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Juli 2001 2.
Juli 2001 Nein, die Veränderungen vollziehen sich nicht auf der anderen Seite, es sind nicht die kleinen Umstellungen und beachtenswerten Neuerungen, die etwas verändern. Nein, die Wandlung geschieht auf meiner Seite, es ist mein ermüdeter Blick, der den leisen Bewegungen dort drüben keine Beachtung mehr schenkt, ihnen keine Tiefe mehr leiht und sie so als oberflächliche Geschehnisse belässt, die sie auch durchaus sind und jedem anderen Auge auch so erscheinen. Ja, es ist allein mein Blick, der dieses Experiment trägt, er ist seine einzige Grundlage, er ist der Gegenstand der Beobachtung und der Beobachter zugleich. Auf den Tag zehn Monate musste ich hinüberblicken, um dies in dieser Deutlichkeit wahrzunehmen. Ein gelindes Ahnen darüber wandelte mich schon an, hie und da. Doch es war nie mehr als ein Angang. Angehen wollte ich es mich bislang nicht lassen. Inzwischen muss ich kaum mehr hinüberblicken, um das Bild meines Gegenübers zu malen. Die Farben sind längst gemischt, bereitgestellt, um die Leinwand gruppiert. Ich muss nur noch die Pinsel hineintauchen und mit eingeübten Strich das Bild malen, das ich mit mir trage. Es sind blinde Bilder, die so entstehen. Also werde ich den Bogen von heute zerreißen. Ein zerrissener Bogen ist ein unbeschriebener Bogen. Ich habe nichts geschrieben. Und Sie haben nichts gelesen. Mittlerweile sind rings um das Studentenzimmer die Lichter ausgegangen. Erst bei den Unscheinbaren, dann beim Leblosen, zuletzt beim Schnauzer. Die Rote hat am späten Nachmittag gelüftet. Über den Sommer genügt ihr als Licht allein die Sonne. Beim Studenten ist noch Licht. Das Zimmer ist leer und blitzblank aufgeräumt. Wohl dem Kerl, um den die Mädchen werben. 3.
Juli 2001 Ja, rot ... Heute morgen sah ich die Rote aus dem Nebenhaus eilen. Sie lief mir beinahe vor die Füße. Noch ehe ich mir ihrer bewusst war, war sie schon ohne Gruß an mir vorüber. Sie sah wie immer gehetzt aus und trippelte mit kurzem hektischen Schritt über die Strasse auf ihren Eingang zu. Es ist das Geld aus den Mietzinsen, das sie so hetzt. Sie lässt es sich in Groschen geben, so hat sie mehr Geld. Es wird ihr in Säckchen vor die Wohnungstüre gestellt, mit bunten Zettelchen daran, damit sie weiß, wer welches Säckchen gab. Die Münzen schüttet sie auf ihren Küchentisch und zählt sie in die Säckchen zurück. Obwohl sie darin sehr geübt ist, verzählt sie sich gelegentlich. Und einmal verzählt, zählt sie ein Säckchen anstatt zweimal gleich dreimal nach, bis die Summe stimmt. Erst dann ist sie sich gewiss, dass ihr gegeben wurde, was sie fordert. Zu Ende gezählt, schmilzt sie die Münzen zu einem Klumpen und bringt ihn zur Bank. Der Vorteil solchen Tun, das Geld klimpert nicht verdächtig beim Transport und lässt sich in einem Stück zählen. Mitternacht ist vorüber, die Lichter auf der anderen Seite sind erlöscht. Ruth und ich sitzen vor den Bildschirmen. Unsere beiden Köpfe spiegeln sich in der nachtblauen Scheibe. Von drüben aus betrachtet, mag man sich über unsere Sitzungen an den Rechnern gleichermaßen seltsame Gedanken machen. 4.
Juli 2001 Als ich aus der Haustüre trat, wurde für einen Moment das
Gegenüber meines Gegenübers sichtbar. Ein weißer Zettel hing an der Eingangstüre
auf der anderen Seite. Die Nachbarn vom ihm gegenüberliegenden Haus in
der nächsten Straße baten darauf um Verständnis für die Belästigung. Die
Balkone dort würden sandgestrahlt. Nun weiß ich, dass es hinter meinem
Gegenüber so aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Ein Hinterhof,
wie unzählige andere auch. Grau, mit dunklen Balkonen aus gebogenem Eisen.
Und so habe ich wieder einmal ohne einen Blick gesehen, was ich sehen
wollte. Und ich weiß, für heute wird man drüben die Fenster zur anderen
Seite ebenso geschlossen halten, wie die Fenster zur Gasse. Und zur Nacht
wird die Luft in den Wohnungen ebenso muffig sein, wie die Gemüter ihrer
Bewohner. 5. Juli 2001 Ich schaue hinüber auf mein schlafendes Gegenüber, sehe die
Rote in ihrem Fenster verschlafen einen Kaffee trinken und dazu ihre Morgenzigarre
rauchen, die sie sich in nach Clintons Art befeuchtete. Die Asche schnippt
sie auf die schlafenden Tauben unter sich über dem Schmuckfenster des
Studenten. Ein leichter Schlag an meiner Haustüre. Der Zeitungsträger,
hat die Zeitung auf meinen Fußabstreifer geworfen. Jetzt steht er in der
Gasse und blickt mit glühenden Augen zur Roten hinauf. Sie feuchtet ihm
eine Orientzigarette an, zündet sie an und wirft sie ihm hinunter. Ein schlechter Traum, der mich da vor meinem Computer einholte.
Gut, dass ich ihn noch im halbwachen Zustand träumte, im Bett hätte er
mich nur geplagt, geweckt und auf die Toilette gehetzt. Hetz und Hatz,
das ist der Roten ihr Metier und nicht das meine. Sechzehn Stunden saß
ich dagegen mit Peer vor meinen Computern, wir schoben Daten hin und her,
partitionierten und programmierten und ließen uns von den Tücken Gatesscher
(das Rechtschreibprogramm schlägt bei diesem Wort nicht an!) Unvollkommenheit
nicht aus der Ruhe bringen. Computer mögen keine Hast. Nun ist die Kiste
aufgeräumt und ich freue mich über den schönsten Rechner der Welt. Wenig sah ich im Banne des Rechners. Derweil strich die Sonne
über mein Haus, fiel in die Nacht und die andere Seite war meist ferne
Kulisse. Abends, als die Lichter angingen, haben wir über das Gegenüber
geplaudert, über mein Experiment und über das was man sieht und nicht
sieht. Nein, ich widerspreche mir, trotz eifriger Computerei habe ich
viel gesehen. Nun ist der Traum der mich anwandelte vorüber, die Nacht
wird heller, und ich ende, ehe der Tag beginnt. 6.
Juli 2001 Behutsam werden die Töchter des Schnauzers an die odeurphile Leidenschaft herangeführt. Kopf an Kopf sitzen die beiden Schwestern auf der Couch in schwarzen ärmellosen Leibchen. Ihre Arme kleben aneinander, ihre schweißnassen Rücken durchtränken die Polsterung. Gleich Ballerinen haben beide die Haare zu einem Knoten straff in den Nacken gezogen. Der Schweiß perlt ihnen von der Stirn über die Nase ab. Unbeweglich wie Püppchen sitzen sie und starren auf den Bildschirm. Sie sehen die Sendung für Magersüchtige, Big Diet. Kaum ist die Sendung vorbei, gehen sie gemeinsam zum Erbrechen. Wahre Schwesternliebe. Die Farben der Stunde: Graublau der Himmel, grauschwarz die Schatten mit einem Stich ins Braune, rotgelb die Fassade. Keine Farben für eine beginnende Sommernacht. Mücken umschwärmen das Neon. Ich werden meine rote Jalousie als Mückenschutz vor das geöffnete Fenster senken, ehe ich das Licht in meinem Büro einschalte.
Kühle Luft weht durch mein Fenster. Mit dem Gewitter fiel das Thermometer um zehn Grad. Der bedeckte Himmel spiegelt die nächtliche Stadt in Pastell. Blaugrau und gelbrot das Licht. Fern, rauschiges Geblöke der Männer und exaltiertes Gekicher des weiblichen Tross. Die Geräusche fallen in die Gasse und entfernen sich wieder, gottlob. Sie hätten dich sonst wieder beunruhigt. Die latente Aggressivität in den Stimmen der Männer, die provozierenden Schreie der Frauen sind wie Hiebe in deinen Magen. Man weiß nie, was ist trunkenes Spiel und was blutiger Ernst. Eines Nachts verprügelten zwei Burschen einen anderen. Das Opfer schrie Überfall und Polizei. Wir rissen das Fenster auf. Du brülltest hinunter. Deine laute Stimme vertrieb die Angreifer, sie warteten an der Ecke. Ihr Opfer wankte ihnen hinterher. Umsonst die Aufregung. Was bedeutet ein abgeschlagener Arm auf einem zugeklappten Klavier vor abgelegter Reizwäsche in einem beleuchteten Raum umgeben von nachtdunklen Wohnungen? Ein schlechter Traum, eine überhitzte Fantasie, ein Verbrechen, ein miserabler Pianist, eine frigide Frau, ein schlechter Liebhaber, eine Lustmörderin, ein heimwerkender Ehemann ...? Ich tippe auf einen hungrigen Sohn. Söhne fressen einem nicht nur die Haare vom Kopf. Ich sollte darauf achten, ob es bei den Namenlosen Kinder gibt. 8.
Juli 2001 Es ist Sonntag und mein Gegenüber liegt in gewohnter sonntäglicher Abweisung vor mir. Die Taube, die sich zuvor vor dem Nistplatz unter der Traufe am warmen Blech wärmte, ist davongeflogen. Schwere Wolken ziehen auf, für ein Gewitter zu wenig, doch flauschig und voller Schatten genug, um Wolkenbilder zu schauen. 9.
Juli 2001 Durch mein geöffnetes Fenster dringt geschäftiges Geräusch. Sägen, Schmirgeln und harter Wasserstrahl gegen Blech und Plane wechseln einander ab. Lifting im Hinterhof meines Gegenübers. Per annonciertem Sandstrahl wird dort dem Verfall Einhalt geboten. Die Rote wird diesem Treiben aufmerksam zusehen und ihrem Haus alsbald eine ähnliche Behandlung verordnen. – Menschen leben in Häusern, Häuser leben von Menschen. Während die einen altern, verjüngen sie die anderen. In der Schlafkammer der entseelten Mutter stehen zwei Weihnachtskaktusse im Fenster. Niederes mageres Grün. Es sind Stecklinge, Abkömmlinge des großen längst kompostierten Kaktusses. Im Fenster des Schnauzers steht das Schellenblümchen in voller Pracht, eine gelbe Pyramide, und doch wirkt sie schon müde und ausgelaugt. Der sterbende Aaron daneben ... Blühen verzehrt. - Verzehrende Blüte ... ein möglicher Titel für einen rabenschwarzen Liebesfilm. 10.
Juli 2001 So bliebe mir noch der Schnauzer, doch er flegelt so unzivilisiert im roten Leibchen vor seinem Fernseher, dass ich den Blick in seine Richtung meide. Es gäbe auch etwas über die Belebung des Schneiderladens zu berichten, ein junger Mann schraubte im Hintergrund an der verbliebenen Kulisse, doch auch hierzu fallen mir die Gedanken schwer. Beim Zigarettenholen, seit zwei Wochen rauche ich wieder mäßig, traf ich vor dem Laden den Historiker. Er wohnt zwei Häuser weiter zur Rechten meines Gegenübers. Er wehrt sich gerade gegen eine Kündigung seiner Wohnung wegen Eigenbedarfs. Als ältester Mieter im Haus bringt er dem Vermieter trotz regelmäßiger Steigerungen zu wenig Zins. Am Rückweg traf ich die bunte Heilpraktikerin aus seinem Haus und sprach mit ihr darüber. Zwei, drei Sätze und dann flüsterte sie mir ihre Mordphantasien ins Ohr. Als Vermieter, zumal als obszöner Vermieter, lebt man offensichtlich gefährlich. Ich sollte doch mal mit der Roten reden, inwieweit sie sich um ihr Leben fürchtet. Womöglich bewegt sie sich deshalb so hektisch, um kein billiges Ziel für Auftragsmörder abzugeben ... 11.
Juli 2001 Dagegen das andere Licht in meinem Blick, das Neon zu meiner Rechten. Es ist die Umkehrung des Gesagten. Es ist nicht weiß, es ist nicht blau, es ist nicht rot, es ist nicht grün, es scheint von allem und von keinem etwas. Und doch zwingt es das Auge, fordert einen geradezu, im Changierenden das Beständige zu suchen, jenes reine Weiß, das in ihm leuchtet und sich doch im Blick nicht hält. Und doch ist es da, wird gesehen, wo es nicht ist. Es verbirgt sich nicht und bleibt doch unschuldig, unentdeckt. Nie, niemals ist es weiß, und doch ist es reiner, weißer als jedes je gesehene Weiß. An einem solchen Weiß wird die Liebe nie zerbrechen, sondern sich stets aufs neue suchen. Mittlerweile ist es dunkel geworden auf der anderen Seite. Der fernsehsüchtige Professor hat sich zu seinem fernsehsüchtigen Weib gelegt. Sie haben vergessen, den Vorhang zu schließen, das Neon scheint ihnen milde ins Gesicht, sie haben sich geliebt und sind in ihrer Umarmung eingeschlafen. Das noch nicht fernsehende Kind schläft neben ihnen in seiner Wiege. 12.
Juli 2001 Mein Gegenüber in mir? Ist alle Beschreibung stets Selbstbeschreibung? Solipsisten meinen, dass dies so wäre. Ich mag mich mit diesem Gedanken nicht anfreunden. Sonst müsste ich wohl sterben, wenn jemand stirbt, der mich einst sah. Nein, es ist nicht in mir, mein Gegenüber. Es ist mir ein Stein des Anstoßes, ein Mandala, in dem ich mich und meine Gedanken finde; es ist mir ein Spiegel, den ich mir gerne vorhalte. Es ist ein Blickwinkel in der Steinwüste Stadt, den ich nicht fliehe, an dem ich die Augen nicht nach innen kehre, sondern hinsehe. Mit senkrechtem Strich fällt Regen aus der Nacht. Das Neon beglänzt die Tropfen, verzaubert sie zu feinen Weben aus Sternenstaub. Zart klingend zerspringen sie auf dem staubigen Pflaster. Kühle Luft weht mich an. Ist es der Flügelschlag der Engel, oder sind es die Ahnen, die ein Opfer von mir fordern? Ich werde beiden eine Räucherkerze anstecken. 13.
Juli 2001 Klare Konturen in der ausgewaschenen Luft, klare Farben, klares Licht. Oben grau und blau, dann grün, braun, schwarz, dazwischen als grüngelber Würfel das Aquariumzimmer, tote Fenster bei der Roten und überhaupt ... Nun, da die Mutter nicht mehr ist, hat sie den Vorhangspalt in ihrer Kammer geschlossen. Es sitzt niemand mehr im Sessel im dunklen Zimmer und schaut hinüber auf meine Seite ... Gestern besuchte mich Reich-Ranicki. Er legte seine fleischige Hand großväterlich auf meine Schulter, sah kurz zu, wie sich die Zeilen in den Bildschirm quälten, sah hinüber aufs Gegenüber und meinte nur, das ist also der Kasten. Er nuschelte und lispelte erst, als er hervorstieß, das ist ja alles Quatsch, wo ist sie nun, die Etage der Roten. Zur gleichen Weile wischte ihr roter Schopf durchs Mutterzimmer und er verschwand aus meinem Rücken, ich hörte die Türe schlagen und sah ihn zwei Zeilen später im Fenster gegenüber. Die Rote schmiegte sich an ihn, strich ihm über die Glatze, ihm wäre es lieber gewesen, sie streichelte ihm die rasiermessergeglättete Wange, und so drückte er sie ein wenig von sich, indem er ihr linkes Brüstchen knetete. Dabei sah er hinüber zu mir und grinste dazu höhnisch. Ich ließ meine rote Jalousie dazwischen fallen und überlegte noch lange, was sein Grinsen bedeutete. Wahrscheinlich sah er, was ihm gegenüber stand, eine hässliche Fassade, ein Haus aus den sechziger Jahren mit Staatszuschüssen errichtet, billig, einfach, hässlich wie die Aufbauten eines Bananenfrachters, nun war es an mir höhnisch zu grinsen, denn die Miete ist unverschämt niedrig für diese Stadt, würde ich hier nicht auf der Brücke des Frachters wohnen, wohnte ich unter ihnen oder fern der Stadt in einem Dorf ohne Gegenüber, mit freier Sicht in die Landschaft bis hinüber zum Wald und weit darüber hinaus. Jedenfalls hat sich Reich-Ranicki nicht in den angebotenen freien Muttersessel mir gegenüber gesetzt. 14.
Juli 2001 Beim Schnauzer ein neues Mädchengesicht auf der Couch, eine Kinderübernachtung. Man sieht fern und plaudert über das Gesehene. Das ist das eine erhellte Viereck. Das andere unterm Dach, die mandarinfarbene Kammer des Leblosen, blauer Kelch im Fenster, grünes Palmenschilf in der Ecke neben der Gaube. Ansonsten Lichtlosigkeit bis auf das Pinkellicht bei der Fernsehsüchtigen. Als ich zuvor das Haus verließ, sah ich die rote Katze im Parterre im Fenster sitzen. Ich wechselte die Straße und sie verschwand. Das Spiel mit ihr, das mich lockte, blieb mir versagt. Es ist die einzige Katze, die auf der anderen Seite lebt. Nur für welches Tierchen brennt das Pinkellicht bei der Fernsehsüchtigen? Es werden wohl die Kakerlaken sein, die sie damit unter den Schränken hält. Die Gemäuer im Viertel sind allesamt feucht, das Wasser vom nahen Fluss und von den Stadtbächen drückt auf die Fundamente. Einst floss ein Bach vor meinem Haus. Er ist indes längst zugeschüttet. Mit umgeschnallten Kunstglied kommt die Fernsehsüchtige nach Hause, im Arm ihren Professor in schriller Tuntenklamotte. Sie haben sich also doch locken lassen und unter die schrägen Vögel des CSD gemischt. Und so vergnügten sie sich einen halben Tag lang auf der anderen Seite. Ob das reicht, um dabei zu sein? Somit war das Pinkellicht ihr Heimkehrlicht. Sie hätten statt dessen besser eine rote Laterne ins Fenster gehängt. 15.
Juli 2001 Nur frisch Zugezogene verletzen diese Gepflogenheit. Es ist ein junges Paar, das den Laden der Schneiderin bezieht. Sie sind am Einräumen und Bohren. Ins Schaufenster haben sie als Solitär einen Kerzenständer gerückt. Ein hässliches, ein unmögliches Trumm, astdick mit einer roten Tafelkerze vor kreischrotem Hintergrund, ein magisches Accessoire. Es soll mögliche Kunden abschrecken. Der Bann wird ebenso wirken, wie der Bann des Hauses, auch sie, noch voller Tatendrang, werden langsamer und langsamer werden und irgendwann unbeweglich und glücklich sein. Man wird sie alsdann ausziehen, ihnen Leibchen und Jeans abstreifen, ihnen nette Kleidchen überstreifen und sie anheben und als Kleiderpuppen ins Schaufenster zu beiden Seiten des Kerzenständers stellen. Die Ladentüre wird unverschlossen bleiben, doch niemand wird sie öffnen. Sie werden einstauben und vergilben, und irgendwann wird der Laden neu vermietet sein, und der neue Ladner wird das alte Gerümpel zum Sperrmüll fahren 16.
Juli 2001 Der Leblose beleuchtet seine kahlen Räume weiß, rot, grün, dazu dreht er sich Spaghetti auf die Gabel und wandert mit dem Bissen von einem Raum zum anderen, in jedem Raum steht eine anderes Gericht, im weißen Raum Sepianudeln mit Sahnesauce und Sommertrüffel, in der roten Kammer gelbe Eierspaghetti mit Pesto, im grünen Paradezimmer Paprika gefärbte Nudeln und geschmelzte Paradeiser. Der Schnauzer liegt im trüben Licht auf seiner Couch, einen Finger in der Nase, eine Hand im Hosenbund auf nacktem Bauch, schlummert er vor sich hin, er spürt meinen Blick, nimmt den Finger aus der Nase und schlurft zum Fenster, senkt das Rollo zur Linken, von rechts sieht im niemand mehr zu. Der Student verbirgt sich hinter blankem Tuch, zuvor aß er eine Ladung Sandwichs mit Blick in elektrische Ferne, der Namenlose bügelt auf der Klavierabdeckung, die Fernsehsüchtige schläft vor dem Geflimmer, der Katzenmensch Parterre wühlt im Papier, die Rote ... Die Rote spart Strom und Heizung und schont ihre Wohnung durch Unbeweglichkeit, schließlich gilt es, das Erbe zu erhalten. Sommernachtsträume zum Weltuntergang. Das Neon bescheint dazu lotrechte Regenschnüre. Wer sich lieben will, muss einheizen. Wer gestorben ist, braucht keine Kühlung. Wer am Leben bleiben will, sollte sich heftig bewegen. 17.
Juli 2001 Eine klare Nacht löst einen grauen Tag ab. Kein Abendrot Schlechtwetterbot' schmälert das Versprechen eines sonnigen Morgens. Die Trübnis des Tages abwendend sitzt, der Schnauzer in weißem Licht. Das helle Geviert seines Fenster überstrahlt das Neon davor, lockt die Eintagsfliegen von ihm zu sich. Darüber in spärlichem Mandarin, die Doppelgaube der Unscheinbaren, Höhlenlicht für Schattenwesen. Sobald die Nacht den westlichen Horizont erreicht, werden sie auch dieses Licht löschen, ihre Leiber betten und ihre Seelen zum Schornstein hinaus ziehen lassen. Sie werden im Sternenlicht funkeln und von Sphärenmusik getragen gen Morgen als Sternenstaub niederregnen, und gar manche Seele mag dabei verglühen, indes die ihre nicht, schließlich wohnt ein Engelchen mit ihnen. 18.
Juli 2001 Der Regen greift mittlerweile auch mein Gegenüber an. Der Leblose leert Schüsseln mit Regenwasser in die Traufe. Der Regen fällt ihm durchs Dach in aufgestellte Gefäße. Ihm bleiben so nur noch wenige Durchgänge in seinem Zimmer. Entsprechend choreographiert wirken seine Bewegungen von meiner Seite aus. Beim Geschlechtsverkehr mit seinem leblosen Mauerblümchen balanciert er nun ein Einmachglas auf seinem Gesäß. Er mag es nicht, wenn ihm der Regen die Pofalte hinunterrinnt und abtropfende Nässe seine Hoden kühlt. Das Mauerblümchen erleichtert ihm den Balanceakt durch frigide Bewegungslosigkeit. Er kennt es nicht anders und findet es schön. Die gelben Ziegel zeigen weiße Mauerblüte und bröseln leise vor sich hin. Waren es erst kleine Splitter, die sich lösten, brechen nun faustgroße Stücke aus der Mauer. Doch die sich auftuenden Löcher schließen sich schnell. Feuchtes Mauerwerk dringt nach und füllt die Leerräume. Die zunehmende Feuchtigkeit bewirkt, dass sich die Hauswände allmählich nach außen wölben. Irgendwann wird die Studentenetage wegbrechen und die Rote ihrem Statut gemäß in die Belletage sinken. Und irgendwann werden die Fundamente auf der glitschigen Lösschicht des Untergrundes abschmieren. Schon jetzt spreizen sie nach außen wie die X-Füße pubertierender Mädchen. Dann wird die Etage der Roten um ein weiteres Stockwerk zu Boden sinken. Mein Gegenüber wird darauf ein Bungalow sein und meine Sicht auf einen Hinterhof mit sandgestrahlten Balkonen treffen. Auf der anderen Seite schläft man diesen Ereignissen entgegen. Nur der Schnauzer macht sich darüber Gedanken, wie er den vor seiner Frau verheimlichten Durchbruch ins Mutterzimmer der Roten auch unter veränderten Gegebenheiten noch nutzen kann. Er blättert in einem Katalog mit Latexbettwäsche und wählt unter farbigen wasserdichten Bettüchern. Er prüft die Auswahl, indem er sie mit verschiedenen Bieren begießt und das Abrinnverhalten beobachtet. Damit ich ihn bei seiner Untersuchung nicht durch interessierte Blicke störe, hat er sein Licht gedimmt und den Rolladen zu meiner Seite gesenkt. Derweil prophezeien die Wetterfrösche schönes Wetter wie Priester das ewige Leben. Wer das eine oder andere erleben will, muss jedoch erst einmal unter die Erde. 19.
Juli 2001 Jetzt sitzt der Student am Tisch, über Bücher und Papiere gebeugt und spielt die Rolle, die ihm seine Eltern zudachten. Bleibt er dabei, wird auch die Lilie in seinem Fenster wieder blühen. Zuvor saß er in der Ecke neben dem Fenster und nähte an seiner Jeans. Als er aufstand, um zum Telefon zu eilen, sah ich ihn in blau-weiß-rot gestreifter Boxershort und schwarzen Socken. Ein Mann in Unterhose, zumal Boxershort, und Socken ist ebenso ein Liebestöter wie ein Liebestöter. Später lümmelte er sich wieder auf seiner Couch und aß mit seinem Fernseher. Über diese wenigen Zeilen sind ringsum die Lichter ausgegangen und auch der Student räumt sein Studium in die Ordner und Hefter zurück. Auf welches Signal reagieren man dort drüben auf der anderen Seite? Sind es Ausgasungen des feuchten Gemäuers? Oder ist es das einschläfernde fast unhörbare Getrappel der Kakerlaken, die so die schützende Dunkelheit herbeibeschwören? Oder ist es schlicht das Wetter, dass sie schon eine Stunde vor Mitternacht in die Betten treibt? Es wird wohl das Wetter sein; es macht müde, träge und süchtig nach bräsiger Gemütlichkeit. 20.
Juli 2001 Zweimal sah ich heute die Rote, oder besser gesagt ihren dürren Arm, als sie hinter der Gardine versteckt die Fenster schloss. Womöglich hält sie es wie die Dietrich und hat beschlossen, sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Nur wem mag sie so als ewig junge Unverblühte in Erinnerung bleiben. Die Stadt, die Nachbarschaft ist ein unbarmherziges Tier. Es vergisst, anstatt sich zu erinnern. Aus den Augen, aus dem Sinn, da was im Auge ist, ohnehin so sinnlos scheint. Wer redet heute noch vom Schuster, von der Müslihexe, vom Winker an der Ecke, vom Rolli und was für Typen sonst durch die Gasse strichen. Vorbei, vorbeigegangen, aus dem Sinn gegangen. Die Oma von nebenan habe ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Im Frühjahr noch trug ich ihr die Tasche. Und jetzt? Jetzt vergesse ich, wenn ich mit diesem oder jenen in der Straße spreche, nach ihr zu fragen. Also wird man auch nicht nach der Roten fragen, sich allenfalls nur wundern, wenn sie nach Jahren aus ihrem Haus getragen wird, das es sie die ganze Zeit, da man sie nicht mehr sah, noch gab. 21.
Juli 2001 Ausgang der Fernsehsüchtigen, das Kind wird der Verwandtschaft vorgezeigt. Ein guter Wurf, ein Nachmittag ohne Bildschirm. Man wird Videos vom Säugling drehen, Familie inszenieren, um sich später an diesen Tag vorm Fernseher zu erinnern. Das versäumte Programm wird derweil daheim vom Rekorder aufgezeichnet, und parallel zum trauten Filmchen abgespielt. So versäumt man nichts. Vielleicht dreht die Rote ganz im Stillen das Video ihrer eigenen Beerdigung, um sich noch zu Lebzeiten zu beweinen. Sei nicht so düster, schau über den First, sieh wie aus dem Grau der letzten Tag ein Sommertag schlüpft. Sieh, wie die Sonne dein Gegenüber bescheint, verspielte Schatten in die Fassade zeichnet, das Dach im zarten Grün erscheinen lässt, wie die warme Luft durch das geöffnete Oberlicht der Unscheinbaren sinkt. Sieh die letzte Blüte des Schellenblume im Fenster des Schnauzers, sieh die Knospen, die zu neuer Blüte treiben, und sieh nicht, dass die Sonne bereits wieder im Mai steht, dass die Schatten schräger werden und Licht und Luft dich an abgemähte Felder denken lassen. Sommerfreude: Erntezeit. Zeit den Mohn von den Feldern zu pflücken und ins Fenster zu rücken. Erntezeit, Trauerzeit. 22.
Juli 2001 Das Mauerblümchen sprießt. Die Unscheinbaren kreiseln durchs verschattete Zimmer. Jennifer Lopez oder sonst wer steht unterm Gummibaum im Zimmer des Schnauzers. Er spritzt die Nackte mit einem Gartenschlauch ab. Niemand sieht es, es ist Sonntag, und die Blicke bleiben nach innen gekehrt. Das Spiel wird sich, dieses Geheimnis sei hiermit gelüftet, nächsten Sonntag wiederholen, so wie es sich alle Sonntage wiederholte und von mir übersehen wurde. Die Frau des Schnauzers stößt derweil spitze Schreie aus, es ist nicht auszumachen ob aus Lust oder Eifersucht. Sie windet ihrem Mann den Schlauch aus der Hand, er hält dagegen, und so besprühen sie sich gegenseitig, derweil fröstelt die nackte, wasserbeperlte Frau Lopez unterm Gummibaum. Alle drei werden sich alsbald auf das heiße Blechdach legen und von der Sonne trocknen lassen. Da die Sonne schon die Kehrseite des Daches zu mir bescheint, bleibt mir wie jeden Sonntag verborgen, was die drei verbindet. Ich sollte Frau Lopez mal Sonntag morgens anrufen und sie fragen, was sie zum Nachmittag auf die andere Seite treibt. Wenn die Sinne keine äußeren Reize mehr treffen, provozieren sie aus sich heraus Phantomreize. Ein Phänomen, das wir von Experimenten in abgedunkelten Salzwassertanks als auch von der Isolationsfolter her kennen. 23.
Juli 2001 Sieben Fenster hat die Etage der Roten. Platz genug, um sogar mit Ausrufezeichen EINSAM! mit roter Kreide hineinzuschreiben. In jedes Fenster ein Buchstabe, das Ausrufezeichen stände im zweiten Fenster des verlassenen Mutterzimmers. Ein vielsagendes Bild. Obwohl Einsamkeit sollte nicht mit roter Kreide geschrieben werden. Graue Farbe wäre angebrachter. Oder welche Farbe sonst hat Einsamkeit? Herbstgelb vielleicht? Möglich, aber das wäre eher die Farbe des Alleinseins, so wie Weiß, die Farbe kultivierter Einsamkeit sein mag. Nein, sie wird das Wort nicht in Rot und nicht Grau in die Fenster pinseln. Erstens müsste sie es spiegelverkehrt schreiben, auf dass es gut lesbar wäre. Zweitens würde sie es nicht dulden, wenn ihr der Schriftzug nicht akkurat gelänge. Drittens besitzt sie weder Schlemmkreide noch Pinsel. Und überhaupt wäre es eine Peinlichkeit, zuzugeben, das man einsam ist. – Oder ist Ihnen jemals in der Stadt ein Mensch begegnet, der zu ihnen sagte, ich bin einsam, bitte sprechen Sie mit mir? Also mir wäre es schrecklich peinlich, in solcher Art angesprochen zu werden. 24.
Juli 2001 Inzwischen waren die Kamerateams der privaten Fernsehgesellschaften angerückt und drehten die Szene, doch sie war ihnen zu wenig entsetzlich und so bauten sie schnell eine Kulisse auf, die meinem Gegenüber glich und beschlossen, sie morgen einstürzen zu lassen und zu filmen und dann hätten sie die Katastrophe komplett, doch in der Zwischenzeit ist der ungarische Autor Miklós Mészöly gestorben, was kein Ereignis für sie ist, doch dafür wurde die rote Katze mit Magenkrämpfen in die Tierklinik gefahren, was eine heißere Geschichte ist, und so werden sie mein Gegenüber morgen nicht ein zweites Mal zusammenfallen lassen und ich kann meine Betrachtungen an der errichteten Doublette fortsetzen. 25.
Juli 2001 Nicht so in meinem Gegenüber. Hier lockt die warme Nacht die Menschen in die Betten. Nicht um sich miteinander zu vermischen, sondern um im müden Schein der Schlafzimmerlampe über die Hitze zu klagen. Ich höre ihr Ächzen über dem Rumoren der Stadt. Ich rieche den Schweiß, der ihre Laken tränkt. Nur ein paar Sonnentage und schon jammern sie sich die Regenmacher herbei, um in die altgewohnte Klage zurückzufallen. Man sollte ihnen doch die Fenster einwerfen, damit sie eine andere als die eigene Luft zum Atmen haben. Doch wäre ihnen dadurch nicht geholfen, sie würden nur ersticken wie gestrandete Wale. Darum Schluss mit der Mär der letzten Monate, hier die ultimative Wahrheit zu meinem Gegenüber, es ist kein Haus, kein Nekrodomium, keine Mutantenfabrik, weder Weltraumschleuse noch Sitz der Weltverschwörung, es ist nur verlorene Zeit, zu Stein gewordene verlorene Zeit, in der sich müde Erinnerungen rekeln.
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Juli 2001 Ein frommes Häuschen mein Gegenüber, auch wenn es mich nicht frommt, das es so leblos ist. Die Ferienzeit, heute begonnen, lässt es noch lebloser wirken. Leblos, lebloser, gegenüber. Hurra, der Leblose zerfleischt die Rote, der Schnauzer fängt ihr Blut in einer Opferschale auf, die Unscheinbaren bohren dazu einmal öffentlich in der Nase, die Fernsehsüchtige nimmt alles auf Video auf, die Namenlosen outen sich darauf als Kakerlakenzüchter und der Dosenöffner der roten Katze pinkelt Parterre zum Fenster hinaus in die Gasse. So lebendig könnte das Leben. Könnte ... kommt wohl von gönnen. 27.
Juli 2001 Jetzt tanzen die Mücken um das Neon. Ich sitze im Dunklen, um nicht zerstochen zu werden. Drüben sitzt man aus dem gleichen Grund hinter verschlossenen Fenstern. Drei sind es, die sich derart verbarrikadieren. Der Schnauzer, der Leblose und die Fernsehsüchtigen. Gemeinsam warten sie darauf, dass die Stunde verstreicht und sie sich zu Bett begeben können. Sie warten unbewegt wie verlassene Katzen hinter der Haustüre auf die Rückkehr ihrer Büchsenöffner. Aus der Gasse dringt Kindergequake durch mein geöffnetes Fenster und verliert sich alsbald in einer Haustüre. Die Schritte und das Geschäker der Kneipengänger löst die kurze Stille ab. Sie werden bis in die tiefe Nacht die Stille immer wieder unterbrechen. Es ist eine warme Nacht, die die Gemüter erhitzt. Irgendwo wird man sich an die Hauswand drücken, aus Lust oder aus Zorn. Wenn ich es nicht höre, werde ich es nicht sehen, und dann wird es für mich nicht geschehen sein. 28.
Juli 2001 So viel Bewegung genügt meinem Gegenüber für einen Tag. Die Rote ist es zufrieden. Das Haus lebt, sie lebt auch. Sie lässt sich in den Muttersessel fallen, schlägt ihren Rock hoch und streichelt sich, ein Stockwerk tiefer tut es ihr die Fernsehsüchtige gleich. Ich sehe beide nicht, darum wird es wohl so sein, wenn ich es mir so denke. Ein schöner warmer Samstag, die Wäsche ist gewaschen, die Kleider sind gewechselt, die Fenster bleiben geschlossen. Gestern bekam Thomas im Wirtshaus an der Ecke ein säuisches Schweineschnitzel für dreißig Mark serviert, er nagelte es unter den Tisch, dort wird es vergammeln und mit seinem Leichengestank weitere Gäste vertreiben. Ein weiterer Grund, die Fenster geschlossen zu halten. Der Verwesungsgeruch des Erbrochenen schlechter Küche rund herum würde einen ansonsten anwehen. 29.
Juli 2001 Die Wirkung dieser kühnen Tat ist fatal. Regengraue Nebelfetzen jagen heulend zum Fenster hinaus, verwirbeln sich über dem Dach zu einer Windhose. Der Sog nimmt zu, reißt die Luft aus den tieferen Etagen. Der mitgezogene Staub verdunkelt die Trombe. Die ersten kleinen Accessoires werden mitgerissen, doch bevor ich die papierenen Bewohner folgen lasse, die Rote, die Fernsehsüchtige, ihr Kleinkind zuerst, nein die rote Katze Parterre noch davor, blicke ich für einen Moment zur Seite, damit sie in Atemnot auf den Fußboden sinken und sich in den Dielen verkrallen können, doch ehe ich sie die Bretter herausreißen lasse und sie in Fehlboden fallen und durch Decken stürzen lasse, blicke ich für einen Moment woanders hin, auf die Fenster, die sich nach innen wölben und mit grellem Ton zerspringen, geschossartiger Splitterregen zersiebt das papierene Fleisch ihrer blutleeren Körper, Schreie, doch ehe ich dem Schreien noch Gegurgel folgen lasse und die Farbe des Blutes blutleerer Körper herbeimische, blicke ich für einen Moment zur Seite, blicke auf meinen Kalender und sehe, es ist Sonntagnachmittag und mein Gegenüber ist sich selbst entrückt, also entrücke ich ihm auch, suche das aufkommende Ungewitter unter Kastanien in einem Biergarten ... 30.
Juli 2001 Ein Zeppelin fliegt lautlos durch die Etage des Leblosen. Rot, weiß, grün, die Bemalung, Fujifilm, der Schriftzug. Er fliegt sehr tief. Für einen Augenblick spiegelt er sich im Paradefenster der Doppelgaube, dann, ich blicke vergeblich in den Himmel über der Gasse, ein, zwei lange Augenblicke verstreichen, sehe ich ihn durch das Zimmer der Unscheinbaren fliegen. Mühelos hat er die Brandmauer durchstrichen. Mühelos vermag er sich durchs Dachgeschoss bewegen. Vorbei. Die Hitze füllt die Gasse bis zur Traufe. Weitere Hitzewellen stürzen vom Dach und verdichten die schon gestaute Luft. Die Fenster sind verschlossen, zugezogene Vorhänge spenden den zerwürfelten Gebeinen Schatten. Sie schwitzen nicht und verlangen daher nach der Kühle der Dunkelheit. Auch ich werfe meine rote Jalousie zwischen das Licht und mich. Roter Schatten spendet mir blutwarme Kühle. 31.
Juli 2001 Ausgeflogen die Unscheinbaren. Gesenkte Jalousien und Rolläden. Der Grusch auf der Fensterbank im linken Fenster zusammengeschoben. Wasserpfeifengeschläuch, Gießglas, Kelch und Holztulpe, dahinter welkendes Grün. Ausgeflogen die Rote. Sie liegt auf dem kühlen Grab der Mutter und stöhnt vor Hitze. Hitze nach dem verpassten Leben, im Mutterschatten. Sie wird hitzig bleiben. Ausgeflogen der Student. Die Lilie im Fenster schickt sich zur zweiten Blüte. Ausgeflogen auch die Fernsehsüchtige, sie hat eine Suite mit Fernseher im Badezimmer bezogen, dort liegt sie nun in einer kühlen Wanne. Zum Strand nimmt sie einen tragbaren Bildschirm mit. Deutsches Fernsehen wirkt im Ausland noch bizarrer. Ausgeflogen die rote Katze. Nein, es hängen keine Zettel an den Laternen des Viertels. Sie jagt Mäuse vor dem Ferienhaus und prügelt sich mit den Bauernkatzen. Ausgeflogen auch die Täubchen, sie schmoren auf flacheren Blechdächern und gewöhnen sich dort an Pfannentemperaturen. Eingeflogen Horden von schlecht gekleideten Touristen, die sich unter schlecht gekleidete Einheimische mischen. Nur die Schwulen unter ihnen , die mit den Knödeln im Schritt, wird es in mein Viertel verschlagen, nur sie haben die Chance, meine andere Seite zu sehen. Auch wenn sie kaum besser gekleidet sind.
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