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Unten im Laden scheinen Tauben zu nisten. Jedenfalls verändert sich die Situation tagtäglich, ohne dass ich Wirkende bemerke. Heute war wieder Kulissenaufbau. Aufgesteckt die rote Schaufensterblende, nach vorne gerückt der Hintergrund. Teilung des Raumes in zwei Kammern. Was lerne ich daraus? Habe Geduld und mache dir kein Bild von anderer Leute Kram, sie tun ja eh nicht, was du in sie hineinliest. Irrtum, sie tun genau dies! Der Leblose bleibt leblos, die Unsichtbare unsichtbar, die Rote rot, der Schnauzer schnauzig und alle zusammen sitzen bei der Fernsehsüchtigen auf der Couch und naschen Kartoffelchips mit Erdnussflips und greifen sich abwechselnd zwischen die Zähne und den Schritt. Vorgebeugt blicke ich zur Schlafkammer der Fernsehsüchtigen auf den Vorhang: baumwollfarben, von hinten beleuchtet. Leselicht. Der Faltenwurf weich, feminin. Feine Rippen. Im Spalt, knapp über dem Fensterbord, die beiden Schals übereinander geworfen. Schwungvolle Verschränkung. Das Leselicht illuminiert die schräggestellten Falten. Dies wäre ein inspirierender Blick, ein Gedankenfessler, wäre da nicht die unbequeme Sitzhaltung, vorgebeugt, überstreckt ... Nein! Also lasse ich mich zurückfallen, sehe das leichengelbe Geziegel, die lichtlosen Fensterlaibungen, das Himmelsschwarz und lasse mein rotes Rollo dazwischenfallen. 2.
Juni 2001 Eine trunkene Stimme gröhlt durch die Gasse, Deutschland Scheiße. Offensichtlich ein Patriot, der noch an seinem Vaterland leidet. Es ist auch wirklich zu kalt für die Jahreszeit. Regen stäubt ums Neon. Die Spinne vor meinem Fenster lauert in der Mitte ihres Netzes. In nervöser Erwartung vibriert sie mit dem Wind. Sie ist beutehungrig und bekommt nur Regentropfen zu fressen. Noch ein viertel Jahr, dann wird dieses Experiment zu Ende sein. Pfingstsonntag
2001 Darunter spitzt der Schnauzer seine schnauzige Gosch, streckt seine Zunge, lässt sie flattern, gibt Ton dazu und lallt, das Lallen schwillt an zur Rede, und die Rede füllt sich mit Offenbarung. Daneben tut es ihm die Rote gleich, in der Art der Rede jedoch nicht im Ton, spricht sie doch für andere Ohren. Und wo einer spricht, sprechen auch zwei und drei und viele. Die Fenster fliegen auf und die Zungen lallen, lallen die Wahrheit, lallen die letzte Weisheit und lallen die höchste Offenbarung zum Fenster hinaus, hinein in die Gasse. Und so lallt die Erkenntnis in Kaskaden hernieder, plätschert übers Trottoire, sammelt sich im Rinnstein und fließt in den Untergrund, fließt hinaus in die Kloake vor der Stadt, fließt gereinigt in den Fluss, strömt versammelt ins große Meer, hebt sich als Destillat in den Himmel, ballt sich zu Wolken und regnet auf uns herab. Irgendwann muss der stete Tropfen auch unsere steinharten Schädel höhlen ... Das Spinnennetz vor meinem Fenster hat über Nacht der Regen weggewaschen. Pfingstmontag
2001 Graublau die kalte Frühsommernachtluft. Märzenkühle. Fahles Gelb, welk wie der Aaron des Schnauzers: mein Gegenüber. Wann wird es in sich zusammenfallen? Die Frage in dem Dreivierteljahr dieser Betrachtung in verschiedener Weise öfters gestellt. An mich gestellt, an den Text gestellt, an mein Gegenüber gestellt, an meinen Leser gerichtet, an mich gerichtet. Fahl und fern mein Gegenüber. Heute im Saal der Blauen Reiter Bilder von Alexej Jawlensky gesehen. Sie fielen mir vor allen anderen ins Auge. Leider war keines seiner Bilder "Blick aus dem Atelierfenster" ausgestellt. Ich hätte gerne wieder eins im Original gesehen. Wie hätte er den Blick heute festgehalten. Meinen Blick. Ich weiß es nicht. Ich sehe das fahle Neon: verblaut. Die unbeleuchteten Fenster: vergraut, senkrechte Schattenlinien im Store. Das leichige Geziegel, vernebelt, blaustichig, waagrechte Fugenstriche, ins Violette streichend. Ein blaues Bild würde es, aus dem Blauschwarzen fallend, zu fahlblauen Gekastel in der unteren Bildhälfte gerinnend. Die senkrechten Schatten in den Himmel hinein verlängert. Zwei Bewegungen also, sich widersprechend und doch in Zwiesprache miteinander. Pfingsten, das selbstredende Fest, ist vorüber. Dem Frommen bleibt noch die Oktave. 5.
Juni 2001 Der Zinkzylinder auf dem Kamin, stahlfarbenblau mit Sonnenpunkt. Keine Ahnung von seiner eigentlichen Beschaffenheit, so vollkommen verbirgt sich seine Eigenheit hinter der Spiegelung. Rundum stählernes Graublau, elegant, himmelsdicht, Tarnfarbe für Hubschrauber und Drohnen. Dieser idiotische Zinkzylinder, diese unbedachte Auflage eines Kaminkehrers, zeigt heute so seltsam menschliche Züge. Schöner noch, himmlisch verhüllende Projektion. Das Spinnennetz vor meinem Fenster ist neu gewoben. Größer als je zuvor. Zwei Handspannen weit. Regelmäßiger als sonst. Nur noch wenige Löcher und versetzte Weben an den Spannfäden. Prismengleiche Brechungen in den Fäden. Allmählich rückt die Sonne in mein Fenster. 6.
Juni 2001 Nach und nach erloschen die Lichter auf der anderen Seite. Zuerst die großen Lampen. Leselampen spendeten noch heimeligen Schein. Mildes Licht, das beim Entkleiden die kleinen Schwachstellen umschmeichelt, schöner Schein. Gegen ein Uhr verließ der Schnauzer die Ecke vor seinem Fernseher, löschte das Licht und schlurfte im Bergsteigerhemd zum Schlafzimmer. Er wäre der letzte Wache im Gegenüber gewesen, hätte nicht nach ihm der Student noch einmal das Licht aufgedreht. Hinter seinem Rupfen für einen Moment gelbrotes Gefunzel. Fiel er ins Bett, suchte er den Topf oder sprang ihm ein traumhafter Gedanke zu Papier? Der Kupferdraht fluoresziert im Neonschein. Ich muss an die kupfergrüne Büste auf dem südlichen Friedhof denken, die ich gestern sah. Ein verwaschener grünspaniger Bärtiger. Schon bei Tageslicht ein seltsamer Anblick. Ich stellte mir vor wie gespenstisch sein Gesicht im Vollmondlicht leuchtet. Der Grabstein ist nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, der nachts manchmal offen steht. Vielleicht wage ich mal einen Blick hinein, um zu sehen, ob die Büste im Mondschein wirklich so schauerlich glänzt, wie ich es mir denke. 7.
Juni 2001 Im Fenster des Schnauzers welkt der Aaron blühend dahin. Eine Schere und ein neuer Topf könnten ihn noch retten. Doch solange ihn der Blick der Gewohnheit streift, wird niemand sein Siechtum bemerken. Nichts bemerken wir, solange etwas nur mählich genug geschieht. Vielleicht fühlen wir uns inzwischen nicht mehr ganz so komfortabel, bleiben aber doch unfähig, zu deuten warum. Wir sind wie Frösche, die im Kochtopf paddeln, während das Wasser sich allmählich erhitzt. Silberhell der Zinkzylinder auf dem Kamin. Verfestigt die Nährlösung im achteckigen Krug im Fenster der Unscheinbaren. Das Kunststoffgrün daneben ist um ein Blatt gewachsen. Was habe ich nicht bemerkt, während der neun Monate, die ich mein Gegenüber beschreibe? Neun Monate. Zeit um einen Menschen zu schaffen. Zu wenig Zeit, um ein Haus zu bauen. Der Müllwagen brummt und quietscht und rumpelt und zurrt und schnurrt und knurrt durch die Gasse. Die Tonnenmänner pumpern mit den Bio- und Altpapiertonnen über das Pflaster, gedämpftes volles Rollen und lautes leeres Rollen wechseln einander ab. Kurzes Getöse, dann kehrt wieder Ruhe ein. Samenflocken wehen in Traufhöhe durch die Gasse. Morgen werde ich auf die Insel fliegen und das Meer zum Gegenüber haben. 8.
Juni 2001 Das
Wetter hält sich nicht an den Wetterbericht. Noch bis Mittag war uns Sonne
versprochen, doch schon jetzt ziehen Regenwolken von Südwest nach Nordost.
In wenigen Stunden werde ich sie durchstoßen und unter der Sonne der Sonne
entgegenfliegen. 15.
Juni 2001 Das Experiment nimmt seinen Lauf, das Gegenüber ist das Gegenüber und kein Meer und keine Autobahn und kein Strand und kein Parkplatz, keine Cantina Patronata Pizzeria, keine ein- und auslaufenden Kreuzfahrer, kein Stadtgewürfel, kein verwässerter Horizont hier und kein versteinerter, zerklüfteter dort. Wie ehedem ist das Gegenüber dort drüben, die Flucht vor dem Fenster, zehn Meter weiter, zum Greifen nah, auf Rufnähe. 16.
Juni 2001 Das war es. Mehr Bewegung gegenüber wäre frivol. Man harrt der Dinge, verlässt die Wohnung, fährt in Ferien, kommt zurück und harrt der Dinge. Tick, tack, wippt die Zeit. Sensenschlag. Schnitt für Schnitt mäht Meister Hein Blüten von der Wiese, fällt die Harrenden, greift die Fliehenden. Dort drüben auf der anderen Seite ist keine Furcht, ist keine Flucht, ist nur Verharren und Wurzeln schlagen. Ich bin zurück, noch nicht im Trott, doch schon versöhnt. Heimat sucht man sich nicht aus ... 17.
Juni 2001 Zwischen Frühstück und Spülmaschinenfüllung ein Blick hinüber. Grüne Bluse, sommerbesprosster Arm, für einen Wimpernschlag vom Store bedeckt, dann war das Fenster geschlossen. Blitzfeine Hektik. Dieserart sind die raren Lebenszeichen der Roten. Was macht sie in der Zwischenzeit? Sitzt sie ihrerseits auf der mir abgewandten Seite und beschreibt ihr Gegenüber? Sitzt dort wieder jemand und vor diesem wieder einer und so weiter und so weiter bis mir endlich einer, mich betrachtend, im Rücken sitzt. Und indem wir so reihum unser Gegenüber beschreiben, beschreiben wir die Welt, so wie sie wirklich ist: einem stets und immer etwas Gegenüber. Es hat aufgehört zu regnen. Vom First her trocknet das Kupferblech blassgrün, als flöße frische Farbe aus dem aufgelöteten Schneefänger. Durch die ausgewaschene Luft rückt mir die andere Seite näher, näher und plastischer, lebhafter und farbiger als sonst. Für einen kurzen Augenblick sehe ich mein Gegenüber mit neuen Augen. Ich blicke und staune ... die Welt ist schön. Regentropfen bedecken erneut das frische Grün. 18.
Juni 2001 Aus rotem Jalousienhimmel fällt Nieselregen. In drei Tagen ist Sommeranfang. Dann werden die Tage wieder kürzer. Es ist gut so, im Sommer ist der Winter nicht so kalt. Bei der Roten stehen zwei Fenster offen. Weiße Gardinen verwehren den Blick in ihre Wohnhöhle. Welchen Mief, welchen Trübsinn lüftet sie aus? Keine Odorschleier wabern aus den Fensterhöhlen. Sie verbirgt sich hinter der Gardine, zeigt sich nicht bei ihrem Tun. Der gewohnte Blick, oder wurde sie übers Stubenhocken ihrer Tapete immer ähnlicher? Das mag es sein. Ganz gewiss! Niveau ohne Tiefenschärfe erleichtert das Leben. Beim Schnauzer schaut die Tochter in die Fernsehecke. Zuvor saß sie am Schreibtisch und notierte sich etwas mit der Nasenspitze. Sieht sie wirklich so schlecht wie über dem Papier, sieht sie kein schlechtes Programm, sondern hört nur ein schlechtes Hörspiel. Doch sie spricht. Nicht mit dem Apparat, sondern mit dem Papa. Er sitzt mit ihr vor der Fernsehecke. Verdeckt vom Regal. Für einen Moment kommt er hervor. Das Mädchen ist müde. Es gähnt und zappelt. Sie blicken beide hinein. Vater und Tochter beim gemeinsamen Fernsehabend. Jetzt halten sie sich ein Buch vor. Die Rote schließt ihre Fenster. Der Sprühregen verdünnt sich zu Nebel. In drei Tagen ist Sommeranfang. Der zweite Monat ohne R im Namen geht vorüber, ohne dass ich einmal auf der Erde gesessen habe. 19.
Juni 2001 Es war nur ein Wimpernschlag, ein Taktschlag zwischen zwei Zeiten, dann war das Wunder vorüber, das Selbe wieder Gleiches. Wunder währen nicht, sie haben keine Zeit, keine Sekunden, sie sind Hauch der Ewigkeit. Der Tod währt vier Minuten, im medizinischen Sinne. Vier Minuten auf denen eine wissenschaftliche Disziplin gründet, die Thanatologie. Und doch ist der wahre Tod, welch Wunder, ohne Zeit. Ein Geschlechtsverkehr währt sieben Minuten, in literarischem Sinne. Zwei Bücher wurden über diese Spanne geschrieben. Eine Untergrundausgabe von J. J. Jadway und ein Buch über dieses Buch von Irving Wallace. Ich besaß einst beide, das erstere besitze ich noch, das zweite stellte ich mit anderen Büchern beim Entrümpeln in die Gasse. Eine vorzügliche Methode, Bücher los zu werden, wiewohl ich bei wenigstens zwei Dutzend Buchläden im Viertel, gleichsam Eulen in meine Gasse trug. Dennoch: ein Karton mit Büchern vor der Haustüre ist nach einer Stunde geleert. Zurück bleiben allenfalls zwei, drei Schriften, die selbst ein Bibliomane nicht mehr nach Hause tragen mag. Zum Heizen eignen sich Bücher nicht. In der Wohnung zuvor heizte ich mal mangels Kohlen mit Büchern. Der Heizwert war gering, dafür die Asche umso mehr. Heute wärmt mich Fernwärme. Außer beim Studenten sehe ich keine Buchregale in den Räumen auf der anderen Seite, dafür Abendlicht und Wolkengrau. Doch darüber möchte ich heute keine Worte malen. 20.
Juni 2001 Nichts. Ich habe die Nacht abgewartet, um vom Unbewegten zu schreiben. Dunkelheit und Gegenüber, zwei Seiten der Bewegungslosigkeit. Astronomische Mitternacht. Dies ist die Nacht vor dem längsten Tag. Sie ist hell, obgleich mondlos und diesig. Im Süden leuchtet Mars, im Norden eine Ahnung von Dämmerung. Vor meinem Fenster neont die Laternenschüssel am frisch gezogenen Kupferdraht. Umschwirrt von einigen Eintagsfliegen im nebelgelben Halo. Die Luft ist feucht und kühl. Fahles Gelb auf der anderen Seite. Der Student hat sein Nachtlicht gelöscht. Dunkelheit. Ungeordnete Vorhänge der Roten. Sie muss ihre Nichtigkeit nicht mehr verhüllen. Jeder mag in ihre dunklen Kammern blicken, in denen sich nichts mehr rührt. Sie ist weise geworden, nachdem sie die versammelte Weltweisheit aus ihrer Etage gewiesen hatte. Morgen siegt die Sonne. Sommeranfang
2001 Jalousienbewegung bei den Unscheinbaren. Zuvor bewegte sich von unsichtbarer Hand das Grün hinter der Wasserpfeife um ein Stück nach rechts. Wer war der Beweger? Der Schnauzer im ärmelfreien Leibchen. Ockergelb. Dazu khakifarbene Kurze. Farblich passendes Habit zu seiner sonnengebräunten Haut. Er blättert über weißem Papier. Ansprechender wäre eierschalenfarbenes Papier. Die Rote schichtet auf dem Dach Scheite zum Sonnwendfeuer. Sobald die Sonne hinter dem Horizont versinkt, wird sie es anstecken und mit den anderen Hausbewohnern darum tanzen. Das Feuer wird sich von oben nach unten durch die Etagen brennen und den alten Mief verzehren. Sobald es im Keller zusammenschlägt, werden sie sich an den Händen fassen und über die noch lodernde Glut springen und durch den Boden brechen und allesamt in die Hölle ihrer Unbeweglichkeit zurückstürzen. Ich blicke hinüber auf die Mutterstube; sehe die Gardine, die seit Tagen halb aufgeschlagen ist, welch Liederlichkeit; sehe den Muttersessel, blicke durchs Fernglas, um die Richtung auszumachen, in die er ausgerichtet ist; sehe durchs Fernglas, sehe die Spiegelung vom Putz meines Hauses gleich einer gehämmerten Scheibe, die mir den Einblick verwehrt; sehe wieder mit bloßem Auge und sehe tiefer als durch das Okular; sehe die Leselampe auf der Anrichte im Hintergrund und sehe weiter nichts. Die Sommersonne scheint mir auf den Bauch. Strahlend blau der Himmel. Ab morgen werden die Tage wieder kürzer werden. Höhepunkte stimmen mich sehr traurig. Sommerfreuden. 22.
Juni 2001 Die Glocken von Sankt Maximilian läuten zur Freitagsvesper. Eine Kinderstimme in der Gasse nimmt den Ton auf. Dingdong, dingdong. Für den Augenblick ist mein Gegenüber nur noch Fassade. Geblendet dringt mein Blick nicht tiefer. In den Fenstern spiegelt sich mein Haus, sonnenbeglänzte Verzerrung. Mein Gegenüber als der Zerrspiegel meiner selbst. Eine simple Weisheit, so oft vergessen, hier in simpler Symbolik zu lesen. Trotz himmlischen Glanzes bin ich in Hast. Die Schatten fallen in die Gasse, mein Zerrbild löst sich von den Scheiben, flieht nach oben. Die Dunkelheit kommt von unten, auch dies ein klares Bild, so klar und ebenso oft vergessen und missdeutet. Die Sonnenscheibe rollt dem First zu. Jetzt bescheint sie mein Gesicht mit milder Kraft. Kühler Abendwind weht durch die Gasse, singt durch mein geöffneten Fenster. Ich schreibe geblendet, fast blind ... Ich werde mich zurücklehnen, den Rest Sonnenschein genießen, Sonne tanken für die schon länger werdende Nacht ... Nein, denke nicht daran, wo dieser Tag so lang ist, ein schöner langer Tag ... abspeichern des Textes; Korrektur morgen im Gegenlicht. 23.
Juni 2001 Seit sich die Sonne hinter mein Gegenüber senkte, verändert sich das Farbenspiel von Augenblick zu Augenblick. Hätte ich statt Worte einen Pinsel zur Hand, hätte ich die andere Seite in vielen Farben gemalt. Vielleicht hätte ich, da mein Gegenüber ohnehin unbewegt, ein Gewürfel aus vertikalen und horizontalen Kästchen mit graublauem Strich gezogen. Kästchen für Kästchen finge ich darauf das Spiel der Farben, die Augenblicke ein. Rotgold, rosa, moosgrün, bleigrau, mandarin, purpur, sandgelb, rostbraun ... die meisten Töne in wechselndem Gemisch von Gelb und Rot, die tieferen Chakrenfarben, und über allem ein wechselnder Ton in hoher Blaulage unterlegt von Violett. Ein Abendlied in bunt. Vielleicht sollte ich mein Gegenüber einmal mit einer Leier vermessen, wie es die alten Baumeister mit ihren Tempeln taten. Es klänge weniger harmonisch als es den Augen schmeichelte. Was wohl daran liegt, dass unser Blick heute den biedermeierlichen Puppenstubenklassizismus, jene schrecklich gute alte Zeit, für gemütlich hält. Misstönend vor allem die Etage der Roten, hingequetscht zwischen Belletage und Dienstbotenkammern unterm Dach. Wohl deswegen jene kleinkarierte verdichtete Gehetztheit, die sie mir vermittelt. Auch wohnen formt die Seele. Zu meiner Rechten über dem First des italienischen Hauses dünne Wolkenwatte vom Abendrot behaucht. Ein Traum in golddurchwirktem Rosa. Ein schöner Tag geht zur Neige. 24.
Juni 2001 Spätes Leselicht in der Schlafkammer des Studenten, ein keilförmiger gelber Spalt im blauen Tuch. Noch über den ersten Absatz dieses Textes wird es gelöscht. Mein Blick zieht sich zurück, verweilt am Neon über der Gasse. Rotgelbes Leuchten. Mücken, Eintagsfliegen, Nachtfalter umschwirren die helle Insel, verfangen sich in den Spinnennetzen, die um die Lampe gewoben wurden. Ob Spinnen um die Eigenheiten ihrer Beute wissen? Zwei Fragen zu später Stunde über die sich munter spekulieren ließe. Ich bin zu müde, um über solcherlei Spekulation noch munter zu werden. 25.
Juni 2001 Bleierner Abend ohne Abendrot. Gedankensplitter: Auffällig, wie selten in meinem Gegenüber die Fenster nur geöffnet werden. Was will dort nicht hinein, was nicht hinaus? Das Neon flammt auf. Schattenspiel im Zimmer des Schnauzers. Zwielicht. Die Stunde der verlorenen Seelen. Ich hätte doch zum Tango gehen sollen. Der Text wäre wohl geschmeidiger geworden. 26.
Juni 2001 Ich werde Selbsterfahrungskurse für Häuser geben? Motto: Wie lebe ich in Gleichklang mit meiner Fassade und meinem Seelenlicht? Oder, die Seelenkraft meiner Einwohner im Lichte meines höheren Selbst? Oder sollte ich darüber Bücher schreiben? Oder besser noch Auratherapien für Häuser samt klärender Massagen anbieten: Shiatsu für Fassaden und tragende Elemente. Als Stifter einer solchen Quacksalberei könnte ich einmal mehr die Hopis ausgraben: Pueblobau und das Seelenheil moderner Häuser. Womöglich bekäme ich eine Professur, was mir freilich nicht so recht wäre. Ein österreichischer Professor honoris causa stände mir doch besser zu Gesicht. Ach ja, mein Gegenüber ... mittlerweile ist es in die Nacht gerückt. Müdes Licht bei den Unscheinbaren. Es wird ihr Hausgeist sein, der den Dimmer so weit nach unten regelte. Geister leben auf Sparflamme, weswegen sie auch im alltäglichen Leben so wenig ausrichten. Schon wieder schweife ich ab ... es gibt nichts dort drüben, das mir heute Weile böte ... dafür stiftet es meine Gedanken zum kreisen an. Also lösche ich mein Licht, blicke hinüber in die andere Seite und lasse meine Gedanken Luftschlösser gebären. Es werden keine schweren Geburten sein ... 27.
Juni 2001 Auf der anderen Seite ist es rasch dunkel geworden. Zuvor saßen sie noch zu viert am Tisch im Studentenzimmer. Zwei Paare. Sie hielten Karten in den Händen und spielten. Ein Spiel mit Aufgaben, denn mal stand der eine, mal die andere im Zimmer, machte Faxen, die anderen sahen ihnen zu, kicherten, lachten. Dann war das Zimmer leer. Das Spielbrett noch am Tisch, eine Bierflasche daneben. Eine gute Weile später, sah ich sie zurück ins Zimmer kommen, aufräumen, kurz beratschlagen. Beim nächsten Blick hinüber, war das Zimmer bereits dunkel. Ausgehen, Fortgehen, Schlafen gehen, miteinander Schlafen gehen, alleine Schlafen gehen ... Egal welche Aufgabe das Spiel ihnen abgefordert haben mag und der sie nun im Dunklen nachkommen, sie werden ihre schwitzende Freude daran haben. Endlich erste Regentropfen. Das Gewitter scheint sich leise abzuregnen. Auch so lassen sich Konflikte lösen. Es ist still geworden in der Gasse, unheimlich still. Ich höre das Säuseln des Windes, das Flüstern des Regens, das Summen meines Rechners und das Klappern meiner Tastatur ... 28.
Juni 2001 Was ist vergossene Purpurmilch? Ein Löffel voll Blaubeeren, eine Erdbeere auf ein Glas Milch, mit dem Mixer verrühren, dann ausgießen. Oder eine Purpurschnecke über einem Glas Milch zerdrücken, umrühren und ausgießen. Oder Sommerregenwolken über dem First, darüber Abendrot, zurücklehnen und schauen. Sobald es regnet, fließt die Purpurmilch in die Gasse, allerdings darf der Regen dabei nur sprühen. In letzter Zeit blicke ich lieber in den Himmel als auf mein Gegenüber. Mich verdrießt dieses Nekrodomium. Drüben beim Schnauzer wackelt ab und an ein blonder Schopf. Fernsehhaltung, Fernsehgewackel. Arme verschränkt, Arme geöffnet. Es könnte seine Frau sein, dort im Dämmerlicht. Es könnte auch ein Gast sein oder eine Wildfremde, die um die Verlassenheit der Wohnungen weiß, sich zwischen die toten Seelen setzt, sich vor dem Spuk der Entleibten nicht fürchtet, sich dafür die Gruft zur Wohnstatt macht. Auch in Kairo leben Menschen auf den Friedhöfen, ohne um ihr Seelenheil zu fürchten. Warum also nicht in diesem Nekrodomium auf der anderen Seite? Der Blondschopf geht zur Türe, hager ist sie, kommt wieder zurück, spricht in den Fernseher, nippt an einem Branntweinglas, dass ihr aus der Ecke gereicht wird ... Nein, dort drüben lebt noch keine Seele zwischen den Entseelten, dazu sind Fenster und Türen zu fest verschlossen. Der Blondschopf greift sich ins Haar, hebt sich den Skalp ab, blassgrün glimmendes Gewürm windet sich ineinander verschlungen in ihrer Schädelhöhlung ... Zur gleichen Zeit erfahre ich über Chat von einem berauschenden Abendrot in Rheine. 29.
Juni 2001 Der Schatten, zuvor noch an der Unterkante des Wolfsrachen, ist über den geschriebenen Absatz um eine Ziegelbreite hinab gewandert und auf das Zierband gefallen, für einen Augenblick, nur diese Bandbreite während, staute er. Und schon fließt er weiter hinab, sichtbar und ganz mählich schneller werdend, bis er schließlich in die Gasse fällt und das Licht auf meine Seite drückt und es, ebenso mählich wieder langsamer werdend, aus der Gasse hebt. Eine Frauenhand wirft den blauen Vorhang in der studentischen Schlafkammer zurück. Zuvor sah ich sie, während ich Tee aufgoß, aus dem Küchenfenster. Sah wie sie sich im Schlafhemd an den bebrillten Studenten kuschelte, etwas ungelenk, beinahe kindlich und doch erwachsen im schüchtern stürmischen Verlangen. 30.
Juni 2001 Tiefer im Studentenzimmer Geplauder bei Wein und Bier und Kerzenschein. Mildes Gebalze und verhaltenes Geglucke. Die Verteilung der Geschlechter scheint nicht ausgewogen. Ein Kind ist dazwischen, familiäre Zurückhaltung. Die Frauen wissen noch nicht, welcher Nebenbuhlerin sie die Augen auskratzen sollten, und die Männer sind sich noch unsicher, bei welchem Weib sie sicher sind. Man redet über die Eltern, das Studium, verkorkste Liebschaften und Träume, gibt sich erfahren und fantasiert auf eine erzählte Geschichte eine noch phantastischere. Das gleiche Bild im selben Zimmer wie schon vor Monaten beschrieben, nur mit anderer Besetzung. Das Leben ist schon ein hübsches Hamsterrad. Über diese kurze Betrachtung hinweg gingen rund um die Studentenstube die Lichter aus. Nun, Schlaglicht auf das pulsierende Leben. Auch wenn es nur ein lauer Puls ist, ist es bereits tausend Mal aufregender, als die letzte erinnerte Zeit. Und doch, es reizt mich nicht, mich weiterhin vorzubeugen, um langweilige Klone mit vor der Brust verschränkten Armen zu sehen. Zuzusehen, wie sie in Abwehrhaltung über ihre banale Aufzucht und die üblichen Neurosen der Adoleszenz parlieren. Ich bleibe lieber zurückgelehnt und blicke geradeaus. Schön wie die andere Seite im geraden Blick in die Dunkelheit dieser unruhigen Nacht rückt. Schön wie das Neon sich verliert. Schön wie es mit seinem Schein verdunkelt, was es erhellt. Schön diese Nacht, so widersprüchlich, und so zutiefst in ihrer Widersprüchlichkeit verstanden ... lausche dem Ungeschriebenen, lausche dem Klang der wortlosen Worte ...lausche dem Koan deines Alltages ...
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