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Januar Neujahr
2001 Still hat der erste Tag im neuen Jahr begonnen. So still wie alle ersten Tage in einem neuen Jahr. Kinder werden auf der Suche nach Blindgänger der nächtlichen Böllerei durch die Gassen streifen, Paare untergehakt spazieren gehen, die verrauchten Köpfe auslüften, und die Vereinzelten sich in Kneipen zusammenfinden und in selig miefender Gemeinsamkeit tristen Katergefühlen nachhängen. Unbewegt mein Gegenüber, links Vorhangspalt, rechts rote Plastiktüte im Fenster, darunter ein Ansatz einer neuen Aaronblüte, und eine weitere Etage tiefer bunte Werbebotschaften aus dem Fernseher. Ein neues Jahrtausend nimmt seinen Anfang. Seine Dimension machte mich sprachlos. Ein Gedicht wollte ich dieser Zeitenwende widmen. Auf der Schneide zwischen zwei Jahrtausenden, einem vergangenen und einem aufziehenden, balancieren. Doch ich versagte es mir angesichts dieser Größe, die ich empfand. Schweigen, gebot mir die Stunde. Wie tröstet mich nun die empfundene Alltäglichkeit dieses Neujahrtages, diese stille unbewegte Lebendigkeit meines Gegenübers. Auch Größtes ist nur Kleinstes in seinem Währen. Kartätsch! Ein Blindgänger wurde in der Gasse gezündet. Kinderspaß. Ein Anruf meines Sohnes ereilt mich, er liegt fiebernd darnieder, wir sollen ihm beistehen. Ein neues Jahrtausend hat begonnen ... 2. Januar
2001 Seitdem ich gelesen habe, dass man mit dem rechten Ohr analytischer und mit dem linken sensibler oder intuitiver lauscht und dementsprechend auch das Telefongespräch lenkt, wechsele ich bewusst den Telefonhörer von einer Hand zur anderen, um mich diesem Schema zu entziehen. Dabei habe ich dies zuvor, sofern ich mich zu erinnern glaube, auch schon getan. Jedenfalls bei längeren Gesprächen. Ich mag solch einseitiges Beschwatztwerden nicht. Überhaupt bin ich so weit studiengläubig, dass ich mich, sobald ich eine Studie über dies oder das gelesen habe, beinahe zwingend das Gegenteil vom behaupteten Verhalten an den Tag lege. Vielleicht sollte man einmal eine Studie darüber machen, inwieweit ich darin Durchschnitt bin. Wäre ich es, hätte ich einige schwierige Entscheidung zu treffen. Egal wie ich mich verhielte, ich wäre der Gelackmeierte. Andererseits könnte man die Studie nicht allzu rasch wiederholen. Denn widerborstige Typen wie ich, würden sich darauf gewiss mehrheitlich an künftige Studienergebnisse anpassen, um die sie bezeichnende Studie zu konterkarieren. Obwohl, ich täte es nicht, ich würde vielleicht Würfeln, welcher Studie ich folgen soll. Gerade Zahl nein, ungerade Zahl ja. Und dies wiederum zufällig wechselnd, um der Egalisierung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein Schnippchen zu schlagen. Oder aber, ich würde mich weigern, künftig überhaupt irgendwelche schwachsinnigen Studien zu lesen. So wie ich heute wieder eine unter Vermischtem lass. Danach nehmen Männer den süßen Geruch von Säuglingen besser wahr als Frauen. Selbstverständlich schmeichelte mir diese Studie ungemein und schien mir augenblicklich glaubwürdig. Womit ich mich im Grunde wieder in Widerspruch zu meiner angeblichen Studienrenitenz stellte. Egal, jedenfalls lässt sich mit dieser Studie mancher Erdmutter eine lange Nase drehen. Eine Bewegung in der Etage der Roten zerreißt den Faden meiner Spintisiererei. Eine unsichtbare Hand öffnet das zweite Fenster einen Spalt. Die Bewegung war so ohne jede Hektik, dass es niemals die Rote sein konnte, die da den Vorhang für einen Augenblick zur Seite hob. Hat sie also doch das Haus verkauft und sich still und heimlich davon gemacht? Vielleicht hat sie meine Vermutung über sie gelesen und will mir so eine lange Nase drehen. 3. Januar
2001 Bei den Unscheinbaren blassoranges Schummerlicht. Spot auf die rechte Gaubenseite. Dort die rote Plastiktüte, faltig geöffnet wie eine Azaleenblüte. Ein rasierter Preisboxerschädel wackelt durch den Raum. Ich sehe ihn erst seit zwei Tagen. Wahrscheinlich eine Mutantengeburt, die sich die Blonde zurückgehalten hat. Der Rest meines Gegenübers bleibt verschattet. Bruchlos vermischt sich das Dach mit dem Nachthimmel. Wo sich die Dunkelheit so tief senkt, werden sich die Schrate der wilden Jagd in Nischen und Risse versenken und den Bewohnern unvergessliche Albträume bescheren. Vielleicht werden sich darauf die Gelichter der anderen Seite lebendiger zeigen. 4. Januar
2001 Tote Hose gegenüber. Grund für die gestrige Umstellung in der Studentenetage mag der Zuzug eines Beischläfers gewesen sein. Der Nesselvorhang ist zugezogen, als läge man noch schlummernd Arm in Arm. Im Zimmer daneben schimmert schwaches Licht durch das vorgehaltene Tuch. Tote Hose bei den Unscheinbaren. Kaltes Licht strahlt gegen die Decke, hebt zwei Leuchterschienen in den Blick. Lagerhallenambiente. Die Weihnachtsgirlande als dunkles Gedrahte im Fenster. Böse glotzt die Laternensonne unter arrangiertem Blattwerk zu mir herüber. Die Gliederpuppe unter dem Wasserpfeifengeschläuch scheint auf dem Sprung. So unberührt wie dieses Gewinde im Fenster vor sich hinstaubt, wird es nur wehmütige Reminiszenz an vergangene Hippietage der Kopfbändigen sein. Ein Relikt an Zeiten, da sie sich selbst noch als jemand wähnte. Eine Illusion, für die ihr heute offensichtlich Kraft wie Droge fehlt. Mein rotes Rollo zerschneidet die Betrachtung. Soll der Regen das Elend in die Gosse spülen. 5. Januar
2001 Das Haus der Roten lebt eine stille Abweisung, einen Hauch selbst gewählter Vereinzelung. Man möchte Angriffslust in sein Wesen deuten, doch das ist es nicht. Es ist eher ein Moment der Verletzlichkeit, den es mich spüren lässt. Jene abweisende Verletzlichkeit der Schönen, die um die Beschmutzung durch ungenierte Blicke wissen. Hingegen teilt sich mir das Haus zur Rechten in offener Freundlichkeit mit, mit jener heiteren Unbeschwertheit, die Sonne und Lebenslust verrät. Ist das eine Haus die verschlossene Schöne, so ist dieses die natürliche Schönheit, das Sonnenkind, das ohne Eitelkeit um seine Schönheit weiß und das darob kein dreister Blick verletzen kann. Es bewahrt eine innere Pracht, die es erwärmt und jede Zumutung an sich abgleiten lässt. Zwei seltsam verschiedene Seelen sind hier zusammen gerückt, so seltsam verschieden wie das Wesen ihrer Besitzer. Gäbe ich ihnen eine Vergangenheit, wäre das Haus der Roten, das Haus eines Metzgers. Das Haus daneben ließe ich indes einem Tischler. Zwei Farbkleckse, der blaue Kelch und die gelbe Laterne, sind es, die mich an diesem grauen Nachmittag besonders ansprechen. Auf meiner Leinwand würden diese beiden Farben das Gegenüber bis zur Unkenntlichkeit beherrschen. Am rechten Bildrand aber würde, in den Vordergrund drängend, der weiße Tupfer der aufbrechenden Aaronblüte über in den Hintergrund fliehendem Grün prangen. 6. Januar
2001 Warum bist du so geil, warum denn nur? Gedehnt schwingt diese Frage einer Frauenstimme vor meinem gekippten Fenster an mein Ohr. Mit schwerer, trunkener Stimme wiederholt vorgetragen, und sich in der Gasse verlaufend. Nach rechts verhallend, in die Richtung, wo einst der Schuster seinen Laden hatte. Gedanken über die Feste des Schusters steigen in mir auf. Feste an denen ich nie teilnahm, nie wirklich etwas darüber erfuhr, nur dunkles Gemunkel vernahm. Nur einmal, vor Jahren in einer Silvesternacht, schmeckte ich für fünf Minuten hinein. Verhaltene Aggressivität, unterdrückte Lüsternheit, schwang im Raum und lies uns fliehen, mit Floskeln auf den Lippen, der Höflichkeit gerade noch genügend. Ein Taxifahrer sprach uns unlängst auf den Schuster an, ob er noch in der Gasse sei, wollte er wissen. Auch er sprach so, als wüsste er von unaussprechbaren Geschehen, die dort geschahen. Er hatte den gleichen Ton in der Stimme wie alle, die diese Feste kennen gelernt hatten und mir fragend zuraunten, sobald sie erfuhren, das ich vis-a-vis der Schuhmacherei wohnte. Ja, eine wilde Kneipe, sei der Laden zur Nacht gewesen, wo sich allerlei Gelichter trafen, meinte der Taxifahrer. Ich sah nur die Gestalten, die des Nachts aus dem Laden stolperten oder die Hauswand entlang schlichen, um die Ladentüre hinter sich zu schließen. Es war der Auswurf, der dort seinen Eimer fand. Einblick hatte man nicht. Die Rolläden waren all die Jahre gesenkt, Gardine und Vorbau im Schaufenster ließen kaum Licht und keinen Blick ins Innere. Tagsüber war er ein angenehmer Mensch, mitteilsam und gewitzt, und ein perfekter Schuhmacher, der sein Handwerk mehr als andere verstand. Ein Meister, der nach dem Krieg als Flickschuster begann. Ein Edelfischzüchter obendrein. Ein vier Meter langes Amazonasaquarium lud immer wieder zum Verweilen ein. Wie viele Stunden verbrachte ich dort, mit dem Blick ins Aquarium über Gott und die Welt ratschend. Aber er war kein Dr. Jekyll, nein so groß war die Wandlung unterm Licht der Sonne nicht, unbesehen nahm man ihn auch jenen Mr. Hyde ab, den man vom Geraune her in ihm vermuten durfte. Ja, Heilig Drei König Abend, der Fasching beginnt, und draußen herrscht Schusterlicht und Schusterwetter. Womöglich war die Frau, deren Stimme ich hörte, auf der Suche nach der schaurigen Flüsterkneipe, die einst hier in meinem Gegenüber betrieben wurde. 7. Januar
2001 Heimelig schneit die stille Zeit aus. Morgen wird in der Hektik des Alltages der Schnee zur Plage werden. 8. Januar
2001 Wie fühlt sich eigentlich ein Haus, in dem sich so wenig regt? Fühlt es sich elend oder erleichtert? Mir scheint, es vereinsamt innerlich, wird melancholisch und seltsam. Geht es so weiter, wird das Haus der Roten Züge von Hospitalismus annehmen. Eines Tages wird es sich weigern, seine Schlösser zu öffnen und still und monoton vor sich hinnicken. Nur gut, dass es nicht mit Ziegeln gedeckt ist, sonst würden dabei noch die Dachpfannen in die Gasse schlagen. Es muss die Rote gewesen sein, die heute Dachlatten an die Hauswand lehnte, um vor möglichen Dachlawinen zu warnen. Gleichwohl ist sie seit Tagen nicht zu bemerken. Kein Licht in ihrer Etage, kein geöffnetes Fenster. Warum auch, wo das Haus nicht lebt, mag auch sie nicht leben. 9. Januar
2001 Närrisch ist die Unbewegtheit, die ich seit Tagen protokolliere. Gut, mal sitzt ein Student im Fenster und feilt sich die Fingernägel. Mal läuft der Fernseher im Studentenzimmer hinter einem vollgehängten Wäscheständer. Mal dreht sich der Schnauzer in seiner Kanzel, oder die blonde Unscheinbare filzt die rote Plastiktüte im Fenster, die dort seit Weihnachten steht. Mal gibt es Licht und Kopf in der Etage des Leblosen. Doch ansonsten rührt sich nichts. Kein Ziegel bricht aus der Wand. Kein Taubenpärchen vermittelt poetische Bilder. Kein verirrtes Fledermäuschen gibt Anlass, über Schauderhaftes zu sinnieren. Närrisch diese Unbewegtheit, weil sie mir Gegenüber ist, weil ich sie beschreibe und sie spekulativ fülle. Vielleicht setze ich in die tote Etage der Roten eine Geheimgesellschaft, die in offener Verborgenheit die Geschicke der Welt lenkt. Darüber die Etage der Erleuchteten, in der sie, in Lichtkleidern einherschwebend, sich über die Hitze des Kundalini austauschen, und darunter male ich die Studenten zu Bodhisattvas, die hier voll gnadenreichem Mitleid die Gebete der Gläubigen verwalten und von Fall zu Fall erhören. Mein Gegenüber als esoterischer Nabel der Welt, eine Gralsburg, ein Berg Ararat oder Meru, göttlicher Gipfel auf dem die Weisen von Akasha unerkannt von allen den sagenhaften Stein Chintamani hüten und durch die Schlote ausfahren, um des Nachts in offene Ohren lautere Botschaften zu flüstern. Hurra, halten wir uns die Maske vor und stürzen uns unter die Gelichter, auf dass wir diese Zeit unbeschadet überstehen. Später, erwidert der Himmel das Gesagte. Mondfinsternis. Ein stahlblauer Strich auf dem Kaminzylinder, kündet vom sich verschattenden Mond. Verliert sich mit fortschreitender Finsternis zu einem grauweißen Flähen. An den Bördelungen zwei Lichtpunkte wie sternengleiche Irrlichter, die allmählich verglimmen. Der Mond in meinem Rücken zur Hälfte verschattet. Ein zarter Bogen der Schattenriss der Erde, mit einer unmerklichen rotbraun ausfransenden schwarzgrünen, blauviolettstichigen Aura, Abbild schützender Atmosphäre. Darunter Übergang von eisigem Grau zu leichtem Orange, als lugte der Dotter aus dem Eiweiß eines wachsweichen Eies. Der Schein auf dem Zylinder nur noch ein Ahnen, dazu ein müdes eisiges Pünktchen, dann erlischt auch es. Der Mond nun ein weißes Auge, das hoch zu den Sternen blickt. Schließlich ein letztes Glänzen über seinem rechten Auge, wie die Anmutung einer polierten Glatze. Dann hängt er im Nachthimmel, weitflächig cremeorange durchs Glas gesehen, kirschbaum- bis kupferfarben blaugrün marmoriert mit bloßem Auge betrachtet, und wandelt sich mählich zu einer fernen mächtigen Kugel aus feinstem Holz. So müsste eine braune Sonne vor sich hinglimmen. Gegenüber steht niemand im Fenster, um das Geschehen in meinem Rücken zu beobachten. Mondlose Nacht ... Das weiße Auge des Mondes, schwimmend auf blutunterlaufenem Augapfel blickt gen Norden, in die Kälte, schickt Sonne in die eisige Nacht. Und löst sie auf, die Finsternis. Was nur wird der Konvent der Weltenlenker gegenüber hierüber raunen. 10. Januar
2001 Im Fenster des Schnauzers entrollt sich die cremeweiße Blüte des Aaron. Sie wirkt wie eine zarte Damenhand, die zu einer kelchförmigen Mudra gehalten wird. Eine sehr stille Blüte. Winterzeit, Tod und Leben ansprechend. Hinter den Gardinen der Roten tagt die Weisheit der Welt. Ihre Gedanken scheinen wenig beflügelnd. Jedenfalls rührt kein Hauch an dem zarten Behang. Wie auch, wo sich doch Weisheit gemeinhin selbst genügt. Die Blonde Unscheinbare taucht für einen Augenblick im Fenster ihrer Gaube auf. Blickt hinauf zum First meines Hauses, auf dem ein Taubenpärchen sitzt. Ich sehe es im Oberlicht des Leblosen. Dann greift sie sich die rote Plastiktüte und lässt sich zurückfallen. Direkt unter dem Fenster muss also eine Couch oder ein Sessel stehen. Mit was mag sie sich nun, aus der Tüte beschäftigen? Ich neige dazu, ihr einen Dildo in die Hand zu geben, doch höchstwahrscheinlich wird es eine andere Art der Handarbeit sein, die sie sich aus der Tüte nimmt. 11. Januar
2001 Ein breiter Kamin verdeckt seine Front, so dass ich nur links und rechts zwei Ecken sehe. Bislang habe ich diese Konstruktion nicht erwähnt, da sie nichts Beachtenswertes bietet. Tagsüber ist es schmutzgrauer Glasverschlag mit einem Hauch ursprünglichen Grünschimmers jener alten drahtverstärkten Scheiben. Eigentlich müsste zur Nacht ein leuchtendes Zelt das Dach krönen, sobald das Licht im Treppenhaus angeknipst wird. Eigentlich, doch diesem siechen Gebäude scheint jede Bewegung zuviel. Unverändert bleiben die Schrägen zu beiden Kaminseiten nächtlich verschattete graublaue Winkel. Nie bemerke ich auch nur den Hauch eines inneren Scheins. Offenbar tappen sie dort in meinem Gegenüber im Dunklen über die Stiegen, oder halten sich mit einer Laterne ein Licht vor, damit sie nicht die Treppen hinunterpurzeln. Doch die Rote wird solchermaßen abwechslungsreiche und streitstiftende Beleuchtung sicher ausgeschlossen und die nichtigste Erhellung gewählt haben. Ein trübes Gefunzel, in dem alles im Schatten bleibt. Es genügt den Schatten, um den Weg in unbelebte Wohnungen zu finden. Würde ich mein Gegenüber zeichnen, würde ich die Winkel des Glaszeltes übersehen. Sie störten nur die Symmetrie, wirkten wie der unbeholfene Versuch eines Abbildes. Also werde ich dem Glaszelt über dem Lichtschacht auch weiterhin keine Beachtung schenken. Ignoranz gegenüber der Hässlichkeit kann eine Tugend sein ... 12. Januar
2001 Auch mein Gegenüber scheint zeitlos. Bei den Unscheinbaren leuchtet noch die Weihnachtsgirlande, und bei den Namenlosen kleben noch die Sterne an den Scheiben. Wie lange noch? Letzter Termin wäre, hält man sich an den Brauch, Lichtmeß, um die weihnachtlichen Reste zu entfernen. Bei diesen Gedanken fällt mir meine Fensterdekoration ins Auge. Glitzersterne und Grinsemond. Ich werde sie noch eine Weile unbeachtet aller Gepflogenheiten belassen, sonst stünde wieder Fensterputzen an. Ansonsten schweige ich über das, was mir so düster gegenübersteht. Seine Leblosigkeit verärgert mich augenblicklich, und ich denke neidvoll an das Puppenhaus, in das zur gleichen Zeit mein Bruder aus seiner Wohnung blicken kann. Nur gut, dass ich mein rotes Rollo zwischen die gebotene Eintönigkeit und mich werfen kann. Einen Moment noch ... die blonde Unscheinbare steht in der Gaube, blickt starr und kauend in die rechte Ecke, in der wohl der Fernseher steht. Ein verwischter Blick zu mir, dann zwanghaft starres Glotzen auf den Bildschirm. Groß wird ihr Gerät nicht sein, denn es verflimmert die Beleuchtung im Raume nicht. Und aus ... sie ist verschwunden. Unbemerkt verschwunden, typisch für sie. Jetzt ziehe ich am Rollo ... 13. Januar
2001 Dort drüben ist kein Schlachten und keine okkulte Verschwörung im Gange, sondern währt nur Schnarch und städtische Angst vor Nähe und Ansprache. Die Rote, immer noch nicht zurück, zeigt regelmäßig Erschütterung, wenn mein Gruß sie trifft. Das Schauen des Leblosen oder der Unscheinbaren hinab zu mir bleibt scheues Wegschauen. Erwiderte Blicke gelten ihnen als grimmige Zumutung. Von Sonnengelb und Melange im Licht wandeln sich die Fassaden im Schatten zu stumpfen Sand und Grauorange. Zartblauer Nebelhauch darüber zieht die roten Töne kaum merklich ins Bräunliche hinüber. Ordnung bei den Unscheinbaren. Die rote Plastiktüte hat sich wieder zur blauen Tüte ins Fenster gesellt. Die Laternensonne, die gestern noch etwas schräg stehend auf mein Nachbarhaus blickte, ist wieder plan gegen die Scheibe gerückt. Der kleinbürgerliche Wahnsinn kehrt sich nach außen, wie nach innen. Hurra, wir sind so gemütstot, dass uns kein Leben mehr erschüttert. Leer das Leben, leer das Herz, leer das Hirn, gefüllt die Börse! 14. Januar
2001 Die Gasse eine schattige Schlucht. Aquariumbeleuchtung bei den Leblosen. Licht auf bei den Unscheinbaren. Der Preisboxer der Blonden rückt die Galgenleuchte gegen das rechte Fenster über die Couch, die darunter steht. Die Blonde muss mit den Qualitäten ihres Mutanten zufrieden sein, jedenfalls sah ich sie seit Weihnachten nur einmal zur roten Tüte greifen. Darunter von altmeisterlicher Sparflamme beschienen der Schnauzer. Bauch und Becken angestrahlt, das Gesicht nur angehaucht von gelben Licht telefoniert er stehend die rechte Hand in der Tasche. Auch heute war kein Kleiderwechsel. Er trägt nach wie vor das rot-weiß karierte Hemd. Wahrscheinlich sind Frau und Tochter zum Schifahren in die Berge, und er lebt die Hilflosigkeit aller umsorgten Mannsbilder. Schlüpft Tag für Tag in die gleiche Wäsche, fühlt sich nach anfänglicher Heimeligkeit im verschlampten Zustand zunehmend derangierter und weiß keine Lösung, da ihm kein Weib neue Wäsche aus dem Schrank reicht. Wahrscheinlich trinkt er auch zu wenig, obwohl heute morgen stand ein Krug Wasser auf seinem Schreibtisch. Ein Krug Wasser, Zeichen dafür, dass er sich wahrscheinlich weder Tee noch Kaffee alleine kocht. Nicht dass er es nicht könnte, aber für sich lohnt es ihm nicht. Ach wüssten die Frauen wie genügsam ihre Männer ihr Strohwitwerdasein durchleiden, sie würden sorgenvoller abfahren und freudiger heimkehren. Könnten sie sich doch einige Umstände sparen, um ihre tolpatschigen Männchen bei Laune zu halten. Über die Zeilen ist die Nacht hernieder gesunken, der Rolladen des Schnauzers herabgelassen und der Stern von Wolken bedeckt. Nach meiner Sternenkarte müsste es Deneb im Sternbild Schwan gewesen sein, der mir zur Nacht zufunkelte. 15. Januar
2001 Der Blick hängt am Kamin, vor dem Lichtschacht zum Treppenhaus. Erstmals erscheint er mir als ein Gemauertes und nicht als in den Himmel ragende Stele. Jeder rotbraun gebrannte Ziegel ein Stein für sich, geschichtet und aneinander gefügt, kurze Schatten in die Mörtelfugen schneidend. Ein Werk mit Bedacht und Fertigkeit gesetzt. An sich unbedeutend und für gewöhnlich in seiner Vielzahl übersehen, tritt es hervor. Es ist nicht Kunst, auch nicht Kunsthandwerk, es ist ein Kamin, und doch bleib ich berührt von seinem Anblick. An seiner Schattenseite, zugleich Schmalseite nur zwei Ziegel breit, glänzt er verspeckt wie matt poliert. Im Sonnenlicht hingegen, Breitseite bietend, eine stumpfe Farbpalette möglicher Ziegelfarben. Von Mattrot, ja gar einer Spur Rosé, bis hin zu dunklem Rotbraun, das sich ins Blau verschiebt und einen Hauch von kaiserlichem Purpur in sich trägt. Grau die Steigeisen in die Querfugen gemauert. In sanfter Asymmetrie allesamt rechts zur Mitte übereinander gesetzt. Die Mittelfugen in der ersten und zweiten Ziegelreihe treffen auf den linken Bogen der Trittkrallen. Vier Ziegelreihen Abstand zwischen jeder Stufe, ebenso vier Ziegel vom letzten Tritt hinauf zur Krone. Der Schnauzer, zurückgelehnt vor dem Computer, zeigt mir passend zum Blick seine rot-weiß geziegelte rechte Schulter. Immer noch das gleiche Hemd, oder hat er sich einen Satz davon im Ausverkauf zugelegt, der jetzt aufzutragen ist? Wenig bedenkenswert die Frage, wird er doch mit der Rückkunft seiner Frau fraglos auch das Hemd wechseln. 16. Januar
2001 Deutete ich die Lichter meines abendlichen Gegenübers so sternengleich, blickte ich zuerst auf die Laterne vor meinem Fenster. So nah und so trüb, weiß bläuend, setzte ich für sie einen Gott der Mutlosigkeit, der Säufer und Schwermütigen in den Himmel. Das weiße Licht, in der linken Gaube des Leblosen, wies ich dem Gott der Widergänger, Heuchler und Bigotten zu. Das Grün des kahlen Aquariumzimmers stände, wie sollte es anders sein für den Gott der Fischer und der Ärzte. Aber auch eine Totengöttin wär mir hier denkbar heimisch. Trägt das Scheinen dort doch etwas Irrlichtiges, einen Hauch von Moder und Fäulnis in sich. Daneben das rötliche Scheinen der Unscheinbaren verbände ich mit einer Fruchtbarkeitsgöttin. Jedenfalls ist es nicht rot genug, um kriegerisch zu sein, eher neigt es zu amouröser Röte, jenem warmen Anflug der liebendes und begehrendes Erkennen begleitet. Indes würde der Schnauzer heute keine Gottheit stiften, versteckt er sich doch hinter herabgelassenen Rollos. Übrigens hat er auch heute nicht sein Hemd gewechselt. Im großen Zimmer der Studenten ließe ich den Gott der Wärme und der Fülle herrschen, so satt scheint mir das warme Gelb im Bund des Überwurfs. Daneben bei den Namenlosen sähe ich einen Gott der Einsamkeit, Verweser aller Wüsten aus Sand und Eis, weil so fahl, so tief, so unfassbar ihr Licht auf mich wirkt. Es fällt von oben in den Raum, ohne das es seinen Quell verrät. Erhebe ich mich und blicke auf den siebten Stern, das Licht der Kleidermacherin. Es grünt und bläut, doch nicht so dominant, wie dass des Leblosen. Von seiner Ferne zu mir entspräche es Saturn, dem gestrengen Verlangsamer, doch ließe ich es lieber der Göttin des Vergessens, jener segensreichen und fürchterlichen Gottheit, die an der Grenze allen Lebens steht. Sternenzauber, nicht bei der Roten. Eine Bewegung am Vorhang im linken Blick, verriet mir heute morgen ihre Anwesenheit. Ist sie vielleicht beim Kehren gestürzt und gab ein letztes Zeichen mit dem Besenstil, den sie gegen Vorhang schlug? Nein, ich denke es war ein lenkender Gedanke der versammelten Weisheit in dieser Etage, der in die Welt treten wollte und am verschlossenen Fenster zurückprallte, gegen die Gardine schlug und zu Boden purzelte. So ist also auch dieser rettende Wink an der Menschheit vorbeigegangen, und ich wurde zum Zeugen seines lächerlichen Verhallens. 17. Januar 2001 Vorneweg, der Schnauzers hat sein Hemd noch nicht gewechselt. Also wird er doch einen Satz Bergsteigerhemden erstanden haben, die er auf seinen Wanderungen durch die Tiefen und zu den Höhen des Internets aufträgt. Womöglich bewehrt er sich demnächst noch mit Filzhut und Hacklstecken, sobald er sich in seiner Kanzel niederlässt und den Blick auf den Computer richtet. Ein Wagen rollt vorbei und spiegelt eine zarte Lichtkaskade in die Schatten der Traufen, die munter über die Brüche der Kapitäle springt. Das Licht dieses Sonnentages ist herbstlich verschleiert, eine winterliche Drohung fern von frühlingshaftem Künden. Stumpf daher die Farben auch dort, wo sie die Sonne auffrischt. Stumpf die Farben, trüb die Stimmung. Doch um sich dem Trübsinn wirklich hinzugeben, scheint es zu hell. So bleibt gelangweilte Müdigkeit. Sie fügt sich vorzüglich mit der Stimmung meines Gegenübers, dass sich müht, nur ja keine erkennbare Bewegung zu zeigen. Der Aaron noch reinweißer als vor Tagen. Er zeigt etwas von jenem tiefem Reinweiß, diesem Zyanidweiß der Waschmittelreklame, das einen durch seinen Stich ins Blaue noch weißer als Weiß anmutet. Derweil zieht hier der Stich, der das Weiß ins Reine hebt, ins Grüne. Es ist die adelige Blässe der Reinweiß-Variationen. Diese Farbbetrachtung lenkt meinen Blick in den Himmel, knapp über dem First würdest du jene Tiefe sehen, in der das blasse Blau des Winterhimmels ins Weiße übertritt. Hältst du den Blick, changiert die Sicht von Weiß zu Blau, mit schleierhaften Einsprengseln von Indigo. Der goldstrahlende Kamin im rechten Augenwinkel lenkt den Blick zur Seite, hebt zugleich den Himmel ins Marienblau und nach Farbe lechzend, zieht der Blick ein halbes Lid nach unten ins Fenster der Unscheinbaren und juchzt über das Arrangement aus roter Plastiktüte, als Hintergrund für ein krachendes Magenta. Es könnte eine Rolle Kreppapier, ein Rohling für eine Faschingsgirlande sein, die da im Fenster steht. Ebenso könnte es die baumwollene Schutzhülle des ins Spiel gebrachten Dildos sein. Dann aber wäre er von bislang nicht beachtetem beachtenswertem Format ... Zwei Flieger queren parallel mit kurzem Schweif den First, und verwischen meine Betrachtung. Kaum ist das Fliegerpaar hinterm First gen Frankfurt oder Paris verschwunden, fliegt ein Taubenpaar den verwaisten Nistplatz unter der Traufe an. Beäugt ihn nervös, fliegt weg, flattert wieder herbei, turtelt kurz auf der Gaube und hebt erneut ab. Wird es seinen bisherigen Nistplatz tauschen wollen. Es scheint so, die Glucke ist zurückgekommen, der Hahn hinterdrein. Von der Gaube herab luren sie, ob das Nest belegt ist. Der Hahn flattert hinab zum Sims, schnabelt am Geäst des Nestes. Die Frau des Schnauzer ist zurückgekehrt, morgen wird er ein frisches Hemd tragen. 18. Januar
2001 Die Aaronblüte in seinem Fenster öffnet sich darüber nicht. Sie bleibt in sich geschälter weißer Tropfen. Das Arrangement in Blutrot und Magenta im Fenster der Roten wirkt heute blass und verschlampt. Wie konnte es mich gestern nur so ansprechen? Mildes Sonnenlicht flüstert meinem Gegenüber zu, lässt es aus sich heraus mädchenhaft strahlen. Wetterwechsel kündet sich mit Kopfschmerz an. Vom Zug der Wolken her könnte es der warme Wind Italiens sein, der über die Berge drückt. In solch friedlichem Scheinen wird mir die stille Verhaltenheit meines Gegenübers zum verzaubernden Klang. Jetzt mag ich in ihm keine geschorenen, schmalgesichtigen, langnasigen Burschen, keine nervösen Bewegungen der Kupferroten und kein fahles gelbgesichtiges Monden der unscheinbaren Schädel sehen. Dafür wünschte ich mir das Taubenpaar von gestern ins Nest unter die Traufe, um das Bild zu runden. Schade, dass die versammelte Weisheit gegenüber nicht weiß, dass es allein nistende Tauben wären, die ihre Weisungen unters Volk tragen könnten. 19. Januar
2001 Die sich senkende Sonne vergoldet die Wolkenschleier. Müde Sattheit weht mich aus der Betrachtung an, auch sie lasse ich vor meinem Fenster und widme mich wieder meiner Arbeit ... 20. Januar
2001 Die Bewegungslosigkeit, die mich anspricht, mag mich nicht wirklich erreichen. Habe ich doch das gestrige Fest im großen Zimmer der Studenten noch vor Augen. Eine lange Tafel mit Papiertellern gedeckt harrte einen Abend lang der Gäste. Erst spät zur Nacht fand sich eine Runde aalglatter Burschen und Mädchen zusammen, sehr steif ging man zunächst miteinander um. Ersichtlich drehte sich das Thema um die alltäglichen Sorgen, über Klausuren, Kommilitonen und die Eigenheiten der Professoren. Eine Welt, die bald hinter ihnen liegen wird. Gegen Mitternacht löste der Wein Kodex und Thema, mann bildete Grüppchen um die wenigen Mädchen, warf sich in die Brust und gockelte verhalten. Ein besonders Mutiger sah mich vor dem Computer stehen, vom Ende der Tafel aus winkte er mir zu. Ich zögerte, meint er mich? Dann winkte ich zurück, und zwei erwiderten mein Winken. Seit langem wieder ein solcher Kontakt, seit das seltene Grußnicken zur Roten über die Gasse hinweg über Jahre erstorben ist. Ihr sichtliches Wegblicken ist mir jedes Mal heimliche Freude und stiller Ärger, zwingt sie mich doch durch ihre Scheu, meinerseits scheu den Blick an ihr vorbeizurichten. Zur Hälfte abgebrannte Kerzen stehen noch auf der abgeräumten Tafel. Rasch verdüstert der Raum im Aufzug der Nacht und verbirgt die Male ungewohnter Lebhaftigkeit. 21. Januar
2001 Einer jedoch hat sich einen vollen Bauch verdient. Ich sah ihn zuvor vom Küchenfenster aus. Ein Bursche aus der Studentenetage, der als Schatten im Fenster stand. Schwarzgraue Silhouette von gelben Licht umschmeichelt. Auf die Fensterbank hatte er sich gestellt, den Kopf unterm Sturz zur Seite gebeugt und sich ein Händi ans linke Ohr gepresst. Funkschattenverrenkung, in jungen Jahren orthopädisch unbedenklich. Schließlich klappte er das Oberlicht auf und hielt Ohr und Händi in die kalte Nachtluft, den Hals ein wenig streckend gelang ihm die Drehung seitlich kurvend nach vorne ohne ersichtliche Mühe. Wahrscheinlich aber war sein ihm zugesprochenes verdientes Mahl nur ein Geschlammse aus Büchsen oder ein mit Blut und Eiter vermischter Junk-food. Der Leblose
versucht indes, meiner Betrachtung folgend, sich mit Lichtspielchen ein
Gläschen Blut zu erschleichen. Ich verwehre es ihm, dazu ist sein Auftritt
zu einfallslos. Nur von Graulicht zu großem Licht in seiner Gaube wechselnd,
wäre mir für seine Vorstellung nicht einmal eine blutgeschwängerte Mücke
wert. Soll er sich am Rot meines Rollos, das ich vor die Ödnis werfe,
einen rechten Hunger herbeiglotzen. Ein Bild, das viele Bilder löst, insbesondere in diesem Quartier: Heute Schwulenviertel und noch Zuflucht für schräge Vögel, passendes Ambiente für Erben, die sich noch nicht in ihre Rolle gefunden haben. Einst ebenso verrufen als Huren- und Schieberviertel, dazwischen Armeleute- und Handwerkerviertel, davor Judenviertel und davor Bürger- und Beamtenviertel, als Riegel vor die Vorstadt aufs alte Schwemmland gesetzt. Eine kurze bewegte Geschichte über fünfzehn Dekaden. Rotes Hütchen und rosa Winkel, für einen Wimpernschlag im Spiegel meines Gegenübers. Gedankenkaskaden, Bilderfluten auslösend. Dies ist einer jener Momente, in denen Ideen für Romane und Stücke in die Welt treten. Die Sonne scheint jetzt kräftiger, setzt das Gegenüber ins Licht und zeichnet tiefe Schatten. Frischer Wind weht durch die Gasse, Schritte klappern übers Pflaster, untermalen die Stille, die auch fernes Motorenschnarren nicht zu tilgen vermag. Winterliche, schneeferne Beschaulichkeit. Melodisches Geheul einer vorbeifahrenden Rettung. 23. Januar
2001 Das Übliche: Schnauzer im selben Hemd, den Computer fest im Blick. Ausblühende Aaronblüte gegen die Scheibe gelehnt. Das Getüte bei den Unscheinbaren entfernt. Verspiegelte Dunkelheit bei den Leblosen. Unveränderte Weihnachtsdekoration der Namenlosen. Das Übliche. Das Übliche. Die Etage der Roten unbewohnt. Der Schlag gegen die Gardine war ihr letztes Lebenszeichen. Was wäre, wenn sie nun wirklich verwesend unter dem Fenster liegen würde, den Besenstil umkrallt. Würde die Miete ihrer Mieter weiter auf ihr Konto fließen? Würde ihre Putzfrau weiter ihre Wohnung kehren und ihr die Luderspuren vom zerfallenden Körper wischen? Würde sie sie gar Woche für Woche neu bekleiden, weil es die Gewohnheit ihr gebietet. Ein Gedanke, der mich an die Kapuzinerkrüfte erinnert, in denen die balsamierten Toten in Nischen gelegt und Jahr für Jahr zu Allerseelen von den Angehörigen neu eingekleidet wurden. Vielleicht entstände aus der Unbedachtheit der Putzfrau ein neuer Kult und einmal nicht eine reißerische Schlagzeile. Dann würde mein Gegenüber zum ersten Nekrodomium, zur ersten Bleibe, aus der verstorbene Bewohner nicht mehr getragen würden. Ihr Zuhause wäre ihren Seelen Heimstatt. Und über die Zeit wandelten sich die Städte zu echten Nekropolen. Ja, vielleicht ist es dieser Wandel, den ich in meinen Gegenüber entdecken soll. Vielleicht wurde ich ihm deswegen als Berichterstatter gegenüber gesetzt. Ein Täubchen fliegt auf das Dach der Gaube. Es wird das leere Nest noch nicht besetzen ... 24. Januar
2001 Müdes Licht hinter der Weihnachtsgirlande in der Gaube der Unscheinbaren. Ohne dieses spärliche Licht würde mein Gegenüber gleich dem Leblosen in die Nacht fließen. Allein dies müde Licht hält es fest, setzt mir seinen Schatten entgegen. Zuvor sah ich auf einem eingerahmten Kalenderblatt ein Eiland gipfelgleich aus dem Meer steigen. Während der Betrachtung des Bildes dachte ich über die Empfindsamkeit dieses steinernen Aufwurfes nach. Wie mag er sich gefühlt haben, als er einst ins Lichte gedrückt wurde, während andere Gipfel, die mit ihm vom selben Stein waren unter der Wasserlinie blieben? Wie mag er sich jetzt empfinden? Mag er sich so herausgehoben, Jahrtausende von Brandung, Wind und Wetter umspielt, tatsächlich als Solitär wähnen, oder mag er sich in kalte Einsamkeit geworfen denken und darüber immerwährend grollen? Mag mein Gegenüber dort stehen, wo es gründet, oder wünschte es sich in eine andere Gasse, ein anderes Quartier, oder wünscht es sich schlicht ein anderes Gegenüber, dass seine wahre Seele erkennen würde. Ja, wünschte es sich vielleicht andere Bewohner oder ein anderes Nebenan. Ich weiß es nicht. So weit hat es sich mir noch nicht erschlossen. Vermutlich wünscht es sich lediglich sein ursprüngliches, vom Krieg zerstörtes Gegenüber herbei, und würde deshalb gerne die Gasse wechseln, um anderorts vor einem angemessenen Widerpart zu gründen. Mal sehen, ob es übers Jahr sich noch verrückt. Dunkelheit bei den Unscheinbaren, nur noch die Girlande glitzert; zweimal vier Lichter oben, zweimal drei Lichter unten. 25. Januar
2001 Rätselhaft erscheint mir mein Gegenüber, rätselhaft erscheint mir mein Tun. Da steht es da, aufgeschlichtet, gegliedert mit Zierrat versehen, ein lehmiger Klotz in feuchter Nacht, steht da, kaum bewohnt, und ich sitze hier und mache mir Gedanken über dieses Stück Leblosigkeit mitten in der Stadt. Was für eine Stadt, aus der die Provinz nie gewichen ist. Wenige Schritte von der brüllenden Hauptstraße weg, wenige Schritte von überfüllten Kneipen weg, wenige Schritte nur, und du bist einsam, stehst einsam vor abgrundtiefer Kleinbürgerlichkeit. Was für eine Stadt ... 26. Januar
2001 Und um ein weiteres Mal offenbart sich mir ein Geheimnis. Die Sonne aus der Gasse entrückt bestrahlt das Gesims zur Rechten. Die Stützkapitäle glimmen rotgolden auf. Wenige Atemzüge, und schon verliert sich das Licht mit diesen Zeilen. Nein, denke nicht es war der Widerschein der abrollenden Sonne, Spiegelung von den Fenstern meines Hauses. Nein, suche nicht im Äußeren nach seinem Grund. Sieh. Es war nur der Hauch einer Erinnerung an unerinnerbares Sehen. Es war, glaube dir, es war holder Widerschein einer ewigen Seele. Der alchemistische Übergang aus dem Pneuma zum Äther, die chymnische Hochzeit, war in bejahender Erwiderung vollzogen. In der Gaube der Unscheinbaren leuchtet die Girlande in den Tag hinein, kleine helle Pünktchen vor dunkler Höhlung. Jetzt steht das rechte Oberlicht auf. Ahnte man auch dort das Unfassbare, und wollte es mit dieser Geste einladen? Es wird sich nicht bitten lassen. Hingegen wird etwas durch das offene Licht entfliehen. Ein weiteres Sehnen, dass die Sehnenden verarmen lässt. Schwarzes Gewoge über dem First. Vergoldete Schattenrisse wehen gen Norden. Ein Schwarm Krähen hat den Friedhof verlassen und fliegt seinen Nistplätzen zu. Leise surrend folgen Flugzeuge ihrer Linie. Goldenes Licht fällt auf mein Dach. Bald wird die Sonne auch mein Fenster wieder erhellen. 27. Januar
2001 Ich könnte das Fenster öffnen, so wie ich es augenblicklich geöffnet halte, nur einen Spalt nach innen gekippt. Ich höre, wie die Böen sich an der Fassade brechen, die Kamine umspielen, sich in der Gasse verdichten. Kein heulender Wind, wie ich ihn bei ungeöffnetem Fenster für eine Schauerszene blasen ließe. Nein, nur ein Wehen und vereinzeltes Schlagen, als würde sich ein Segel spannen. Ich spüre wie die kühle Luft durchs Fenster weht, wie sie mich umfächelt und die Luft aus meinem Raum mit sich zieht; wie sich mein Atem, wie sich mein Mief mit dem Sturm vermischt. Ich schließe das Fenster. Ich höre nichts vom Wind. Ich spüre nichts von ihm. Ich sehe die beiden oxydierten Kupferdrähte der Beleuchtung, die sich längs der Gasse spannen auf und nieder schwingen. Unruhig, ohne Rhythmus. Das sind keine Weisen, die der Wind in ihnen anschlägt. Das ist nur Zittern und Dagegenhalten. Die Laterne zittert mit. Bebt auf und nieder, vor und zurück, entlang und entgegen ihrer Achse. Doch wo sehe ich den Wind in meinem unbewegten Gegenüber? Ich ahne ihn allein in dessen Nähe und in dessen Farben. Ein Stückchen näher rückt es mir. Zeigt Konturen, Brüche und zugleich sanfte Übergänge. Was im einen Hinsehen klare Kante, ist beim zweiten Blick weicher Wechsel. Gleichermaßen wandeln sich die Farben, mal blass und stumpf, mal satt und tief. Was zuvor graugrünes Kupferblech scheint dem nächsten Sehen blaugrün wässriger Grund. Was soeben noch sattes als aus sich heraus leuchtendes Sonnengelb scheint, wandelt sich zum nächsten Augenblick zu sandigem schmutzgesträhltem Buttergelb. So viel Bewegung in seinem Licht, in seinem Scheinen, so wenig Bewegung in seinem Inneren. Mein Gegenüber. Es scheint sein eigenes Leben zu leben, losgelöst von seinen Bewohnern. Wehe, wenn die Häuser ihre Bewohner verlassen und vergessen. 28. Januar
2001 Zweiter Blick, Weiblichkeit: Im juwelenblauen Abendhimmel begegnen sich neuer Mond und Venus. Dreimal satte weibliche Symbolik. Doch wo sind die drallen Brüste, die schmalen Taillen, die weichen Bäuche, die ausladenden Hüften, die magischen Dreiecke, die geöffneten Schenkel? Wo ist der Duft der Weiber, ihre betörende Süße? Wo ist ihr tiefer Blick, wo ihr versprechendes Lächeln? Wo ihre wehenden Haare, die ihre kleinen Ohren zieren? Wo sind ihre sanften Hände, deren Berührung dich erhitzt? Im Himmel mein Freund, im Himmel spielt sich all dies ab, während der Schnauzer sein Rollo senkt und gelbes Licht in seinem Raum verschließt. Doch wo im Himmel, wo in diesem dunklen Blauen, in das die Nacht so drängend kriecht? Wo nur, mein Freund, wo? Nein, nicht in deinem Gegenüber ist es zu sehen. Der Mond und mit ihm Venus haben sich längst überm First gesenkt. Du sahst die beiden noch, als du nach Hause gingst. Jetzt sitzt du vor der Kulisse eines fernen Gegenübers. Es ist dir so fern, so unverständlich fern, weil du nichts in ihm siehst, was dich zuvor bezauberte. Eine dunkle Fensterreihe, schwacher Schein unterm Dach, vorgelehnt, eine beleuchtete Etage ohne Menschen. Dafür ein Fahrrad im Zimmer, angelehnt an ein Bücherregal aus Blech. Startbereit weist Lenker und Vorderrad zur Tür. Doch niemand ist zu sehen, der sich auf den Drahtesel schwingen könnte, um die Treppen hinunter zur Türe heraus zu rollen. Also öffne dein Fenster, reiß das Dach nieder, schwinge dich in kalte Höhen, folge den untergehenden Sternen. Lege dich zu ihnen, buhle um sie, versinke mit ihnen. Wahre Weiber ruhen hinterm Horizont ... 29. Januar
2001 Folge ich der Richtung, die mir das dahinwelkende Blatt weist, sehe ich zu meiner Linken über den Frist, zwischen zwei Kaminen den Giebel des Hinterhauses, das bereits eine andere Strasse säumt. Nur ein kleines Stück ist es, das da schräg nach rechts abfallend auf den Lichtschacht zielt. Ein breiter rotbrauner Kamin, dem ein zweiter ziegelroter Kamin zur Seite gesetzt wurde. Zwei Steigeisen ragen seitlich in die Luft. Das obere ein schwächlicher Henkel, das untere ein störender Querstrich im Rechen des Schneefänger, mit dem mein Gegenüber in den Himmel zahnt. Steil steigt eine zinkbedeckte Brandmauer bis an die Krone des rotbraunen Kamin. Eine himmelwärts gerichtete Schanze und zugleich trennender Grat zwischen beiden Kaminen. Grenzlinie zweier Besitztümer. Fünf Reihen dunkelbraune Dachpfannen vom fernen Haus, dazu ein kleines Eck Fassade, gleichfalls zinkgefasst, gerade mal so hoch wie das schmale Band des Schneefängers. In einem Bild wäre mir dieses Detail stets aufs neue Anstoß, eine rote Fackel in den Himmel zu setzen. Mal als feurigen Hahn, mal als ausblutendes Sehnen, doch jedes Mal ein Mal, das von der Sehnsucht nach ewiger Lösung kündet. 30. Januar
2001 Einige Schneeflocken tanzen gleich sommerlichen Samenflocken durch die Luft. Kälte dringt durch den Fensterspalt, legt sich auf meinen Schoß. Schneewolken drücken bergwärts, zwischendurch blitzt Himmelsblau hinter wolligem Gewölk. Zwei Wetter liegen übereinander, eins davon drückt auf den Kopf. Studierpause in der Studierstube. Der Fernseher flimmert. Schwachsinnstalk wechselt ab mit Videotext. Ein Blick in die Gasse wäre spannender, als dieser Blick in stumpfsinnige Ferne. Eine der Studenten verbringt ihren lieben langen Tag von morgens bis abends vor der Glotze. Ich sehe sie, wenn ich die Treppen hinuntergehe, im linken Zimmer gegen die Wand gelehnt auf ihrer Couch lümmeln. Sie fläzt und starrt auf die gegenüberliegende Wand. Wüsste man nicht um den Fernseher, würde man sie für gemütskrank halten. Welches Studium mag sie nur in dieser Weise verplempern? Welches Leben mag wohl in dieser Weise an ihr vorübergehen? Eisblau strahlt der Zinkzylinder auf dem Kamin nach Norden. Ein nahendes Versprechen, bald wird die Sonne wieder in die Gasse scheinen. 31. Januar
2001 Freilich ist die Lektion des Beachtens des Unbeachteten, die eigentliche Aufgabe, die mir mein Gegenüber ebenso alltäglich andient. Sieh hin, sieh was du siehst, so seine Forderung. Eine Forderung, die mir nicht alle Tage zur angenommenen Herausforderung wird. Also ziehe ich einen breiten Balken Lehmgelb. Setze darüber einen Balken Marineblau und lege das obere Drittel der Fläche in Violett an. Fassade, Dach, Nachthimmel. Die Lichter übersehe ich. Sie fügen sich meinem Eindruck nicht. Dafür betone ich die hellen Schatten der Fensterlaibungen mit kräftigen kalkweißen Pinselstrichen, die die Querfarben übertönen und an ihren Stößen vermischen. Hoch ins Violette ziehe ich das Weiß und halte in die feuchte Farbe mit Schieferschwarz dagegen. Nur ein knappes Einsenken des Schwarzen, und die Stelen der Nacht heften sich in die Fensterfluchten. Die Wut über die ungeliebte Herausforderung in Farbe und auftragende Bewegung gegeben, schenkt der Tafel eine Spannung, die sie dem Gesehenen meilenweit entrückt und ihm dennoch in eigener, im Sehen nicht gesehener Weise entspricht. Ein Werken in dem der Werkende zum Medium wird, zum Überwältigten seines gewählten Gegenstandes. |