck der Gaube des Leblosen vorbei. Kurzes Erschrecken vor dem Vogel der Nacht, dem tief in unsere Seele eingeschriebenen Symbol des Todes.

Tiefer im Studentenzimmer Geplauder bei Wein und Bier und Kerzenschein. Mildes Gebalze und verhaltenes Geglucke. Die Verteilung der Geschlechter scheint nicht ausgewogen. Ein Kind ist dazwischen, familiäre Zurückhaltung. Die Frauen wissen noch nicht, welcher Nebenbuhlerin sie die Augen auskratzen sollten, und die Männer sind sich noch unsicher, bei welchem Weib sie sicher sind. Man redet über die Eltern, das Studium, verkorkste Liebschaften und Träume, gibt sich erfahren und fantasiert auf eine erzählte Geschichte eine noch phantastischere. Das gleiche Bild im selben Zimmer wie schon vor Monaten beschrieben, nur mit anderer Besetzung. Das Leben ist schon ein hübsches Hamsterrad.

Über diese kurze Betrachtung hinweg gingen rund um die Studentenstube die Lichter aus. Nun, Schlaglicht auf das pulsierende Leben. Auch wenn es nur ein lauer Puls ist, ist es bereits tausend Mal aufregender, als die letzte erinnerte Zeit. Und doch, es reizt mich nicht, mich weiterhin vorzubeugen, um langweilige Klone mit vor der Brust verschränkten Armen zu sehen. Zuzusehen, wie sie in Abwehrhaltung über ihre banale Aufzucht und die üblichen Neurosen der Adoleszenz parlieren. Ich bleibe lieber zurückgelehnt und blicke geradeaus.

Schön wie die andere Seite im geraden Blick in die Dunkelheit dieser unruhigen Nacht rückt. Schön wie das Neon sich verliert. Schön wie es mit seinem Schein verdunkelt, was es erhellt. Schön diese Nacht, so widersprüchlich, und so zutiefst in ihrer Widersprüchlichkeit verstanden ... lausche dem Ungeschriebenen, lausche dem Klang der wortlosen Worte ...lausche dem Koan deines Alltages ...