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Juli 2001

1. Juli 2001
Verrammelte Fenster als wäre es Winter oder Smogalarm. Dabei bläst ein angenehmes Lüftchen, scheint die Sonne und stauen sich die Autos auf der Autobahn und nicht in der Stadt. Es ist Sonntagnachmittag, und es gibt jede Menge Parkplätze in der Gasse und wenig zu sehen auf der anderen Seite. Schatten beim Schnauzer. Er sieht sich wahrscheinlich das Autorennen an, abgasfrei. In sein Fenster hat er eine neue Blume gerückt, ein gelbes Schellenblümchen mit fetten Knospen. Es wird den krepierenden Aaron nicht ersetzen. Es wird aufblühen, für eine Weile freundliche gelbe Tupfen zeigen und verblühen und danach, weil er die pflegende Schere scheut, zusammen mit dem ausgelaugten Aaron in den Müll wandern. Ich denke an Menschengärtner und will das Bild nicht weiter verfolgen, also belasse ich mein Gegenüber seinen Sonntagsfrieden. Es wird morgen ebenso verrammelt und leblos sein. Nur wird es dann Montag sein und es wird keine Parkplätze in der Gasse geben und die geschäftige Stimmung wird mich auch dort Geschäftigkeit vermuten lassen wo keine ist. Der Blick auf das andere lebt nun mal vor allem anderen von der Farbe, die ich in meinem Blick habe. Es ist Sonntagnachmittag und in meinem Blick ist Vorstadtstimmung. Also mache ich mich jetzt auf und fahre in die Vorstadt, um vom Regen in die Traufe meiner Vorurteile zu blicken.

2. Juli 2001
Änderungen vollziehen sich auf der anderen Seite, die ich bemerke und übergehe. Die Schellenblume im Fenster des Schnauzer beispielsweise, die ich schon etliche Tage betrachtete und doch unerwähnt ließ. Oder die bedeutsame Wandlung im Fenster der Unscheinbaren, nachdem die Martinslaterne von der Fensterbank genommen wurde. Nun sehe ich den Kelch auf dem sie stand. Er steht neben seinem Pedant, gleicht ihm in Form und Farbe, ist nur eine Daumenbreite höher und ein wenig ausladender. Diese Laterne, um die sich meine Gedanken in immer neuen Windungen verdrehten, sie wurde schon vor gut zwei Wochen aus dem Fenster genommen. Verschwand einfach. Ich bemerkte es noch am selben Tag. Und doch war mir dieser Wandel keine Zeile wert.

Nein, die Veränderungen vollziehen sich nicht auf der anderen Seite, es sind nicht die kleinen Umstellungen und beachtenswerten Neuerungen, die etwas verändern. Nein, die Wandlung geschieht auf meiner Seite, es ist mein ermüdeter Blick, der den leisen Bewegungen dort drüben keine Beachtung mehr schenkt, ihnen keine Tiefe mehr leiht und sie so als oberflächliche Geschehnisse belässt, die sie auch durchaus sind und jedem anderen Auge auch so erscheinen. Ja, es ist allein mein Blick, der dieses Experiment trägt, er ist seine einzige Grundlage, er ist der Gegenstand der Beobachtung und der Beobachter zugleich. Auf den Tag zehn Monate musste ich hinüberblicken, um dies in dieser Deutlichkeit wahrzunehmen. Ein gelindes Ahnen darüber wandelte mich schon an, hie und da. Doch es war nie mehr als ein Angang. Angehen wollte ich es mich bislang nicht lassen.

Inzwischen muss ich kaum mehr hinüberblicken, um das Bild meines Gegenübers zu malen. Die Farben sind längst gemischt, bereitgestellt, um die Leinwand gruppiert. Ich muss nur noch die Pinsel hineintauchen und mit eingeübten Strich das Bild malen, das ich mit mir trage. Es sind blinde Bilder, die so entstehen. Also werde ich den Bogen von heute zerreißen. Ein zerrissener Bogen ist ein unbeschriebener Bogen. Ich habe nichts geschrieben. Und Sie haben nichts gelesen.

Mittlerweile sind rings um das Studentenzimmer die Lichter ausgegangen. Erst bei den Unscheinbaren, dann beim Leblosen, zuletzt beim Schnauzer. Die Rote hat am späten Nachmittag gelüftet. Über den Sommer genügt ihr als Licht allein die Sonne. Beim Studenten ist noch Licht. Das Zimmer ist leer und blitzblank aufgeräumt. Wohl dem Kerl, um den die Mädchen werben.

3. Juli 2001
Blau verhangen liegt mein Gegenüber in der Nacht. Auch das Nachlicht hat verschiedene Stimmungen. Unter sternenklarem Himmel fließt es ins Blaue, während es sich bei bedecktem Himmel zu Rot verschiebt.

Ja, rot ... Heute morgen sah ich die Rote aus dem Nebenhaus eilen. Sie lief mir beinahe vor die Füße. Noch ehe ich mir ihrer bewusst war, war sie schon ohne Gruß an mir vorüber. Sie sah wie immer gehetzt aus und trippelte mit kurzem hektischen Schritt über die Strasse auf ihren Eingang zu. Es ist das Geld aus den Mietzinsen, das sie so hetzt. Sie lässt es sich in Groschen geben, so hat sie mehr Geld. Es wird ihr in Säckchen vor die Wohnungstüre gestellt, mit bunten Zettelchen daran, damit sie weiß, wer welches Säckchen gab. Die Münzen schüttet sie auf ihren Küchentisch und zählt sie in die Säckchen zurück. Obwohl sie darin sehr geübt ist, verzählt sie sich gelegentlich. Und einmal verzählt, zählt sie ein Säckchen anstatt zweimal gleich dreimal nach, bis die Summe stimmt. Erst dann ist sie sich gewiss, dass ihr gegeben wurde, was sie fordert. Zu Ende gezählt, schmilzt sie die Münzen zu einem Klumpen und bringt ihn zur Bank. Der Vorteil solchen Tun, das Geld klimpert nicht verdächtig beim Transport und lässt sich in einem Stück zählen.

Mitternacht ist vorüber, die Lichter auf der anderen Seite sind erlöscht. Ruth und ich sitzen vor den Bildschirmen. Unsere beiden Köpfe spiegeln sich in der nachtblauen Scheibe. Von drüben aus betrachtet, mag man sich über unsere Sitzungen an den Rechnern gleichermaßen seltsame Gedanken machen.

4. Juli 2001
Das ist ein strahlendblauer Himmel. Der erste Tag in diesem Jahr auf den dieser Gemeinplatz als gültiges Wort trifft. Kein Dunstschleier, kein Sommersmog verfärbt das reine zarte Himmelsblau, kein Stich ins Graue oder Indigo, ein strahlender Sommerhimmel beschirmt mein Gegenüber. Blicke ich länger in ihn hinein, meine ich, das ihm hinterlegte reine Sternensilber durchscheinen zu sehen. Eine kühle Brise wäscht die Luft und poliert den Himmel. Kristallenes Licht verändert die Sicht, es zeichnet harte Formen, malt tiefe Schatten und satte Farben. Keine Gewohnheit könnte mir heute den Pinsel führen. Solches Licht ist Inspiration, ist unbeschwertes Schauen.

Als ich aus der Haustüre trat, wurde für einen Moment das Gegenüber meines Gegenübers sichtbar. Ein weißer Zettel hing an der Eingangstüre auf der anderen Seite. Die Nachbarn vom ihm gegenüberliegenden Haus in der nächsten Straße baten darauf um Verständnis für die Belästigung. Die Balkone dort würden sandgestrahlt. Nun weiß ich, dass es hinter meinem Gegenüber so aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Ein Hinterhof, wie unzählige andere auch. Grau, mit dunklen Balkonen aus gebogenem Eisen. Und so habe ich wieder einmal ohne einen Blick gesehen, was ich sehen wollte.

Und ich weiß, für heute wird man drüben die Fenster zur anderen Seite ebenso geschlossen halten, wie die Fenster zur Gasse. Und zur Nacht wird die Luft in den Wohnungen ebenso muffig sein, wie die Gemüter ihrer Bewohner.

5. Juli 2001
Wie gut, dass ich die Nacht noch zum Tag zähle, sonst wären die Daten in dieser Litanei so manches Mal geflunkert, insbesondere in dieser Nacht, die alsbald die Morgendämmerung vertreiben wird. Vier Uhr, wäre nicht Sommerzeit, wäre es bereits ein neuer Tag.

Ich schaue hinüber auf mein schlafendes Gegenüber, sehe die Rote in ihrem Fenster verschlafen einen Kaffee trinken und dazu ihre Morgenzigarre rauchen, die sie sich in nach Clintons Art befeuchtete. Die Asche schnippt sie auf die schlafenden Tauben unter sich über dem Schmuckfenster des Studenten. Ein leichter Schlag an meiner Haustüre. Der Zeitungsträger, hat die Zeitung auf meinen Fußabstreifer geworfen. Jetzt steht er in der Gasse und blickt mit glühenden Augen zur Roten hinauf. Sie feuchtet ihm eine Orientzigarette an, zündet sie an und wirft sie ihm hinunter.

Ein schlechter Traum, der mich da vor meinem Computer einholte. Gut, dass ich ihn noch im halbwachen Zustand träumte, im Bett hätte er mich nur geplagt, geweckt und auf die Toilette gehetzt. Hetz und Hatz, das ist der Roten ihr Metier und nicht das meine. Sechzehn Stunden saß ich dagegen mit Peer vor meinen Computern, wir schoben Daten hin und her, partitionierten und programmierten und ließen uns von den Tücken Gatesscher (das Rechtschreibprogramm schlägt bei diesem Wort nicht an!) Unvollkommenheit nicht aus der Ruhe bringen. Computer mögen keine Hast. Nun ist die Kiste aufgeräumt und ich freue mich über den schönsten Rechner der Welt.

Wenig sah ich im Banne des Rechners. Derweil strich die Sonne über mein Haus, fiel in die Nacht und die andere Seite war meist ferne Kulisse. Abends, als die Lichter angingen, haben wir über das Gegenüber geplaudert, über mein Experiment und über das was man sieht und nicht sieht. Nein, ich widerspreche mir, trotz eifriger Computerei habe ich viel gesehen. Nun ist der Traum der mich anwandelte vorüber, die Nacht wird heller, und ich ende, ehe der Tag beginnt.

6. Juli 2001
Sommersauna hinter verrammelten Fenstern auf der anderen Seite. Der Schweiß spritzt aus den Poren, verdampft auf der heißen Haut und verschafft so linde Kühlung. Die abdunstenden Schweißschwaden schlagen sich an den Scheiben nieder und rinnen in fetten Tropfen herab. Die abrinnende Spur ist gleich wieder vom beizenden Dampf vernebelt. Auto-Odeurphile hausen auf der anderen Seite, Menschen, die in ihren Eigenduft vernarrt sind. Nun ja, im schwulen Viertel der Stadt, muss es wohl auch wahre Aficionados des Warmen geben. Neben saunieren begünstigt Gummikleidung den Schweißfluss. Allerdings kann der Gummiduft die eigene Note übertönen. Ähnlich wie aromatisierte Aufgüsse in der Sauna, die schwitzige Note unterdrücken.

Behutsam werden die Töchter des Schnauzers an die odeurphile Leidenschaft herangeführt. Kopf an Kopf sitzen die beiden Schwestern auf der Couch in schwarzen ärmellosen Leibchen. Ihre Arme kleben aneinander, ihre schweißnassen Rücken durchtränken die Polsterung. Gleich Ballerinen haben beide die Haare zu einem Knoten straff in den Nacken gezogen. Der Schweiß perlt ihnen von der Stirn über die Nase ab. Unbeweglich wie Püppchen sitzen sie und starren auf den Bildschirm. Sie sehen die Sendung für Magersüchtige, Big Diet. Kaum ist die Sendung vorbei, gehen sie gemeinsam zum Erbrechen. Wahre Schwesternliebe.

Die Farben der Stunde: Graublau der Himmel, grauschwarz die Schatten mit einem Stich ins Braune, rotgelb die Fassade. Keine Farben für eine beginnende Sommernacht. Mücken umschwärmen das Neon. Ich werden meine rote Jalousie als Mückenschutz vor das geöffnete Fenster senken, ehe ich das Licht in meinem Büro einschalte.

7. Juli 2001
Ein später Blick hinunter zu den Namenlosen. Ein seltener Blick. Die Gardine steht einen Spalt offen. Im Fenster ein Computerbildschirm. Über der Stuhllehne hängt Reizwäsche. Dunkelblau und golden. Im Hintergrund das Klavier. Ein abgehackter Unterarm liegt auf dem herabgelassenen Klaviaturdeckel. Ein Stilleben.

Kühle Luft weht durch mein Fenster. Mit dem Gewitter fiel das Thermometer um zehn Grad. Der bedeckte Himmel spiegelt die nächtliche Stadt in Pastell. Blaugrau und gelbrot das Licht. Fern, rauschiges Geblöke der Männer und exaltiertes Gekicher des weiblichen Tross. Die Geräusche fallen in die Gasse und entfernen sich wieder, gottlob. Sie hätten dich sonst wieder beunruhigt. Die latente Aggressivität in den Stimmen der Männer, die provozierenden Schreie der Frauen sind wie Hiebe in deinen Magen. Man weiß nie, was ist trunkenes Spiel und was blutiger Ernst. Eines Nachts verprügelten zwei Burschen einen anderen. Das Opfer schrie Überfall und Polizei. Wir rissen das Fenster auf. Du brülltest hinunter. Deine laute Stimme vertrieb die Angreifer, sie warteten an der Ecke. Ihr Opfer wankte ihnen hinterher. Umsonst die Aufregung.

Was bedeutet ein abgeschlagener Arm auf einem zugeklappten Klavier vor abgelegter Reizwäsche in einem beleuchteten Raum umgeben von nachtdunklen Wohnungen? Ein schlechter Traum, eine überhitzte Fantasie, ein Verbrechen, ein miserabler Pianist, eine frigide Frau, ein schlechter Liebhaber, eine Lustmörderin, ein heimwerkender Ehemann ...? Ich tippe auf einen hungrigen Sohn. Söhne fressen einem nicht nur die Haare vom Kopf. Ich sollte darauf achten, ob es bei den Namenlosen Kinder gibt.

8. Juli 2001
Auf einem Bein steht der Aar vor der Ausflugluke. Er putzt sich das Rückengefieder, dann lässt er sich in die Gasse fallen, im vollen Sturz breitet er die Schwingen aus und greift sich das Malteser Hündchen der Maniküristin. Schon ist er wieder in der Luft, das jaulende Hündchen fest in seinen Fängen, steigt er nach oben, zurück unter seinen Horst unter der Traufe meines Gegenübers. Die Leine spannt sich, die Maniküristin mit ihrer schwarz-weißen Mähne girrt und fuchtelt. Dann hebt es auch sie in die Höhe, die Hand in der Schlaufe der Leine verfangen. Noch ein zwei kräftige Flügelschläge, dann hat der Vogel seinen Horst erreicht. Die Krallen tief in den Leib des Hündchen geschlagen, sitzt er auf seiner Beute, äugt vor und zurück, äugt mal von links, mal von rechts auf das weiße Bündel unter sich. Blut rinnt unter seinen Fängen in das Fell. Dann senkt er den Kopf und hackt mit leicht geöffnetem Schnabel in das Tier, verbeißt sich, rupft und zehrt. Das Hündchen ist still geworden, es zuckt noch leicht. Jetzt reißt er ein Stück Fleisch aus seinem Balg, hebt den Kopf leicht nach oben, wirft sich den Bissen im Schnabel zurecht und würgt ihn schließlich hinunter. Derweil hängt die Maniküristin weiter girrend an der Leine, dreht sich, pendelt hin und her. Wäre die Rote zur Stelle, könnte sie ihr Fenster aufreißen und die Hilflose in die verlassene Mutterstube ziehen. Doch die Fenster bleiben verschlossen. Das Blut des Hündchen tropft auf die Ohnmächtige, färbt die schwarzen Strähnen ins Dunkelviolette und die hellen ins Blutorangene. Beides Farben für ein kräftiges Bild, Titel: Schopf schwarzweißrot. Später, wenn der Aar, gesättigt, seinen Fang aus den Krallen lässt, wird sie in die Gasse stürzen, weniger elegant als der Vogel zuvor und unfähig, wieder aufzusteigen.

Es ist Sonntag und mein Gegenüber liegt in gewohnter sonntäglicher Abweisung vor mir. Die Taube, die sich zuvor vor dem Nistplatz unter der Traufe am warmen Blech wärmte, ist davongeflogen. Schwere Wolken ziehen auf, für ein Gewitter zu wenig, doch flauschig und voller Schatten genug, um Wolkenbilder zu schauen.

9. Juli 2001
Schrunden, Löcher, Kratzer, Splitter, Einschläge, Abbrüche. Blicke ich nicht nur auf die Fassade meines Gegenübers, sondern auf die einzelnen Steine aus lehmgelben Klinker, sehe ich ein altes Gesicht, ein verfallendes Gebilde.

Durch mein geöffnetes Fenster dringt geschäftiges Geräusch. Sägen, Schmirgeln und harter Wasserstrahl gegen Blech und Plane wechseln einander ab. Lifting im Hinterhof meines Gegenübers. Per annonciertem Sandstrahl wird dort dem Verfall Einhalt geboten. Die Rote wird diesem Treiben aufmerksam zusehen und ihrem Haus alsbald eine ähnliche Behandlung verordnen. – Menschen leben in Häusern, Häuser leben von Menschen. Während die einen altern, verjüngen sie die anderen.

In der Schlafkammer der entseelten Mutter stehen zwei Weihnachtskaktusse im Fenster. Niederes mageres Grün. Es sind Stecklinge, Abkömmlinge des großen längst kompostierten Kaktusses. Im Fenster des Schnauzers steht das Schellenblümchen in voller Pracht, eine gelbe Pyramide, und doch wirkt sie schon müde und ausgelaugt. Der sterbende Aaron daneben ... Blühen verzehrt. - Verzehrende Blüte ... ein möglicher Titel für einen rabenschwarzen Liebesfilm.

10. Juli 2001
Das Warten wurde nicht belohnt. Gestern Nacht noch bizarren Verrenkungen des Studenten zugesehen, heute Nacht, auf eine Wiederholung hoffend, Blick auf seinen zugezogenen Vorhang. Ebenso zugezogene Vorhänge vor verriegeltem Fenster in der Schlafkammer der Fernsehsüchtigen. Nun könnte ich über das Liebesleben auf dieser Etage plaudern und dabei etwas über mich verraten, doch dafür ist es mir zu warm. Zudem steckte ich heute schon mit Ruth unter einer Decke.

So bliebe mir noch der Schnauzer, doch er flegelt so unzivilisiert im roten Leibchen vor seinem Fernseher, dass ich den Blick in seine Richtung meide. Es gäbe auch etwas über die Belebung des Schneiderladens zu berichten, ein junger Mann schraubte im Hintergrund an der verbliebenen Kulisse, doch auch hierzu fallen mir die Gedanken schwer.

Beim Zigarettenholen, seit zwei Wochen rauche ich wieder mäßig, traf ich vor dem Laden den Historiker. Er wohnt zwei Häuser weiter zur Rechten meines Gegenübers. Er wehrt sich gerade gegen eine Kündigung seiner Wohnung wegen Eigenbedarfs. Als ältester Mieter im Haus bringt er dem Vermieter trotz regelmäßiger Steigerungen zu wenig Zins. Am Rückweg traf ich die bunte Heilpraktikerin aus seinem Haus und sprach mit ihr darüber. Zwei, drei Sätze und dann flüsterte sie mir ihre Mordphantasien ins Ohr. Als Vermieter, zumal als obszöner Vermieter, lebt man offensichtlich gefährlich. Ich sollte doch mal mit der Roten reden, inwieweit sie sich um ihr Leben fürchtet. Womöglich bewegt sie sich deshalb so hektisch, um kein billiges Ziel für Auftragsmörder abzugeben ...

11. Juli 2001
Zwei Lichter im Blick. Links das Fenster des Leblosen, sehr weiß. In ihm ein Hauch von Gelb, gleich einem Blatt Papier, das einen Nachmittag in der Sonne lag. Eben nur ein Hauch, eine leise Trübung, die man beim ersten Hinsehen gar nicht bemerkt. Man sieht weiß, reines Weiß. Doch je länger der Blick auf dem Bogen ruht, sich im Weißen verliert, um so stärker empfindet man die Verfärbung. Erst ist es nur ein Hauch, jener tatsächliche Hauch, dieser zarte Schleier, der das Weiß deckt. Beinahe noch eine flüchtige Täuschung und nicht irritierend. Doch mit jedem Wimpernschlag steigert sich seine Intensität. Das anfänglich gelb Behauchte wandelt sich im Blick, mutet uns als sichtbare Beimischung an, hebt sich zum kräftigeren Gilb, weiter zur schmutzenden Eintrübung und steigert sich schließlich zum beherrschenden Ton. Nicht mehr anfängliches schmeichelndes Weiß streift das Auge, sondern Schmutzgelb drückt in Sicht und Stimmung. Und selbst wenn man den Blick abwendet, ihn an anderen Farben kühlt, bleibt er befangen, hat seine Unschuld verloren. Was Weiß war, wird nie wieder weiß. An einem solchen Blick zerbricht die innigste Liebe.

Dagegen das andere Licht in meinem Blick, das Neon zu meiner Rechten. Es ist die Umkehrung des Gesagten. Es ist nicht weiß, es ist nicht blau, es ist nicht rot, es ist nicht grün, es scheint von allem und von keinem etwas. Und doch zwingt es das Auge, fordert einen geradezu, im Changierenden das Beständige zu suchen, jenes reine Weiß, das in ihm leuchtet und sich doch im Blick nicht hält. Und doch ist es da, wird gesehen, wo es nicht ist. Es verbirgt sich nicht und bleibt doch unschuldig, unentdeckt. Nie, niemals ist es weiß, und doch ist es reiner, weißer als jedes je gesehene Weiß. An einem solchen Weiß wird die Liebe nie zerbrechen, sondern sich stets aufs neue suchen.

Mittlerweile ist es dunkel geworden auf der anderen Seite. Der fernsehsüchtige Professor hat sich zu seinem fernsehsüchtigen Weib gelegt. Sie haben vergessen, den Vorhang zu schließen, das Neon scheint ihnen milde ins Gesicht, sie haben sich geliebt und sind in ihrer Umarmung eingeschlafen. Das noch nicht fernsehende Kind schläft neben ihnen in seiner Wiege.

12. Juli 2001
Mitternacht ist eine ungünstige Zeit, um meinen Blick aufs Gegenüber zu richten. Die Lichter sind gelöscht, die Menschen haben sich schlafen gelegt, das Neon funzelt für sich allein. Die Ziegel sind leichig, die Fenster gardinengrau, die Grenze zwischen Dach und Himmel verwischt. Ich müsste mein Licht löschen, um den Bruch zwischen hier und der Ewigkeit zu sehen. So sehe ich mich im Spiegel meiner Fensterscheibe, sehe durch mich mein Gegenüber in mir.

Mein Gegenüber in mir? Ist alle Beschreibung stets Selbstbeschreibung? Solipsisten meinen, dass dies so wäre. Ich mag mich mit diesem Gedanken nicht anfreunden. Sonst müsste ich wohl sterben, wenn jemand stirbt, der mich einst sah. Nein, es ist nicht in mir, mein Gegenüber. Es ist mir ein Stein des Anstoßes, ein Mandala, in dem ich mich und meine Gedanken finde; es ist mir ein Spiegel, den ich mir gerne vorhalte. Es ist ein Blickwinkel in der Steinwüste Stadt, den ich nicht fliehe, an dem ich die Augen nicht nach innen kehre, sondern hinsehe.

Mit senkrechtem Strich fällt Regen aus der Nacht. Das Neon beglänzt die Tropfen, verzaubert sie zu feinen Weben aus Sternenstaub. Zart klingend zerspringen sie auf dem staubigen Pflaster. Kühle Luft weht mich an. Ist es der Flügelschlag der Engel, oder sind es die Ahnen, die ein Opfer von mir fordern? Ich werde beiden eine Räucherkerze anstecken.

13. Juli 2001
Über dem First meines Gegenübers fransen Regenwolken aus und verwehen zu Nebel. Nein, das ist kein Sommerabend, grau, trüb, feucht und kalt. Noch habe ich den Sommer nicht geschmeckt und fürchte schon, den Herbst zu riechen.

Klare Konturen in der ausgewaschenen Luft, klare Farben, klares Licht. Oben grau und blau, dann grün, braun, schwarz, dazwischen als grüngelber Würfel das Aquariumzimmer, tote Fenster bei der Roten und überhaupt ...

Nun, da die Mutter nicht mehr ist, hat sie den Vorhangspalt in ihrer Kammer geschlossen. Es sitzt niemand mehr im Sessel im dunklen Zimmer und schaut hinüber auf meine Seite ...

Gestern besuchte mich Reich-Ranicki. Er legte seine fleischige Hand großväterlich auf meine Schulter, sah kurz zu, wie sich die Zeilen in den Bildschirm quälten, sah hinüber aufs Gegenüber und meinte nur, das ist also der Kasten. Er nuschelte und lispelte erst, als er hervorstieß, das ist ja alles Quatsch, wo ist sie nun, die Etage der Roten. Zur gleichen Weile wischte ihr roter Schopf durchs Mutterzimmer und er verschwand aus meinem Rücken, ich hörte die Türe schlagen und sah ihn zwei Zeilen später im Fenster gegenüber. Die Rote schmiegte sich an ihn, strich ihm über die Glatze, ihm wäre es lieber gewesen, sie streichelte ihm die rasiermessergeglättete Wange, und so drückte er sie ein wenig von sich, indem er ihr linkes Brüstchen knetete. Dabei sah er hinüber zu mir und grinste dazu höhnisch. Ich ließ meine rote Jalousie dazwischen fallen und überlegte noch lange, was sein Grinsen bedeutete.

Wahrscheinlich sah er, was ihm gegenüber stand, eine hässliche Fassade, ein Haus aus den sechziger Jahren mit Staatszuschüssen errichtet, billig, einfach, hässlich wie die Aufbauten eines Bananenfrachters, nun war es an mir höhnisch zu grinsen, denn die Miete ist unverschämt niedrig für diese Stadt, würde ich hier nicht auf der Brücke des Frachters wohnen, wohnte ich unter ihnen oder fern der Stadt in einem Dorf ohne Gegenüber, mit freier Sicht in die Landschaft bis hinüber zum Wald und weit darüber hinaus.

Jedenfalls hat sich Reich-Ranicki nicht in den angebotenen freien Muttersessel mir gegenüber gesetzt.

14. Juli 2001
Punkt zehn Uhr abends. Ordnung muss sein, und Nachbarn sind ohnehin ordentliche Leute. Also verstummt die Musik des Straßenfestes hinter meinem Gegenüber mit dem Stundenschlag. Ein buntes Gemisch mit aufgetakelten Einsprengseln vom Christopher Street Day, flanierte ab Mittag durch meine Gasse. Unberührt davon das Gegenüber. Niemand schaute zum Fenster hinaus, niemanden lockte es, dem Treiben zu folgen.

Beim Schnauzer ein neues Mädchengesicht auf der Couch, eine Kinderübernachtung. Man sieht fern und plaudert über das Gesehene. Das ist das eine erhellte Viereck. Das andere unterm Dach, die mandarinfarbene Kammer des Leblosen, blauer Kelch im Fenster, grünes Palmenschilf in der Ecke neben der Gaube. Ansonsten Lichtlosigkeit bis auf das Pinkellicht bei der Fernsehsüchtigen.

Als ich zuvor das Haus verließ, sah ich die rote Katze im Parterre im Fenster sitzen. Ich wechselte die Straße und sie verschwand. Das Spiel mit ihr, das mich lockte, blieb mir versagt. Es ist die einzige Katze, die auf der anderen Seite lebt. Nur für welches Tierchen brennt das Pinkellicht bei der Fernsehsüchtigen? Es werden wohl die Kakerlaken sein, die sie damit unter den Schränken hält. Die Gemäuer im Viertel sind allesamt feucht, das Wasser vom nahen Fluss und von den Stadtbächen drückt auf die Fundamente. Einst floss ein Bach vor meinem Haus. Er ist indes längst zugeschüttet.

Mit umgeschnallten Kunstglied kommt die Fernsehsüchtige nach Hause, im Arm ihren Professor in schriller Tuntenklamotte. Sie haben sich also doch locken lassen und unter die schrägen Vögel des CSD gemischt. Und so vergnügten sie sich einen halben Tag lang auf der anderen Seite. Ob das reicht, um dabei zu sein? Somit war das Pinkellicht ihr Heimkehrlicht. Sie hätten statt dessen besser eine rote Laterne ins Fenster gehängt.

15. Juli 2001
Eine weiße staubende Hagelwand stürzte vom Himmel. Die Eiskörner prasselten gegen mein Fenster, sprangen in mein Zimmer, trommelten auf das Kupferdach meines Gegenübers, füllten die Traufe mit Eiskörnern, Wasserfälle kippten in die Gasse. Binnen Sekunden war die Straße überschwemmt und mit unzähligen abgeschlagenen Blättern bedeckt. Doch auf der anderen Seite drängte es niemanden vor seine Gardinen, um mit verschrecktem Staunen dem Unwetter zuzusehen. Es ist Sonntag. Darüber täuscht auch nicht das grünliche Gefunzel beim Leblosen hinweg. Sonntags herrscht Bewegungslosigkeit, man liegt nebeneinander auf dem Rücken im Bett, die Hände auf der Bettdecke, den Blick starr zur Decke gerichtet. Und funzelt auch ein vergessenes Licht am Tag, man steht darob nicht auf. Es ist Sonntag, der Unbewegliche.

Nur frisch Zugezogene verletzen diese Gepflogenheit. Es ist ein junges Paar, das den Laden der Schneiderin bezieht. Sie sind am Einräumen und Bohren. Ins Schaufenster haben sie als Solitär einen Kerzenständer gerückt. Ein hässliches, ein unmögliches Trumm, astdick mit einer roten Tafelkerze vor kreischrotem Hintergrund, ein magisches Accessoire. Es soll mögliche Kunden abschrecken. Der Bann wird ebenso wirken, wie der Bann des Hauses, auch sie, noch voller Tatendrang, werden langsamer und langsamer werden und irgendwann unbeweglich und glücklich sein. Man wird sie alsdann ausziehen, ihnen Leibchen und Jeans abstreifen, ihnen nette Kleidchen überstreifen und sie anheben und als Kleiderpuppen ins Schaufenster zu beiden Seiten des Kerzenständers stellen. Die Ladentüre wird unverschlossen bleiben, doch niemand wird sie öffnen. Sie werden einstauben und vergilben, und irgendwann wird der Laden neu vermietet sein, und der neue Ladner wird das alte Gerümpel zum Sperrmüll fahren

16. Juli 2001
Zu giftig grün das Dach, zu grau der Tag, zu duster der Abend, jeder Schritt vors Haus ist kalt und ungemütlich, Lichterspiel auf der anderen Seite.

Der Leblose beleuchtet seine kahlen Räume weiß, rot, grün, dazu dreht er sich Spaghetti auf die Gabel und wandert mit dem Bissen von einem Raum zum anderen, in jedem Raum steht eine anderes Gericht, im weißen Raum Sepianudeln mit Sahnesauce und Sommertrüffel, in der roten Kammer gelbe Eierspaghetti mit Pesto, im grünen Paradezimmer Paprika gefärbte Nudeln und geschmelzte Paradeiser.

Der Schnauzer liegt im trüben Licht auf seiner Couch, einen Finger in der Nase, eine Hand im Hosenbund auf nacktem Bauch, schlummert er vor sich hin, er spürt meinen Blick, nimmt den Finger aus der Nase und schlurft zum Fenster, senkt das Rollo zur Linken, von rechts sieht im niemand mehr zu.

Der Student verbirgt sich hinter blankem Tuch, zuvor aß er eine Ladung Sandwichs mit Blick in elektrische Ferne, der Namenlose bügelt auf der Klavierabdeckung, die Fernsehsüchtige schläft vor dem Geflimmer, der Katzenmensch Parterre wühlt im Papier, die Rote ... Die Rote spart Strom und Heizung und schont ihre Wohnung durch Unbeweglichkeit, schließlich gilt es, das Erbe zu erhalten.

Sommernachtsträume zum Weltuntergang. Das Neon bescheint dazu lotrechte Regenschnüre. Wer sich lieben will, muss einheizen. Wer gestorben ist, braucht keine Kühlung. Wer am Leben bleiben will, sollte sich heftig bewegen.

17. Juli 2001
Stahlblauer Himmel über dem sich eindunkelndem Gegenüber. Die irdische Nacht verlässt die Erde, dringt durch die Pflasterritzen der Gasse, schlüpft die Hauswände empor, verschattet die Schatten und verdunkelt die dunklen Stuben. Schon weht sie in langen Fahnen über dem First in den Himmel hinein, will auch ihn umnachten und verzehren. Doch noch ehe sie sich von der Erde lösen kann, eilt die himmlische Nacht von Osten her der versunkenen Sonne nach und deckt ihren Mantel übers Firmament. Blickst du aus deinem dunklen Zimmer lange in sie hinein, werden auch für dich einige Sterne sichtbar, jene nächtlichen Juwelen, die der grelle Talmi der Stadt ansonsten überstrahlt.

Eine klare Nacht löst einen grauen Tag ab. Kein Abendrot Schlechtwetterbot' schmälert das Versprechen eines sonnigen Morgens. Die Trübnis des Tages abwendend sitzt, der Schnauzer in weißem Licht. Das helle Geviert seines Fenster überstrahlt das Neon davor, lockt die Eintagsfliegen von ihm zu sich. Darüber in spärlichem Mandarin, die Doppelgaube der Unscheinbaren, Höhlenlicht für Schattenwesen. Sobald die Nacht den westlichen Horizont erreicht, werden sie auch dieses Licht löschen, ihre Leiber betten und ihre Seelen zum Schornstein hinaus ziehen lassen. Sie werden im Sternenlicht funkeln und von Sphärenmusik getragen gen Morgen als Sternenstaub niederregnen, und gar manche Seele mag dabei verglühen, indes die ihre nicht, schließlich wohnt ein Engelchen mit ihnen.

18. Juli 2001
Das gestrige abendliche Versprechen eines schönen Sommertages hat sich nicht erfüllt. Regen auch heute. Mittlerweile werden Schirme rar. Regenschirme. Sonnenschirme sind indes wohlfeil.

Der Regen greift mittlerweile auch mein Gegenüber an. Der Leblose leert Schüsseln mit Regenwasser in die Traufe. Der Regen fällt ihm durchs Dach in aufgestellte Gefäße. Ihm bleiben so nur noch wenige Durchgänge in seinem Zimmer. Entsprechend choreographiert wirken seine Bewegungen von meiner Seite aus. Beim Geschlechtsverkehr mit seinem leblosen Mauerblümchen balanciert er nun ein Einmachglas auf seinem Gesäß. Er mag es nicht, wenn ihm der Regen die Pofalte hinunterrinnt und abtropfende Nässe seine Hoden kühlt. Das Mauerblümchen erleichtert ihm den Balanceakt durch frigide Bewegungslosigkeit. Er kennt es nicht anders und findet es schön.

Die gelben Ziegel zeigen weiße Mauerblüte und bröseln leise vor sich hin. Waren es erst kleine Splitter, die sich lösten, brechen nun faustgroße Stücke aus der Mauer. Doch die sich auftuenden Löcher schließen sich schnell. Feuchtes Mauerwerk dringt nach und füllt die Leerräume. Die zunehmende Feuchtigkeit bewirkt, dass sich die Hauswände allmählich nach außen wölben. Irgendwann wird die Studentenetage wegbrechen und die Rote ihrem Statut gemäß in die Belletage sinken. Und irgendwann werden die Fundamente auf der glitschigen Lösschicht des Untergrundes abschmieren. Schon jetzt spreizen sie nach außen wie die X-Füße pubertierender Mädchen. Dann wird die Etage der Roten um ein weiteres Stockwerk zu Boden sinken. Mein Gegenüber wird darauf ein Bungalow sein und meine Sicht auf einen Hinterhof mit sandgestrahlten Balkonen treffen.

Auf der anderen Seite schläft man diesen Ereignissen entgegen. Nur der Schnauzer macht sich darüber Gedanken, wie er den vor seiner Frau verheimlichten Durchbruch ins Mutterzimmer der Roten auch unter veränderten Gegebenheiten noch nutzen kann. Er blättert in einem Katalog mit Latexbettwäsche und wählt unter farbigen wasserdichten Bettüchern. Er prüft die Auswahl, indem er sie mit verschiedenen Bieren begießt und das Abrinnverhalten beobachtet. Damit ich ihn bei seiner Untersuchung nicht durch interessierte Blicke störe, hat er sein Licht gedimmt und den Rolladen zu meiner Seite gesenkt.

Derweil prophezeien die Wetterfrösche schönes Wetter wie Priester das ewige Leben. Wer das eine oder andere erleben will, muss jedoch erst einmal unter die Erde.

19. Juli 2001
Leben, Lichter in meinem Gegenüber zur Nacht. Nichts Bewegendes und doch mehr, als mein Blick erfassen kann. Gewiss, die Etage der Roten bleibt dunkel. Sie schont sich, hat sie doch beschlossen, sich selbst zur Mutter zu werden. Ein verrücktes Unterfangen, dass ihr gelingen wird. Sie wird sich bald selbst auf den Arm nehmen und verhätscheln und sich all das geben, was ihre Mama ihr nicht gab.

Jetzt sitzt der Student am Tisch, über Bücher und Papiere gebeugt und spielt die Rolle, die ihm seine Eltern zudachten. Bleibt er dabei, wird auch die Lilie in seinem Fenster wieder blühen. Zuvor saß er in der Ecke neben dem Fenster und nähte an seiner Jeans. Als er aufstand, um zum Telefon zu eilen, sah ich ihn in blau-weiß-rot gestreifter Boxershort und schwarzen Socken. Ein Mann in Unterhose, zumal Boxershort, und Socken ist ebenso ein Liebestöter wie ein Liebestöter. Später lümmelte er sich wieder auf seiner Couch und aß mit seinem Fernseher.

Über diese wenigen Zeilen sind ringsum die Lichter ausgegangen und auch der Student räumt sein Studium in die Ordner und Hefter zurück. Auf welches Signal reagieren man dort drüben auf der anderen Seite? Sind es Ausgasungen des feuchten Gemäuers? Oder ist es das einschläfernde fast unhörbare Getrappel der Kakerlaken, die so die schützende Dunkelheit herbeibeschwören? Oder ist es schlicht das Wetter, dass sie schon eine Stunde vor Mitternacht in die Betten treibt? Es wird wohl das Wetter sein; es macht müde, träge und süchtig nach bräsiger Gemütlichkeit.

20. Juli 2001
Nun also ein Abendrot als Gutwetterbot'. Rotes Licht fällt in die Gasse. Schmeichelt meinem Gegenüber wie ein Kompliment einem Mauerblümchen. Mädchenhafte Röte färbt das Ziegelwerk ins Milchorange. Doch niemand auf der anderen Seite ist bereit, diese Berührung aufzunehmen, und das Lächeln ebenso zart zu lächeln, wie es den Abend schmückt.

Zweimal sah ich heute die Rote, oder besser gesagt ihren dürren Arm, als sie hinter der Gardine versteckt die Fenster schloss. Womöglich hält sie es wie die Dietrich und hat beschlossen, sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Nur wem mag sie so als ewig junge Unverblühte in Erinnerung bleiben. Die Stadt, die Nachbarschaft ist ein unbarmherziges Tier. Es vergisst, anstatt sich zu erinnern. Aus den Augen, aus dem Sinn, da was im Auge ist, ohnehin so sinnlos scheint.

Wer redet heute noch vom Schuster, von der Müslihexe, vom Winker an der Ecke, vom Rolli und was für Typen sonst durch die Gasse strichen. Vorbei, vorbeigegangen, aus dem Sinn gegangen. Die Oma von nebenan habe ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Im Frühjahr noch trug ich ihr die Tasche. Und jetzt? Jetzt vergesse ich, wenn ich mit diesem oder jenen in der Straße spreche, nach ihr zu fragen.

Also wird man auch nicht nach der Roten fragen, sich allenfalls nur wundern, wenn sie nach Jahren aus ihrem Haus getragen wird, das es sie die ganze Zeit, da man sie nicht mehr sah, noch gab.

21. Juli 2001
Der letzte Anschein von Leben ist aus der Etage mir gegenüber gewichen. Die Fenster sind leer, unbewegte Gardinen halten den Blick von der dahinterliegenden Trostlosigkeit fern. Gestern nahm die Rote die Setzlinge des Weihnachtskaktuses aus dem Fenster. Sie wird sie zu Weihnachten nicht mehr blühen sehen. Seltsam, wie wir, wenn wir unsere Stunde kommen sehen, damit beginnen, uns selbst das Grab zu richten, anstatt uns zu schmücken, den Boten der Ewigkeit zu empfangen.

Ausgang der Fernsehsüchtigen, das Kind wird der Verwandtschaft vorgezeigt. Ein guter Wurf, ein Nachmittag ohne Bildschirm. Man wird Videos vom Säugling drehen, Familie inszenieren, um sich später an diesen Tag vorm Fernseher zu erinnern. Das versäumte Programm wird derweil daheim vom Rekorder aufgezeichnet, und parallel zum trauten Filmchen abgespielt. So versäumt man nichts. Vielleicht dreht die Rote ganz im Stillen das Video ihrer eigenen Beerdigung, um sich noch zu Lebzeiten zu beweinen.

Sei nicht so düster, schau über den First, sieh wie aus dem Grau der letzten Tag ein Sommertag schlüpft. Sieh, wie die Sonne dein Gegenüber bescheint, verspielte Schatten in die Fassade zeichnet, das Dach im zarten Grün erscheinen lässt, wie die warme Luft durch das geöffnete Oberlicht der Unscheinbaren sinkt. Sieh die letzte Blüte des Schellenblume im Fenster des Schnauzers, sieh die Knospen, die zu neuer Blüte treiben, und sieh nicht, dass die Sonne bereits wieder im Mai steht, dass die Schatten schräger werden und Licht und Luft dich an abgemähte Felder denken lassen. Sommerfreude: Erntezeit. Zeit den Mohn von den Feldern zu pflücken und ins Fenster zu rücken. Erntezeit, Trauerzeit.

22. Juli 2001
Sonniger Sonntag. Fischgrätenwolken überm First. Es fönt. Wer es nicht verträgt, trägt seinen Kopfschmerz. Sonntagsruhe, Totenruhe gegenüber. Unbelebt und unbewohnt, lehmgelb und isabell das Prospekt, weiß verspiegelte Fenster, dunkelblaue Zimmerschlünde.

Das Mauerblümchen sprießt. Die Unscheinbaren kreiseln durchs verschattete Zimmer. Jennifer Lopez oder sonst wer steht unterm Gummibaum im Zimmer des Schnauzers. Er spritzt die Nackte mit einem Gartenschlauch ab. Niemand sieht es, es ist Sonntag, und die Blicke bleiben nach innen gekehrt. Das Spiel wird sich, dieses Geheimnis sei hiermit gelüftet, nächsten Sonntag wiederholen, so wie es sich alle Sonntage wiederholte und von mir übersehen wurde.

Die Frau des Schnauzers stößt derweil spitze Schreie aus, es ist nicht auszumachen ob aus Lust oder Eifersucht. Sie windet ihrem Mann den Schlauch aus der Hand, er hält dagegen, und so besprühen sie sich gegenseitig, derweil fröstelt die nackte, wasserbeperlte Frau Lopez unterm Gummibaum. Alle drei werden sich alsbald auf das heiße Blechdach legen und von der Sonne trocknen lassen. Da die Sonne schon die Kehrseite des Daches zu mir bescheint, bleibt mir wie jeden Sonntag verborgen, was die drei verbindet. Ich sollte Frau Lopez mal Sonntag morgens anrufen und sie fragen, was sie zum Nachmittag auf die andere Seite treibt.

Wenn die Sinne keine äußeren Reize mehr treffen, provozieren sie aus sich heraus Phantomreize. Ein Phänomen, das wir von Experimenten in abgedunkelten Salzwassertanks als auch von der Isolationsfolter her kennen.

23. Juli 2001
Von ihrem gestrigen Besuch hatte sie einen schönen Blumenstrauß mit heim gebracht, der nun in ihrem Fenster steht. Sie blieb heute den ganzen Tag in ihrer Wohnung. Erst sah ich sie neben den Blumen vor dem Fernseher sitzen, ihr Kind an der Brust. Später sah ich sie den Säugling wickeln. Jetzt sehe ich sie ihr Bett zur Nacht richten. Die ganze Zeit über hatte sie kein Fenster geöffnet. Das Haus ist also selbst an warmen Tagen wie heute noch kühl. Oder hatte sie kein Fenster geöffnet, um ihre Einsamkeit nicht zu hören?

Sieben Fenster hat die Etage der Roten. Platz genug, um sogar mit Ausrufezeichen EINSAM! mit roter Kreide hineinzuschreiben. In jedes Fenster ein Buchstabe, das Ausrufezeichen stände im zweiten Fenster des verlassenen Mutterzimmers. Ein vielsagendes Bild. Obwohl Einsamkeit sollte nicht mit roter Kreide geschrieben werden. Graue Farbe wäre angebrachter. Oder welche Farbe sonst hat Einsamkeit? Herbstgelb vielleicht? Möglich, aber das wäre eher die Farbe des Alleinseins, so wie Weiß, die Farbe kultivierter Einsamkeit sein mag.

Nein, sie wird das Wort nicht in Rot und nicht Grau in die Fenster pinseln. Erstens müsste sie es spiegelverkehrt schreiben, auf dass es gut lesbar wäre. Zweitens würde sie es nicht dulden, wenn ihr der Schriftzug nicht akkurat gelänge. Drittens besitzt sie weder Schlemmkreide noch Pinsel. Und überhaupt wäre es eine Peinlichkeit, zuzugeben, das man einsam ist. – Oder ist Ihnen jemals in der Stadt ein Mensch begegnet, der zu ihnen sagte, ich bin einsam, bitte sprechen Sie mit mir? Also mir wäre es schrecklich peinlich, in solcher Art angesprochen zu werden.

24. Juli 2001
Mitternacht ist vorüber. Gleichfalls vorüber ist mein Gegenüber. Heute ist es in sich zusammengekracht. Die Feuerwehr kam, schaufelte den Schutt aus der Gasse, suchte in den Trümmern nach Toten, obgleich alle Bewohner auf der Spitze des Schuttberges saßen und grillten und dazu warmes überschäumendes Weizenbier tranken. Die Rote war dabei am ausgelassensten, war sie doch endlich die Bürde des Hausbesitzes los. Der Schnauzer umschwanzelte sie, während sie das dritte warme Weizenbier überschäumen ließ und die rote Katze aus dem Parterre mit in süßen Senf getauchten Debreczinern fütterte, die Katze mag keinen scharfen Senf, und außerdem soll man Katzen nicht mit Schweinefleisch füttern, sie werden krank davon, tödlich krank, die rote Katze schnurrte und stupste die Rote und rieb sich an ihrer dürren Hüfte, derweil der Schnauzer weiter um sie schwanzelte und ihr Neubaupläne unter die Nase hielt, ein Hochhaus ganz aus Glas sollte entstehen, ein solches Hochhaus wäre der Schlager für meine Betrachtungen, ich könnte bis in die hundertste Etage den Frauen unter die Röcke schauen, obwohl, Frauen in Röcken sind heute eher die Seltenheit, dafür könnte ich ihnen in die Hosenbeine spähen und mich über Sockenmoden auslassen, jedenfalls nach dem vierten warmen überschäumenden Weizenbier und nachdem die rote Katze die Debrecziner mit süßen Senf erbrach, sie hatte in ihrem Schreck über das einstürzende Haus mehr genascht als ihr bekömmlich war, juchzte die Rote und bestellte ein zweihundertelf Stockwerke großes Haus.

Inzwischen waren die Kamerateams der privaten Fernsehgesellschaften angerückt und drehten die Szene, doch sie war ihnen zu wenig entsetzlich und so bauten sie schnell eine Kulisse auf, die meinem Gegenüber glich und beschlossen, sie morgen einstürzen zu lassen und zu filmen und dann hätten sie die Katastrophe komplett, doch in der Zwischenzeit ist der ungarische Autor Miklós Mészöly gestorben, was kein Ereignis für sie ist, doch dafür wurde die rote Katze mit Magenkrämpfen in die Tierklinik gefahren, was eine heißere Geschichte ist, und so werden sie mein Gegenüber morgen nicht ein zweites Mal zusammenfallen lassen und ich kann meine Betrachtungen an der errichteten Doublette fortsetzen.

25. Juli 2001
Nächtlicher Mückenflug um die Laterne. Dahinter vergessenes Licht in der Stube des Schnauzers. Es scheint blasser als das Neon. Neben der Dolde am Ziergiebel schläft ein Täubchen. Aus der Ferne rumort die Stadt durch das geöffnete Fenster. Die warme Nacht lockt die Menschen vor die Türe.

Nicht so in meinem Gegenüber. Hier lockt die warme Nacht die Menschen in die Betten. Nicht um sich miteinander zu vermischen, sondern um im müden Schein der Schlafzimmerlampe über die Hitze zu klagen. Ich höre ihr Ächzen über dem Rumoren der Stadt. Ich rieche den Schweiß, der ihre Laken tränkt. Nur ein paar Sonnentage und schon jammern sie sich die Regenmacher herbei, um in die altgewohnte Klage zurückzufallen.

Man sollte ihnen doch die Fenster einwerfen, damit sie eine andere als die eigene Luft zum Atmen haben. Doch wäre ihnen dadurch nicht geholfen, sie würden nur ersticken wie gestrandete Wale. Darum Schluss mit der Mär der letzten Monate, hier die ultimative Wahrheit zu meinem Gegenüber, es ist kein Haus, kein Nekrodomium, keine Mutantenfabrik, weder Weltraumschleuse noch Sitz der Weltverschwörung, es ist nur verlorene Zeit, zu Stein gewordene verlorene Zeit, in der sich müde Erinnerungen rekeln.

 

26. Juli 2001
Die Gasse im Sonnenschein, mein Gegenüber verschattet im milden Licht des Widerscheins, ein schmuckes Stück. Schmuck die Paradefenster links und rechts der Belletage. Drei Halbsäulen rahmen die Doppelfenster ein. Vielfach betrachtet und beschrieben und doch nie ganz erkannt. Erst zu meiner Betrachtung über die Erntezeit, sah ich den Säulenschaft. Er misst ein gutes Drittel der Höhe. Der Sockel selbst ein Rund mit dorischem Fuß. Auf ihm der Schaft im dorischen Stil, von einem Ring begrenzt, über dem die Säule glatt geputzt in die Höhe strebt. Ein Trick nur, um das Fenster zu strecken. Doch das ist nicht das Übersehene, es sind die in die Kehlungen hineingesetzten Relieffüllungen, Stäben gleich. Eine Handbreit unter dem Begrenzungsring brechen sie ab und geben die Kehlung frei. So wirkt der Schaft als sei er von einer Korngarbe umkränzt, und die aus ihm strebende Säule gleicht mit einem Male einem himmelwärts gerichteten Dankgebet. An jedem der Paradefenster drei Gebete.

Ein frommes Häuschen mein Gegenüber, auch wenn es mich nicht frommt, das es so leblos ist. Die Ferienzeit, heute begonnen, lässt es noch lebloser wirken. Leblos, lebloser, gegenüber.

Hurra, der Leblose zerfleischt die Rote, der Schnauzer fängt ihr Blut in einer Opferschale auf, die Unscheinbaren bohren dazu einmal öffentlich in der Nase, die Fernsehsüchtige nimmt alles auf Video auf, die Namenlosen outen sich darauf als Kakerlakenzüchter und der Dosenöffner der roten Katze pinkelt Parterre zum Fenster hinaus in die Gasse. So lebendig könnte das Leben. Könnte ... kommt wohl von gönnen.

27. Juli 2001
Die Sonne strich über mein Gegenüber, ohne dass es sich regte. Die Fensterhöhlen klotzten mich an, verschlossen und dunkel und ohne Geheimnis. Es war eher ein stupider Blick, wie der Blick in einen ausgetrockneten Brunnen. Es war Fassade, nur Fassade was ich sah, so ganz ohne Reiz, um in der Fläche Licht und Schatten zu suchen und über ihre Farben nachzudenken. Somit wandelte sich das Dreidimensionale der anderen Seite ins Eindimensionale, in die Linie meiner Abwehr. Wie der Suppenkaspar wollte ich rufen, nein, ich mag mein Gegenüber nicht, nein, mein Gegenüber mag ich nicht!

Jetzt tanzen die Mücken um das Neon. Ich sitze im Dunklen, um nicht zerstochen zu werden. Drüben sitzt man aus dem gleichen Grund hinter verschlossenen Fenstern. Drei sind es, die sich derart verbarrikadieren. Der Schnauzer, der Leblose und die Fernsehsüchtigen. Gemeinsam warten sie darauf, dass die Stunde verstreicht und sie sich zu Bett begeben können. Sie warten unbewegt wie verlassene Katzen hinter der Haustüre auf die Rückkehr ihrer Büchsenöffner.

Aus der Gasse dringt Kindergequake durch mein geöffnetes Fenster und verliert sich alsbald in einer Haustüre. Die Schritte und das Geschäker der Kneipengänger löst die kurze Stille ab. Sie werden bis in die tiefe Nacht die Stille immer wieder unterbrechen. Es ist eine warme Nacht, die die Gemüter erhitzt. Irgendwo wird man sich an die Hauswand drücken, aus Lust oder aus Zorn. Wenn ich es nicht höre, werde ich es nicht sehen, und dann wird es für mich nicht geschehen sein.

28. Juli 2001
Also diese Skulptur sieht aus wie aus Vietnam oder Korea, meint die abgemagerte Säuferin mit ihrem Kumpanen im Schlepptau vor dem renovierten Laden. Vietnam oder Korea, England oder Italien, ist ja ein und dasselbe. Die beiden jungen Burschen in Leibchen und sommerlichen Pimpfhosen, die den alten Schneiderladen gerade aufsperren, haben dazu keine Meinung. Die Figur, immer noch derselbe hässliche Kerzenleuchter, ein Stück malträtiertes Holz, ein Wurzelmännchen, das ein Männchen auf dem Rücken trägt, in dessem Kopf eine rote Kerze steckt, Christopherusmotiv einmal anders, diesmal gar asiatisch. Die Säuferin zieht mit ihrem Kumpan weiter, die Burschen sperren den Laden wieder zu.

So viel Bewegung genügt meinem Gegenüber für einen Tag. Die Rote ist es zufrieden. Das Haus lebt, sie lebt auch. Sie lässt sich in den Muttersessel fallen, schlägt ihren Rock hoch und streichelt sich, ein Stockwerk tiefer tut es ihr die Fernsehsüchtige gleich. Ich sehe beide nicht, darum wird es wohl so sein, wenn ich es mir so denke. Ein schöner warmer Samstag, die Wäsche ist gewaschen, die Kleider sind gewechselt, die Fenster bleiben geschlossen.

Gestern bekam Thomas im Wirtshaus an der Ecke ein säuisches Schweineschnitzel für dreißig Mark serviert, er nagelte es unter den Tisch, dort wird es vergammeln und mit seinem Leichengestank weitere Gäste vertreiben. Ein weiterer Grund, die Fenster geschlossen zu halten. Der Verwesungsgeruch des Erbrochenen schlechter Küche rund herum würde einen ansonsten anwehen.

29. Juli 2001
Verriegelt und verrammelt liegt es mir gegenüber. Einzig beim Leblosen ist das Fenster sperrangelweit geöffnet. Es ist eben nicht so einfach, bei dreißig warmen Graden unterm Dach in seinem eigenen Dampf zu überdauern.

Die Wirkung dieser kühnen Tat ist fatal. Regengraue Nebelfetzen jagen heulend zum Fenster hinaus, verwirbeln sich über dem Dach zu einer Windhose. Der Sog nimmt zu, reißt die Luft aus den tieferen Etagen. Der mitgezogene Staub verdunkelt die Trombe. Die ersten kleinen Accessoires werden mitgerissen, doch bevor ich die papierenen Bewohner folgen lasse, die Rote, die Fernsehsüchtige, ihr Kleinkind zuerst, nein die rote Katze Parterre noch davor, blicke ich für einen Moment zur Seite, damit sie in Atemnot auf den Fußboden sinken und sich in den Dielen verkrallen können, doch ehe ich sie die Bretter herausreißen lasse und sie in Fehlboden fallen und durch Decken stürzen lasse, blicke ich für einen Moment woanders hin, auf die Fenster, die sich nach innen wölben und mit grellem Ton zerspringen, geschossartiger Splitterregen zersiebt das papierene Fleisch ihrer blutleeren Körper, Schreie, doch ehe ich dem Schreien noch Gegurgel folgen lasse und die Farbe des Blutes blutleerer Körper herbeimische, blicke ich für einen Moment zur Seite, blicke auf meinen Kalender und sehe, es ist Sonntagnachmittag und mein Gegenüber ist sich selbst entrückt, also entrücke ich ihm auch, suche das aufkommende Ungewitter unter Kastanien in einem Biergarten ...

30. Juli 2001
Mein Gegenüber erstand zu Kaisers Zeiten. Kaiserlich ist das Wetter, kaiserlich der Monat, der zur Neige geht, kaiserlich die Farbe der anderen Seite. Heute würde ich das Bild mit Blattgold bedecken. Große goldene Flächen würde ich setzen, dazwischen aber schwarze Aufrisse, Gruben, in denen in fahlem Licht zerwürfelte Gebeine liegen. Schwarz und Gold, die beiden kaiserlichen Farben, wären dominant. Das Blaugrau der Gebeine wäre die Textur des Bildes.

Ein Zeppelin fliegt lautlos durch die Etage des Leblosen. Rot, weiß, grün, die Bemalung, Fujifilm, der Schriftzug. Er fliegt sehr tief. Für einen Augenblick spiegelt er sich im Paradefenster der Doppelgaube, dann, ich blicke vergeblich in den Himmel über der Gasse, ein, zwei lange Augenblicke verstreichen, sehe ich ihn durch das Zimmer der Unscheinbaren fliegen. Mühelos hat er die Brandmauer durchstrichen. Mühelos vermag er sich durchs Dachgeschoss bewegen.

Vorbei. Die Hitze füllt die Gasse bis zur Traufe. Weitere Hitzewellen stürzen vom Dach und verdichten die schon gestaute Luft. Die Fenster sind verschlossen, zugezogene Vorhänge spenden den zerwürfelten Gebeinen Schatten. Sie schwitzen nicht und verlangen daher nach der Kühle der Dunkelheit. Auch ich werfe meine rote Jalousie zwischen das Licht und mich. Roter Schatten spendet mir blutwarme Kühle.

31. Juli 2001
Ausgeflogen. Man flieht der Sommerhitze in die Sommerhitze. Leerstand beim Schnauzer. Die Rolläden sind vor die Oberlichte gesenkt. Verlassen das Schellenblümchen auf der Fensterbank. Kaum hat es seine letzte Blüte abgeworfen, zeigen sich neue gelbe Tupfen. Daneben langatmiges Aaronsterben.

Ausgeflogen die Unscheinbaren. Gesenkte Jalousien und Rolläden. Der Grusch auf der Fensterbank im linken Fenster zusammengeschoben. Wasserpfeifengeschläuch, Gießglas, Kelch und Holztulpe, dahinter welkendes Grün.

Ausgeflogen die Rote. Sie liegt auf dem kühlen Grab der Mutter und stöhnt vor Hitze. Hitze nach dem verpassten Leben, im Mutterschatten. Sie wird hitzig bleiben.

Ausgeflogen der Student. Die Lilie im Fenster schickt sich zur zweiten Blüte. Ausgeflogen auch die Fernsehsüchtige, sie hat eine Suite mit Fernseher im Badezimmer bezogen, dort liegt sie nun in einer kühlen Wanne. Zum Strand nimmt sie einen tragbaren Bildschirm mit. Deutsches Fernsehen wirkt im Ausland noch bizarrer.

Ausgeflogen die rote Katze. Nein, es hängen keine Zettel an den Laternen des Viertels. Sie jagt Mäuse vor dem Ferienhaus und prügelt sich mit den Bauernkatzen. Ausgeflogen auch die Täubchen, sie schmoren auf flacheren Blechdächern und gewöhnen sich dort an Pfannentemperaturen.

Eingeflogen Horden von schlecht gekleideten Touristen, die sich unter schlecht gekleidete Einheimische mischen. Nur die Schwulen unter ihnen , die mit den Knödeln im Schritt, wird es in mein Viertel verschlagen, nur sie haben die Chance, meine andere Seite zu sehen. Auch wenn sie kaum besser gekleidet sind.