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Februar

1. Februar 2001
Winterabend. Lichtmessnacht. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel, überzuckern das schilfgrüne Dach.

Eine Schnapsidee von mir, mich an den linken Arbeitsplatz zu setzen. Dachte, mit dem verändertem Blickwinkel verändert sich auch die Bewegungslosigkeit meines Gegenübers. Statt dessen verengt sich nur mein Blick. Lediglich sechs Fenster, sechs Räume sind zu übersehen. Vier davon verdüstert, zwei erhellt. Rechts außen das Zimmer des unsichtbaren Engelchens. Der Anschnitt eines Hochbettes. Dann fällt das Rollo. Daneben die ausgeleuchtete Wohnstube der Unscheinbaren. Hier eine knappe Bewegung eines rasierten Männerschädels im Hintergrund, der Preisboxer. Kurz darauf stehen beide im Raum, der Boxer und seine Halterin. Sie scheinen sich gut zu verstehen, lächeln sich an und lächeln über den Blick hinaus. Unübersehbar freudiger Nachhall.

Dichter Reigen der Schneeflocken unter der Laterne, mal wehend, mal tanzend, mal wirbelnd, mal stürzend.

Tue ich ihnen vielleicht unrecht, den Unscheinbaren? Für diesen kurzen Augenblick wirkten sie warm und angenehm. Nun, ihnen selbst, sie, die nur meines Blickes Spiegel sind, kann ich weder recht noch unrecht tun. Wenn, dann bin ich es, der seinen Blick verstellt. So betrachtet ist die Betrachtung meines Gegenübers anhaltende Täuschung, Verstellung und Offenbarung meiner selbst. Also lasse ich jetzt die Unscheinbaren ihr Fenster aufreißen, lasse sie einen Schlitten auf den First setzen und sich mit ihrem Englein rodelnd in die Gasse stürzen. Und später, zur Nacht, darf das blonde Lockenköpfchen von Schneeflocke zu Schneeflocke springend und tänzelnd zu mir herübergleiten, sich auf meine Fensterbank setzen und mir eine lange Nase drehen.

Als Dankeschön verzaubere ich ihm mein Gegenüber. Ein schöner, marmeladegefüllter mit viel Staubzucker überpuderter Krapfen, soll es sein. Selbstverständlich mit Marillenmarmelade gefüllt. Selbstverständlich warm, gerade aus dem Fettbad gehoben, kurz abgetropft, wird dem Englein das Marillenmus mit dem ersten Bissen über die Zunge rinnen und sein weißes Kinn hinabtropfen. Seine Stupsnase wird weiß überzuckert sein. Und seine schmatzenden Freudenküsse werden süß und klebrig sein. Winterzeit, Narrenzeit ...

2. Februar 2001
Ich habe das Licht gelöscht, um besser in die Nacht zu sehen. Allein die helle Maske des Bildschirms leuchtet mich an. Ich blicke hinüber, sehe die gelborange Ziegelfront, den cremefarbenen Putz, die ockerfarbenen Stuckaturen links und den cremeweißen Zierrat zur Rechten. Schneewächten schlupfen mit kühnem Schwung über die Gaubenkanten. Kleine Eiszapfen hängen an der Laterne, tauen tropfend ab. Das schmutzblaue Licht verleiht ihnen milden Glanz.

Zwei erleuchtete Fenster, doch verrate ich nicht wo. Nein, heute will ich die Namen, die ich ihnen gab nicht wiederholen. Sie sollen so versteckt bleiben, wie die, die dahinter stehen.

Rosagrau ist der Nachthimmel, Lichtmess ist vorüber. Niemand hat einen Schurz und einen Taler verlangt, niemand hat den Hof gewechselt, niemand war zur Kerzenweihe, niemand hat ein Schutzlicht angesteckt. Niemand ist zu sehen, sofern ich die Blonde unterschlage, die soeben ein Oberlicht öffnete.

Rot ist die Stimmung dieses Abends. Rot ist Wärme, Blut und Leben, die Ingredienzien der Liebe. Die Mischung ist bereitet, doch die Liebe stellt sich nicht ein. Es wintert, es narrt ... Es narrt mich mein Gegenüber.

3. Februar 2001
Regen wäscht den Schnee vom Dach. Tauwasser rinnt in die Traufe. Die Nässe wischt das oxidierte Grün beiseite und überzieht das Blech mit schokoladenbraunem Glanz. Leise fächelte der Vorhang für einen Augenblick gegenüber im Zimmer der Mutter der Roten. Doch niemand bewegt sich dort auf der Etage. Es wird ein Lüftchen von der Heizung oder ein platzende Schwäre der verwesenden Frauen dort gewesen sein. Möglich ist freilich auch ein sich selbst erhellender Gedanke der dort versammelten Weltweisheit.

Vorsicht Dachlawinen! Zwei Hölzer lehnen links und rechts des Hauses. Niemand musste sie hinausstellen. Sie bewegen sich von selbst dorthin, sobald Tauwetter einsetzt. Genau hierin liegt der Sinn eines Nekrodomiums, dass seine Hülle sich selbst kreiert. Das Äußere stiftet sich selbst Leben, während sein Inneres verwest. Die Ausgasungen werden zur seelenstiftenden Pneuma leibhaftiger Leblosigkeit. Irgendwann werden die Gassen still geworden sein und nur die verbliebenen Fassaden, die ausgestorbenen, ausgelebten Hüllen, werden Regung zeigen. Das ihnen dann nichts mehr gegenübersteht wird sie nicht verdrießen, sich zu veräußern ist ihnen Äußerung genug. Es ist gleich der letzten Glut eines sterbenden Sterns: ein Ausstrahlen, um unerkannt zu verdunkeln.

Vorsicht Dachlawinen! Ein Schneebrett löste sich vom Sims und patschte auf den Bürgersteig. Ein Laut, als würde man mit Wollhandschuhen in die Hände klatschen.

4. Februar 2001
Als nachtschwarzer Block wächst mein Gegenüber aus verschattetem gelb gewürfelten Grund. Ragt in unbestimmte Höhe und scheint mir aus der Finsternis entgegenzustürzen. Kein Ahnen weist mir die Himmelslinie. Nur ein einsamer Schwung in der Nacht, der vom Straßenlicht bestrahlte Bogen über der Doppelgaube, verrät mir, wo ich den Himmel suchen könnte. Doch wer will schon einen Himmel finden, der kalt, schwarz und bedrohlich ist.

Heute, beim aktualisieren meiner Seite, fiel mir der ein und andere Text ins Auge und ich dachte über die Rote nach und darüber, in wieviel Rollen ich sie schon hineinfabulierte. Seit über einen Monat habe ich sie nicht mehr gesehen. Sitzt sie etwa die ganze Zeit neben dem Bett ihrer siechen Mutter?

In ihrem Scheinen zeigt sie alle Züge einer alten Jungfer. Doch das ist nur Schein, gewordene Hülle, die längst auch in sie gedrungen ist, sich in ihr mit ihrer Seele verzahnte und sie werden ließ, was sie nicht ist. Es waren die Zeilen, über ihren mutmaßlichen Sohn, den ich einmal kurz in ihrer Etage sah, welche meinen Blick veränderten, die Hülle zerbrechen ließen. Die Mutter und das Haus verformten sie zu dem, was sie heute scheint. Der Mutter war keiner ihrer Männer recht gewesen. Die große Liebe hat sie ihr madig gemacht. Und danach war es ihr ein leichtes, ihr die kleinen Lieben zu zerbröseln. Das Haus war der Pfand, den sie für die Tochter gab. Ein Haus für eine Seele. Ein teuflisches Geschäft. Und doch so uralt, so oft getan, dass es nur noch ein Achselzucken wert ist. Ja, so ist es halt.

Ja, so ist es halt, wenn Menschen Menschen verbiegen, bis das Rückrat bricht und die Seele sich nicht mehr selber kennt. Ja, so ist es halt, wenn sich ein Leid so ungezählte tausend Mal wiederholt. Es ist so bekannt, so oft beredet, so alltäglich und banal, dass jener dessen Seele schreit, nicht mehr schreien kann. Ein Leid, allenfalls noch gut genug für eine Talkshow, um dort in 45 Minuten vielmäuliger Betroffenheit abgehandelt, durchgekaut zu werden. Gut genug, um Greisen und Pubertierenden die Langeweile eines Nachmittags zu vertreiben und eine Viertel Million Werbeeinnahmen einzustreichen.

Nachtschwarz, nachtkalt mein Gegenüber. Ich ziehe meine rotes Rollo herunter, um mir die Kälte fern zu halten.

5. Februar 2001
Auch wenn ein warmes Lüftchen über die Stadt weht, wäre es zu früh, Frühlingswinde herbeizureden. Der Schnee ist weggeleckt. Mein Gegenüber zeigt sich heute in Schmutzfarben. Schmutzgrün das Dach, schmutzgelb die Front zur Rechten und grau genarbt die Front daneben.

Der Schnauzer papiert in seiner Kanzel, der Studiosus hält seinen Kopf über seine Aufzeichnungen.

Die Nikoläuse bei den Namenlosen sind abgehängt. Derweil kleben noch die Weihnachtssterne in den Scheiben. Auch bei den Unscheinbaren schwingt noch die Lichterkette durchs Fenster. So rasch stellen sich Gewohnheiten ein. Dinge rücken ins Bild, werden kurz beachtet und alsbald übersehen. So die orange Holztulpe im Fenster der Unscheinbaren. Seit einer Woche steht sie dort, ragt über die Sonnenlaterne hinaus. Vor einer Woche fiel sie mir ins Auge, fügte sich jedoch nicht in meinen Blick. Heute erst sehe ich sie wieder neu. Und mit diesem Blick bemerke ich auch das Wachstum des Grünzeugs auf der Fensterbank. Es ist nicht viel, vielleicht drei Fingerbreit, um die es sich weiter in die Höhe reckte.

Der gewohnte Blick, mag gnädig sein, vermögen wir doch mit ihm nebeneinander unbemerkt zu altern. Doch beschämt er uns auch, sobald wir unser Gegenüber neu betrachten. Erinnert uns doch solch frische Schau an unsere Achtlosigkeit. Eine Achtlosigkeit, die zugleich Lebensferne ist. Und für den Augenblick bemerken wir welch erschreckende Vergeudung wir uns im alltäglichen Trott erlauben.

Was mag ich so allein heute alles übersehen haben?

6. Februar 2001
Ermüdend seien meine Betrachtungen, hörte ich gestern. Nun, ermüdend empfinde ich auch mein Gegenüber, so wie es sich augenblicklich vergrauend in die Nacht schleicht. Graugrün ins Schwarze abgleitend die Kupferbahnen des Daches, zart weiß verschleiert das Gelb der Ziegelfassade im abendlichen Laternenschein. Spannung bringt auch nicht das gerade aufflammende Licht in der Stube der Unscheinbaren, auch dann nicht, wenn sich inzwischen der Rhythmus der Lichterkette im Fenster veränderte. Vier Kerzen oben und vier unten im linken Flügel, vier oben und zwei unten im rechten Flügel.

Gut, ich könnte eine Geschichte erzählen, wie sich Frau einen Preisboxer hält und dazu noch Dildos sammelt. Ich könnte erzählen, wie Mutanten in der Etage des Leblosen rohes Menschenfleisch von Knochen nagen. Ich könnte die Rote zur Muttermörderin machen, den Schnauzer zum killenden Erbschleicher und die braven Studenten auf den Strich schicken. Ich könnte die Polizei im Hause ein- und ausgehen lassen, Leichen heraustragen und Kinder gebären lassen. Ich könnte aus meinem Gegenüber eine Lindenstraße machen, Mord, Liebe, Kabale, Krankheit und Tod hineinschwätzen. Und doch ist all das nicht mein Behuf.

Skizzen will ich zeichnen, Sprachskizzen von meinem Gegenüber. Skizzen meiner Betrachtung, meiner Reflektion und meiner Empfindungen im Widerstreit mit dieser Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Mein Gegenüber in seinem So-sein soll die Quelle meiner Inspiration sein. Gewiss es gäbe interessantere Objekte hierzu. Etwa den Blick in meinen Hinterhof. Wo ein- und ausgezogen wird wie in einem Taubenschlag. Wo eine arme Seele tagaus, tagein ihr Leben vor dem Computer fristet. Wo alle Sonntage pünktlich gegen elf Uhr zwei Schwule bei offenem Fenster ihren Morgenfick verrichten und dazu röhren wie die Hirsche. Wo ein Opa die Tauben füttert, und ein Einsiedler in seiner völlig vom Küchenfett vergilbten Wohnung nächtelang an seinem Couchtisch Illustrierte blättert. Wo in kleinen Zimmern Parties gefeiert werden, und eine Hexe aus der obersten Etage alltäglich ihren Schädel mit kreisrundem Haarausfall an die frische Luft hält. Wo Streit, Musik, Getrommel und Didgeridoo-Gebrumm zu mir herübertönt.

Es wäre abwechslungsreicher und für mich einfacher. Doch wäre mir dies eine gezwungene Schau. Müsste ich mich doch hierzu an meine Fenster stellen und beäugen, was ich nicht sehen will. Schließlich ist das Haus über den Hof so hässlich, dass ich es tunlichst ignoriere und mir durch dichte Stores fernhalte. - Nein, diese Sicht will ich mir niemals zu meinem Gegenüber machen.

Ein abweisendes Wort war es bislang, neben vielen lobenden Wörtern zu diesem Experiment. Und doch scheint die Abweisung für den Augenblick schwerer zu wiegen als der mannigfaltige Zuspruch. Indes, sie wird mich nicht erschüttern, auch wenn sie meine Zweifel über mein Vorhaben sicher trifft. Ich werde mich weiter von der Zwiesprache mit meinem Gegenüber leiten lassen und darauf achten, was mein Schauen in mir bewegt. Schauen und lauschen, wie das Unbewegte in mir zur Bewegung wird.

Der noch nicht ganz volle Mond ist aufgegangen, sein Widerschein als lichter Merkurstab am Zinkzylinder auf dem Kamin. So flüchtig, wie der Windgott selbst. Größer als sonst soll die Mondscheibe uns derzeit scheinen, rückt sie uns doch in diesen Nächten am Nähesten und den Werwölfen bedrohlich nahe auf den Pelz. Gewaltiger als sonst, wird daher die Wirrnis sein, die die Mondwandler ins Finstere treibt. Der Durst nach Lust, nach Furcht und Übertretung wird sie quälen, doch keine Labsal mag ihn stillen.

Über die Zeilen ist die Nacht in meine Gasse gefallen. Mein Gegenüber ruht in sich, ein dunkler Schatten, der mich nicht verschattet.

7. Februar 2001
Die Luft trägt Frühlingsduft. Es ist ein fernes Künden vom Wechsel gleich den Herbstwehen, die an späten Sommertagen im August in die Nase ziehen. Berauschend ist's dies Frühlingsahnen. Tief atme ich das Lüftchen ein, bläh die Nasenflügel, um noch mehr von diesem süßen erdigwarmen Duft zu atmen; um ihn zu bewahren, sobald der Winter wiederkehrt, als tröstende Erinnerung daran, dass seine Macht im Schwinden ist und bald die warme Zeit beginnt.

Die Rote ist zurückgekehrt. Diese Schwalbe macht noch keinen Sommer. Dafür hat sie sämtliche Fenster ihrer Etage aufgerissen, lüftet den Mief ihrer Abwesenheit hinaus. Ein wenig flügellahm scheint sie zu sein, der rechte Arm ist weiß verbunden. Auch fehlt ihr die gewohnte Hudelei. Wo mag sie nur die Wochen über geblieben sein? Lag sie winterschlafend danieder? Der Verband ein Rest vom Schlaftropf, der sie aus der Zeit hob, um an diesem Vorfrühlingstag geweckt zu werden? Aufgewacht, hat sie die ausgetrockneten Reste der Mutter entdeckt. Womöglich fand sie sie vor dem offenen und entleerten Kühlschrank liegend, dessen trübes Licht ihr pergamentene Haut ins Sonnengelbe hob. So frisch anmutend, mag sie sie zurück ins Bett gehoben haben. Federleicht die Mumie. Dort liegt sie nun, in Kissen gebettet im durchgelüfteten Zimmer und verweigert den angebotenen Gesundheitstee. Ja, nur Mütter können so unendlich stur und bockig sein.

Sie scheint sich schnell wieder an ihr Dasein zu gewöhnen, die Rote, beim Fensterschließen fliegen die Vorhänge, hektisch aufgezupft, das Fenster in den Rahmen zurückgeworfen, Knauf gedreht und nach innen gekippt, im gleichen Zug die Gardine wieder vorgeworfen und schon verschwindet sie zu neuem Putz. Doch der Frühling lässt sich auch von ihr nicht herbeiputzen. Noch ist's der Winter, der durch die Tage wandelt.

8. Februar 2001
Nein, der Frühling ist es, der wider den Winter drängt. Schneeglöckchen sprießen schon im Hinterhof, wenige Tage noch und sie werden blühen. Frühlingshaft lau lüftelt auch der Abend. Die Dämmerung währt nun ersichtlich länger. Mein Gegenüber krönt sich im tiefen Blau der aufsteigenden Nacht. Für diese Weile darf die Pomeranze auch Fürstin sein.

Der Vollmond wird alsbald die klare Nacht erhellen. Die Werwölfe reiben sich bereits die Glut ins Auge. Deute ich die Geräusche aus meiner Gasse, scheint es in der Tat eine bewegte Nacht zu werden, in der sich tief Verborgenes nach außen kehrt und sich manch Widersetzliches vermischt.

In der direkten Sicht auf mein Gegenüber findet sich freilich nichts davon. Nur eine Ahnung weht von ihm zu mir herüber. Der nächtliche Widerschein ein zickiges Versprechen jungfräulicher Lüsternheit. Kein Angebot für einen Wandler unterm Mond. Das heimelige Weihnachtslicht der Unscheinbaren, ein Hauch Verrufenheit. So viel Lüsternheit kündend wie ein evangelischer Pfarrhaushalt. Die leere Stube des Schnauzers, eine fahle Zweideutigkeit im Schummerlicht. Der schnelle Fick überm Küchentisch oder doch nur gemeinsames Strumpfsortieren. Das offene Oberlicht der Studenten eine läppische Obszönität, als würde sich ein Exhibitionist mit seinem aufgeknöpften Hosentürchen begnügen. Der Einblick zu den Namenlosen, so verworfen wie der Blick auf einen blanken Busen. Schaut mich an, ich zeig nicht mehr!

Die Rote bleibt hierbei außen vor. Sie hat sich zur Mutterleich ins Bett gelegt, wärmt den Kadaver mit ihrem Leib, auf dass sie sich unterm vollen Mond zur Widergängerin wandelt.

Was wahr bleibt, ist indes das Frühlingsahnen. Das verwaiste Taubennest wird bald bezogen sein. Heute Morgen hat die Glucke schon in ihm geschart und sich breit hineingedrückt.

9. Februar 2001
Das Taubennest unter der Traufe scheint angenommen zu werden. Nachdem die Henne sich heute erneut im Streu breit machte, überwand auch der Hahn seine Scheu und drängte sich hinzu. Eine gute Weile sah ich ihrem Treiben zu, während der Sprühregen das Dach einspeckte.

Jetzt zieht die Nacht auf. Ich blicke in beleuchtete menschenleere Räume. Wahrscheinlich schart man sich zum Abendbrot um die Küchentische. Freitagabend, wochenendliche Erschöpfung. Die Trägheit springt auf mich über, vermischt sich mit meiner Traurigkeit zu tauber Lähmung. Einschließende Unempfindlichkeit. Ein morgendliches Missverständnis. Ein hässliches Wort darauf von mir. Ein verschatteter Tag. In mir selbst gezirkelt verharre ich. Kein Fühlen dringt nach innen, kein Fühlen dringt nach außen. So menschenleer die Räume mir gegenüber, so menschenleer empfind ich mich. Kalter Regen beglänzt meine Verschlossenheit.

Dunkelheit bei der Roten. Sie liegt wieder am Schlaftropf, ihr Frühlingserwachen war ihr offenbar zu früh. Sollte ich mich gleichfalls an ihren Tropf hängen? Nein, ich werde ein Stück Schokolade essen. Sie wird meine Stimmung aufhellen. Und ich werde den Kreis lösen und mich wieder nach außen kehren.

10. Februar 2001
So schnell bezieht kein Taubenpaar ein verlassenes Nest. Auch heute kamen die beiden Täubchen herbeigeflattert, schlüpften gegenüber unter die Traufe und taten gar so, als sollte dies der Platz für das neue Gelege werden. Doch dann flogen sie wieder fort, ohne Wiederkehr. Obwohl seit über einem Jahr verlassen, fürchten sie offenbar den Geist der Vorbesitzer, der noch im Streu wohnt.

Seltsam, wie lange Räume ihren eingelebten Geist bewahren. Auch ich glaube, die Geschichte meines Gegenübers zu erahnen. Bräsig, teilweise schrecklich erscheint sie mir zur Linken, heiter und lebenszugewandt indes zur Rechten. Nicht die Bewohner suchen sich ihr Haus aus, nein, es ist der Hausgeist selbst, der lädt. Die einen mag er leiden, weil sie ihm entsprechen. Die hält er fest. Den anderen, den Ungebetenen und ihm Fremden, verleidet er die Bleibe, mit kleinen Mieslichkeiten und unwohnlicher Kälte.

Dunkelheit zur Linken, Schatten zur Rechten. Bei den Unscheinbaren verstrahlt die Lichterkette und ein milder Spot auf die Laterne im Fenster ferne vergangene Gemütlichkeit. In nächtlicher Schönheit blüht die Holztulpe neben dem Grün. Es fehlt nur noch die Hausdame, die mit blondem aufgesteckten Haar und lichtfarbener Spitzenbluse ins Fenster tritt, um in die Gasse zu blicken. Das fahle Licht verfeinert ihre Züge, hebt sie ins Edelhafte. Ein maliziöses Lächeln umspielt ihren Mund. Sie hat soeben ihren Mann vergiftet. Der Hausgeist sieht's mit Wohlgefallen und wird auch diesen Wesenszug in seine Aura schreiben. Schwache Frauen, wird er fortan nicht in seinen Mauern dulden.

Hinzugekommen: Zellenbeleuchtung beim Leblosen. Blauer Kelch, Palmschwerter im Hintergrund vor kahlen Wänden. Keine Bewegung. Bei den Unscheinbaren erlischt das Licht, und macht zur Lüge was gedacht.

11. Februar 2001
Die Schneeglöckchen blühen. Nach einem sonnigen Tag, blicke ich in ein beleuchtetes Dachgeschoss. Doch sehe ich dort kein Leuchten, sondern nur müdes Glimmen.

Warme Gemütlichkeit bei den Unscheinbaren, der Preisboxer rückte sich die Leselampe über die Couch unterm Fenster. Kaltes Licht beim Leblosen, aquariumsgrün und cremig blass. Leer das Geviert seiner Wände.

Zu dieser Öde will mir nichts einfallen und mag ich auch nichts in mir entdecken, was mich anspräche. Allein der Bruch, zwischen der unscheinbaren Gemütlichkeit zur Rechten und der leblosen Nüchternheit zur Linken rührt mich an. Zwei widerstreitende Erscheinungen, und doch jede für sich in sich gefangen.

Also lasse ich die Unscheinbaren gemütlich vor sich hindämpfen und Konfekt zu leichter Lese knappern, während ich den Leblosen gelbgrün marmoriert auf einen Seziertisch lege. Ein Stück kaltes, ausgeblutetes Fleisch hier und ein Stück warme Trägheit dort.

Tag und Nacht. Als kleinen Kreis male ich den Tag in die Nacht. Ein Stück Hoffnung, ein Stück Niedergang oder die bange Lust am Verfall? Ich weiß es nicht. Mag es alles drei sein, und gar ein viertes oder fünftes noch hinzukommen. Laternenlicht, Studentenlicht und Ladenlicht ... es bleibt ein trübes Schauen.

12. Februar 2001
Mein Gegenüber in von Wolken gedämmtem. Ein Licht wie im Spätherbst, lieblich mild. Und doch scheint es ihm nicht gleich. Ist es das Wissen um die aufsteigende Sonne, dass es mir frischer und kräftiger erscheinen lässt? Oder liegt es am Duft der aufbrechenden Erde, der mich anweht und meine Sinne beflügelt? Oder ist es in der Tat ein anderes Licht. Es erscheint mir wärmer, als verstrahle es hitziges Blau im Gegensatz zu herbstlicher Röte.

Fliegender Wechsel in der Schreibtischkanzel des Schnauzer. Er macht sich mit Aktentasche und handbeschriebenen Spickzettel auf den Weg, dafür sitzt seine Tochter nun mit dem Rücken zu mir vor dem Computer.

Fliegenden Wechsel ersehnt sich auch mein Gegenüber. Es scheint mir, als wollte es sich öffnen, als ersehnte auch es sich frühlingshafte Belebung, als wollte es den winterlichen Mief der Unbeweglichkeit ausstoßen, sich wandeln und erneuern. Indes wird es sich ob allen Sehnens nicht verändern, die Lahmheit in seinen Mauern bleibt ihm eingewachsen. Es wird das betuliche Häuschen bleiben, dass es ist. Welch gestelzten Schüttelreim von der Sorte "Üb immer Treu und Redlichkeit" wird es wohl in der Kartusche seines Grundsteines bewahren? Müßig darüber nachzusinnen, diese Entdeckung lohnte seinen Abriss nicht.

Der Vorhangspalt bei der Roten ist nicht mehr. Die Gardine hängt bis zum immer noch zurückgesteckten Überwurf. Eine beachtenswerte Veränderung. Doch ebenso bedeutungslos. Ist doch hier nur Schlaf und Aas, wo ich für einen Augenblick die versammelte Weisheit hineindeutete. Oder ist Weisheit, Weltverständnis, wirklich so öde, so lebensfern, so belanglos, dass man sie vor Augen so leichthin übersehen mag?

13. Februar 2001
Das gleiche Bild wie gestern nacht. Und doch anders. Das Licht bei den Unscheinbaren scheint heute rotstichiger, während das Grün im Aquariumzimmer des Leblosen gelbstichiger wirkt. Es mag am Sprühregen liegen, der wie Nebel in die Gasse fällt. Oder haben sich gar die Temperamente über Nacht verändert? Hier wie dort eine Prise Lebenslust mehr? Vielleicht ist der Leblose vom Seziertisch gesprungen und kauert nun fröstelnd in einer Ecke seines kahlen Gevierts? Und womöglich liegt die Blonde gerade juchzend unter ihrem Preisboxer? Wer weiß? Wer mag es wirklich wissen? Ich denke, ein Voyeur würde angesichts der faden Ereignisse in meinem Gegenüber an chronischen Depressionen leiden.

Als ich zuvor allein mit dem Zug zurückfuhr, voll der Trauer über den Abschied von Ruth, blickte ich eine gute Weile in die vorbeiziehenden erleuchteten Fenster entlang des Bahndamms. Abendbrotgemütlichkeit kündete Zeit und Licht. Auffällig der rustikale Plunder, der in den Stuben zu sehen war. Eine mich anspringende, erschreckende Gemütlichkeit voll verhaltener böser Angriffslust. Auch Geschmacklosigkeit und dumpfer Biedersinn gründen offensichtlich auf einem ureigenen ästhetischen Kanon. Nur, wer mag ihn wirklich erhellen?

Nein, da ist mir der Blick in das kahle Geviert des Leblosen, in das nüchterne Ambiente der Unscheinbaren, in das zusammengewürfelte Wohnen des Schnauzers und der Studenten, als auch auf das ererbte Gerümpel der Roten allemal lieber. Ja, erst jetzt, aus diesem Blickwinkel, weiß ich zu schätzen, welch kantige Eigenheit mir mein Gegenüber mit seinen Bewohnern bietet. Hoffentlich erinnere ich mich daran, falls ich wieder beginne, über meine Aussicht zu lamentieren.

14. Februar 2001
Krähengekrächz. Sie fliegen im Schwarm über den First und künden vom Abend. Die untergehende Sonne vergoldet den Blick. Glanzpunkt am Zink. Wärme am Kamin. Widergespiegelte Lichtblitze in meinem verschatteten Gegenüber.

Heute Morgen versammelten sich die Studenten zum gemeinsamen Frühstück. Auch die Fernsehsüchtige war dabei. Als ich gestern morgen mit Ruth die Treppen hinunter ging, sahen wir sie bereits vor dem Fernseher liegen. Doch zum Frühstück verriet keine ihrer Gesten, dass sie diese Gemeinsamkeit für ihre Einsamkeit vor dem Bildschirm fliehen wollte. Jetzt sitzen zwei Studenten kaffeetrinkend zusammen im dämmrigen Raum. Es ist die blaue Stunde, der leise Übergang, zu dem der Abend in die Seelen kriecht und noch kein Licht den leisen Anflug von Melancholie überblendet.

In diese Zeilen hinein knipste der Schnauzer sein Licht an, so fließt ihm der Tag unbemerkt in die Nacht und die Melancholie aus dem Blick. Die welkende Aaronblüte im Fenster sieht er nicht. Noch ist sie weiß, wenn auch längst ohne Saft. Ein verdorrendes Blatt. Zwei weiße Tupfen im satten Grün. Das Leben geht weiter. Leise und kaum wahrnehmbar schreibt es sich fort. Nur dem Aufmerksamen mag es seine stille Schönheit offenbaren.

Hoch auf dem fernen Kamin sonnt sich eine Taube in der späten Sonne.

15. Februar 2001
Die Sonne streift mein Fenster, wirft einen Lichtfleck auf die rechte Wand. Die Heizung ist abgestellt, das Fenster geöffnet. Frühlingsdrängen. Lächerlich wirken die Weihnachtsterne im Fenster der Namenlosen.

Heute morgen saß das Taubenpaar wieder unter der Traufe. Das aufgeworfene Streu des alten Nestes hat es inzwischen in die Gasse gekehrt. Doch noch ist ihm der ausgespähte Nistplatz keine Bleibe. Ahnt es womöglich, dass es hier unterm Fenster des Leblosen gerupft und gebraten werden wird?

Lichttupfen vergolden den Schatten meines Gegenübers. Vesperstimmung. Goldene Vogelschwingen. Stolz auf das Getane. Zuversicht auf das zu Schaffende. Frisches Brot anschneiden. Die Hände in den Schoß legen. Singen und Lobpreisen. Eine begnadete wie verhasste Zeit. Die Stunde der Biedermänner und Amokläufer.

Die Rote wird jetzt ihr Fenster öffnen und Tulpen in die Gasse streuen. Einen Laib Brot zerteilen und Tauben anfüttern, auf dass sie ihr die Fassade mit kalkigem Schiss verätzen. Die Mumie ihrer Mutter zerbrechen, und sich ihre Asche übers Haupt streuen. Sich in rot-schwarze Leibwäsche kleiden und zur Nacht in ihrem Fenster zur Schau stellen. Freier werden vorbeistelzen, einen Schluck aus der Traufe nehmen, und ihr anzügliche Fragen stellen. Sie wird sie offen und unbefangen beantworten.

Nur der Preis, ihr Preis, ist zu hoch. Und so wird sie einsam unterhalten bleiben.

Lichtpunkt am Zinkzylinder, Sonne auf meinem Dach, Atemlosigkeit gegenüber.

16. Februar 2001
Der blaue Kelch im Fenster des Leblosen ist verschwunden. Die Rote fährt Fahrrad auf dem Dach, rollt die Schräge hinunter, tritt freihändig durch die Dachrinne, legt die Hände wieder an den Lenker, steigt in die Pedale und kraxelt keuchend die Schräge hinauf, um aufs neue den First entlang zu radeln. Warum auch nicht? Radfahrer können überall fahren. Sie rollen über Fußgänger wie über Leichen hinweg.

Auf dem Friedhof blühen zu den Schneeglöckchen die Krokusse. Statt Schnee bedeckt ein Teppich purpurner Blüten die Wiesen, durchsetzt von grünendem Weiß. Gehen, schauen, Gedanken verblassen. Schauen, sehen, verbunden sein. Mit dem Abstand wird die Verzauberung erinnert.

Die Rote ist mit einem Pedal am Schneebrecher hängen geblieben. Nun liegt sie mit gebrochenen Hals in der Traufe und stiert in das leere Taubennest. Glück für die Täubchen, dass sie das Nest noch nicht angenommen haben. Sie wären sonst ein zweites Mal gerupft und gebraten worden.

Zweimal am Tag, morgens und abends, fliegen die Täubchen herbei und gebärden sich gar so, als würden sie den Nistplatz auf Dauer besetzen. Doch dann treibt es sie wieder fort. Haben Tauben auch Zweitwohnungen?

Unscheinbar in den Schatten geschmiegt lehnt der Preisboxer im Fenster. Er liest mit aufgestütztem Kopf. Über ihm fliegen die Krähen vom Friedhof kommend zu ihren Nistplätzen. Unbemerkt tritt er in den Schatten zurück. Währenddessen lässt sich die Rote in die Gasse fallen, richtet sich auf und lehrt der Schneiderin mit kreiselndem Schädel das Gruseln. Ihre neue Kollektion wird irritierend ausfallen.

17. Februar 2001
Nun ist es der Täuberich, der die Glucke ins Nest locken möchte. Gurrend tanzt er vor der Lücke unter der Traufe. Indes ein zweiter Hahn die äugende Henne anbalzt. Hin- und hergerissen zwischen Locken und Hacken scheucht der Täuberich seine Glucke, um sich auf den Rivalen zu stürzen
...

Mit dem letzten Satz erfasst mich ein Déjà-vu. Habe ich das schon einmal geschrieben, ahne ich das Fatum, dass diese Zeilen beschwören, oder war ich selbst einmal ein tanzender Hahn? Gewiss. Gewiss ich bin es immer noch, ein Gockel, werfe mich für Ruth und gegen die Rivalen in die Brust, auf das der Testeronhaushalt wieder stimmt ...

Geblinzel bei den Unscheinbaren. Obwohl Rest weihnachtlicher Dekoration fügt es sich bei ihnen, verwehrt sich der Lächerlichkeit, verstrahlt ein wenig Bistro-Atmosphäre. Sie liegt unterm Fenster im Arm ihres Mutanten, eine schwer gezuckerte Tasse Espresso schlürfend und steckt ihm lüstern die kaffeebraune Zunge ins Ohr. Flüstert ihm ein paar Unaussprechlichkeiten hinein. Seine Moccatasse zittert, hell klingelt das silberne Löffelchen am Henkel. Ein Englein lacht, vielleicht wird es dem Androiden alsbald eine Seele einhauchen.

Gefunzel beim Schnauzer aus der Biedermeierleuchte. Kaltes Licht. Gut genug, um ins Bett zu gehen und die Augen zu schließen. Der Frau reicht's zum Fernsehen, sie streckt die Füße aus der Fernsehecke in den Raum, kurz blickt ihre Tochter aus der Tür auf den Fernseher, "Wetten dass", die Wette läuft ...

Das Déjà-vu war dieses Mal wahres Ahnen. Ein Hilferuf ereilte mich, ein Freund in Lebensgefahr. Delirium. Zurück von der Notaufnahme, mein Gegenüber in freundlicher Verschlafenheit. Zartes Fernsehblau bei den Unscheinbaren. Ein zartes Band der Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit?

18. Februar 2001
Orangenmilch im Nachthimmel. Ein Güterzug rollt über die ferne Brücke. Schienenschlag weht durch das gekippte Fenster. Der Wind steht von den Bergen. Schienenschlag noch im Ohr von der Reise. Nächtliches Streifen durch die alte Stadt, um den Dom, zweitausend Jahre alte Mauern berührt, über die Steinerne Brücke gewandert, in das dunkle Wasser geblickt, mit dem sich stromabwärts der heimatliche Fluss vermischt, über den gerade der ferne Zug rollte, mich gefragt, wie viele Menschen, wie viele Schicksale, wohl über diese Brücke zogen ...

Häuser, alte Häuser, Hunderte von Jahren älter als mein Gegenüber, betrachtet und Geschichten in ihnen erahnt, Geschichten, die mir mein Gegenüber nie zu erzählen vermag. Was sind schon einhundertfünfzig Jahre Vorstadt - Vorstadt, die nun Altstadt ist - gegen eine zweitausendjährige Stadt? Halbstarkes Geprotze.

Was also erwarte ich von meinem Gegenüber, das seinen Geist noch nie verformte, noch nie den Zwang zum Wandel, noch nie das unbedingte Muss zu selbstvernichtender Verleugnung, als Forderung zum Leben ahnte? Fünf Reiche erst hat es gesehen, fünf Generationen erst haben es belebt. Welch grüner Geist!

Schau es an, wie es verdunkelt vor dir steht. Wie es in sich verschlafen ruht, Selbstgefälligkeit verstrahlend, trotzig in seiner aufgesetzten Unbewegtheit. Unschuldig an seiner Schönheit, unschuldig in seiner Schrecklichkeit. Sieh es an, und sei großmütig.

19. Februar 2001
Mitternacht. Du hast zu lange gewartet, um Berichtenswertes zu sehen. Nun liegt es vor dir, dunkel, leblos unter blass-orangem Nachthimmel. Übers Fenster der Roten siehst du in deine Küche. Deinen eigenen Widerschein suchst du in ihm vergebens. Dazu müsstest du dich in dein Küchenfenster stellen. Von dort aus könntest du dir zuwinken, so wie du es mit Ruth manchmal machst. Trotzdem winkst du, zaghaft, denn du weißt, es ist vergeblich. Niemand wird dir heute aus der Küche über die Gasse zurückwinken.

Du willst mehr sehen. Einzelheiten, die im stillen Gegenüber eine Geschichte formen. Du löschst dein Licht. Milchweiß strahlt dich die Maske des Bildschirmes an. Und wieder suchst du nach deinem Widerschein im Fenster der Roten und findest ihn nicht.

Rotstichig gelb mit einem Hauch Eisblau das Licht der Laterne. Rotstichig der lehmige Ton der Ziegel, stellenweise ins blassbraune kippend. Blaugrau, schwarzblau die Fensterlaibungen. Weiß die gelbe Sonne der Laterne im tiefen Schwarz der Gaube. In der Kammer der Studenten Leselicht hinter Nesseltuch. Still das Gegenüber. Stille in der Gasse.

In deinem Fenster spiegeln sich die Bücherrücken deiner Bibliothek im Gang. Die Katze kratzt am Perser. Du gibst Laut. Sie zieht die Krallen ein.

Der kalkfarbene Bogen über der Doppelgaube, eine erheiternde Beglückung. Es ist die Form, die dich erfreut. Das nächtliche Lichtspiel. Die Harmonie der Farben. Karamell die Fassade, cremig der Schwung des Bogens, bitterschokoladen das Dach, nougatfarben der Himmel. Eine süße Impression. Eine solche Spezerei vermag nur ein leidenschaftlicher Konfiseur zu gießen.

Du machst die Schreibtischlampe an, das Bild verblasst, das rote Rollo fällt. Nachschlagen, wie schreibt man "Confiseur" ...

20. Februar 2001
Nachmittags um Drei scheint auch nicht die Stunde zu sein, Leben in meinem Gegenüber zu entdecken. Gelber Merker an der Ladentür der Schneiderin. Hinweis auf das Café in dem sie gerade raucht, flirtet, albert und über ihre baldige Entdeckung sinniert. Leere Stühle bei den Studenten, die mal eben aushäusig nach Wissen suchen. Ausgenommen die Fernsehsüchtige, über die das pralle Leben der Talkshows niederrieselt. Schwarz-weiß kariert die Schulter des Schnauzers vor seinem Computer. Gelbweißes Welken daneben an der kalten Scheibe. Wechselndes Licht am Zinkzylinder, je nach Wolkendichte. Vereinzelte Schneeflocken in der Gasse. Schweben, sinken, aufwehen.

Grau die Stimmung, auch was Farbe hat, bleibt grau. Der Leblose gießt eine Schüssel abgestandenes Blut in die Traufe. Die Rote legt die Muttermumie zum Lüften auf den Fenstersims. Krähen baden im stinkenden Blut. Hacken in vertrocknete Mutteraugen. Die Rote scheucht sie mit der Bürste, mit der sie ihre kupfernen Locken kämmt. Der Schnauzer setzt den Presslufthammer gegen die Wand, um sich ins Nebenhaus zu bohren. Der Spuck verschwindet.

Das Graue duckt sich, sehnt den Schnee herbei, der es verbergen soll. Ich denke, meinem Gegenüber ist es recht fad in seiner Fadheit. Vielleicht wird es während des Frostes ein paar Schnörkel gezielt auf Passanten abwerfen, um dem Grauen durch Grauen zu entfleuchen.

21. Februar 2001
Der Winter kehrt zurück. Sichtbar drängt sich die Kälte in die Gasse. Verleiht den Farben Brillanz und verschleiert sie zugleich, ein Blick durch dünnes Eis. Mit klaren, harten Strichen würde ich die Kälte zeichnen. So wie einst, als ich bei Frost auf den Schafswiesen hinter der Schlossmauer in einem Baum saß und die Winterlandschaft um mich zeichnete. In der Kälte wurde die Tusche dicht wie Blut, die Feder hart. Ungewöhnlich satte Striche fügten sich zum Bild. Seit Jahren schon liegt es zwischen vielen anderen Bildern aus jener Zeit in einer Mappe verwahrt, und steht mir doch für den Augenblick klar vor Augen.

Von der Kälte verschreckt hat sich eine Taube im Giebel des Studentenfensters unter den Schnörkel des linken Obelisken gedrückt. Wind- doch nicht wettergeschützt harrt es so seit Stunden. Den Nistplatz unter der Traufe will das Taubenpaar noch immer nicht annehmen. Vielleicht muss erst ein Schamane dort hinauf fliegen und die alten Geister bannen.

Im Reich der Roten lehnte heute das Fenster nach innen, die Gardine lüftelte kräftig. Nun ist das Fenster geschlossen. Dafür lüftelt die Gardine im Nebenfenster leise über der Heizung. Indes ist nicht auszumachen, wer sich durch die Wohnung bewegt. Soll es wirklich die versammelte Weltweisheit sein, die dort waltet? Oder sind es nicht eher die dumpfen Geister brauner Vergangenheit, die dort mit alten Kohl- und Schweinsbratendämpfen durch die Wohnung wehen? Welch schrecklich böser Biedersinn ließe sich hinter diese Fassade dichten.

Und doch, ich mag's nicht tun. Ich sehe es nicht. Die Stimmung, die mich anmutet, ist mir schlicht zu evangelisch. Gewiss, auch sie ist nicht minder bieder, nicht minder fürchterlich, doch es ist ein anderer Schrecken, den sie mit sich führt: Nüchterne Kälte, gleich dem kalten Wind, der in die Gasse weht.

Noch ein später Blick in die Nacht auf das Giebelfenster. Das Täubchen sitzt unverrückt eng an den Sockel des Obelisken gedrückt. Eine Ahnung von Wärme inmitten der Kälte.

22. Februar 2001
Golden ragt ein Zweiglein vor den kupfernen Abwehrzahn am Sims der Traufe. Eine Taube hat es dort hingetragen. Dennoch ist der Nistplatz leer. Unten, am Sockel des Obelisken sitzt die Taube, unbedacht und aufgeplustert. Beim nächsten Wetter wird sie merken, dass dies keine Bleibe ist.

Ein lehmfarbener tönerner Topf wurde ins Fenster der Roten gerückt. Darin liegen unbedeckt die Mutterknochen. Sie hat sie ihr aus dem trockenen Fleisch gezogen. Seitdem wandelt sie von Zimmer zu Zimmer, sucht die Mutter und fächelt mit den Gardinen.

Weihnachtsstern und Gierlande zieren noch die Scheiben zur Rechten. Als Faschingsscherz mittlerweile wieder passend. Doch gibt man sich dazu ganz unnärrisch. Die bayerische Variante des Humors, schräg sein und spießig tun. Wer lacht, wird verbannt.

In der Schnauzerkanzel zeigt mir die Tochter ihre rote Schulter und blonden Schopf. Recherchen im Netz, eine Schularbeit. Die Mutter setzt sich dazu ins Fenster, blickt ihr übers Schulterrot und versucht zu verstehen, was sie nicht interessiert. Und so wendet sie sich um, blickt aufs Dach, in die Gasse und in die Wohnung unter mir. Den Blick in meine Richtung meidet sie, sie könnte ja versehentlich meinen Blick kreuzen. Daneben Aaronwelk und neue Blüte. Nun huscht sie wieder hin und her und läuft doch ihrer Langeweile nicht davon. Ach, wäre es nur Zeit fürs Abendbrot ...

Changierender Lichtzauber. Wechsel zwischen Melancholie und Freude. Nicht grau, nicht hell. Intensität und Blässe. Heute würde ich mein Gegenüber hinter zartem Blau verschleiern, das in den Himmel fließt und sich aus dem Unbestimmten heraus erhellt. Knapp unter den Wolken taumeln späte Krähe, für einen Wimpernschlag vom Licht behaucht.

23. Februar 2001
Zwei Farben. Eisgrau, durch die abgesenkten Jalousien in den Oberlichten. Weißrosé, in den Scheiben darunter. Die Gaube der Unscheinbaren vom nachtschwarzen Dach umfasst. Ein Aufflammen im unteren Fensterwinkel. Eine Zigarette wurde angesteckt. Keine Zigarette danach, dazu ist das Licht zu kalt. Schatten an der Decke, Beine werden übereinander geschlagen. Plauderstunde im kühlen Dämmerlicht.

Zur Linken das Dach vom Schnee behaucht. Die Schwärze des Daches rastert den weißen Schleier auf. Ausgestorben mein Gegenüber. Die letzten Faschingsnächte locken.

Ausgenommen die Fernsehsüchtige, ihr Faschingsflirt flimmert ins Zimmer. Als Haremsdame verkleidet hat sie sich vor den Bildschirm gebettet. Das Rotweinglas in Reichweite. Mit dem dritten Glas wird sie sich einen Scheich aus der Mattscheibe greifen. Er wird an ihrem Wein nippen und sie mutig zum Tanz bitten. Sie wird ihm zulächeln und ihn mit den ersten Schritten absichtslos zertreten. Doch diesen kleinen Fehltritt wird sie übersehen und weiter weinselig zum Humpa-Tätarä durchs Zimmer schweben. Glückselig und atemlos wird sie auf ihrer Couch niedersinken und vor dem Bildschirm einschlafen. Morgen wird sie den roten Fleck auf dem Teppich sehen und mit Salz und Fleckentferner den vergossenen Wein aus der Wolle ziehen. Danach wird sie sich noch beseelt von der rauschenden Nacht vor dem Fernseher bei einem Alkaseltzer und einem sauren Hering erholen.

Unbedeckt schläft die Taube am Rand des Fenstergiebels. Trotzige Verlassenheit.

24. Februar 2001
Schüttelglasstimmung vor meinem Fenster. Schneeflockentanz. Aufwärts nahe dem Fenster, quer durch die Gasse, nieder vorm Gegenüber. Lautlos die Melodie.

Die Taube gegenüber scheint den Fenstergiebel nicht preis geben zu wollen. Flach gedrückt ruht sie neben dem Stucksockel, den Schnabel in den aufgeplusterten Kropf gedrückt; ruht auf ihrem eigenen Kot, der ihr angehäuft, bliebe sie dort, gewiss zum wärmenden Nest würde. Ein Bild, das auch dem Menschen gilt ...

Eigentlich ist es gar kein Obelisk, das zierende Gebilde, links und rechts am Fenstergiebel der Studenten. Eher ist's ein "Doldelisk", eine stilisierte Dolde. Spitz und vierkantig die Dolde selbst, ein Hand hoher Kegel, zu stumpf, zu kurz, um als Obelisk zu gelten, von einem breiten Band gefasst. Darunter, die Linie fortführend, der Fruchtknoten, vom gleichen Maß wie die Dolde. Drei ausladende und zugleich abfallende Schnörkel, stilisierte Deckblätter, lösen die Kegelform auf. Zu jeder Seite ein Schnörkel. Abschwingend zum gekerbten und gerundeten Fruchtboden. Bei der Zwillingsdolde am rechten Giebelrand, sind die schließenden nach außen gekehrten Rundungen bei zwei Blättern weggebrochen. Würde dies die Rote sehen, riefe sie sogleich nach einem Handwerker, den Schaden zu beheben. So aber herrscht ein harmloses, doch spannungsreiches Ungleichgewicht. Der Fuß der Dolde in Vasenform konterkariert das angedachte Gebilde, wandelt den Blütenstand zur überbordenden Fruchtschale und die Dolde zum obelisken Kegel.

Bleibt dem Betrachter so viel Zeit, sich auf Einzelheiten einzulassen, mag der Leser mit gutem Grunde ahnen, dass das Leben aus meinem Gegenüber gewichen ist.

Ein Taubenpaar fliegt herbei, die Taube vom Giebelfenster, turtelt mal mit der einen, mal mit der anderen. Wohl eine eigenwillige Henne, die sich zwischen zwei Hähnen nicht entscheiden mag. Nach kurzem Geschnäbel flattert das Paar davon. Sie bleibt am Stein zurück. Wahllosigkeit macht offensichtlich einsam.

25. Februar 2001
Verschlafen, doch ganz ohne gelöste Mattigkeit nach einem ausgelassenen Tag liegt mein Gegenüber vor mir im rotgelben Licht städtischer Nacht. Dieser Faschingssonntag ging an ihm vorüber wie alle Sonntage: voll gedehnter Langeweile. Auf dem Nachhauseweg über vereinzelte Konfettiflecken auf dem Trottoir geeilt, um rasch die Katzen zu füttern. Zuvor ein nächtlicher Rundgang durch die alte Stadt am fernen Strom. Eineinhalb Stunden Aufenthalt. Weiße Bänder zogen sich links und rechts durch die Gassen. In die Rinnsteine waren weiße Konfettischnipsel und leere Bierdosen gekehrt. Überreste des Umzugs. "Radi, Radi!", der verhallte Schlachtruf der Narren.

Verschlafen mein Gegenüber. Trübes Licht bei den Unscheinbaren. Heimkehr- oder Katzenlicht. Da ist niemand zu Hause. Im Tüllrock tollt sie mit ihrem Preisboxer im Ringelhemd durch einen Ballsaal. Wirft sich an behaarte Männerbrüste und sieht ganz ohne Eifersucht aus dem Augenwinkel zu, wie buhlerische Bräute die Muskeln ihres Boxers streicheln. Warum auch soll sie auf einen Androiden eifersüchtig sein.

Bei den Studenten wurde gelüftet und das Bett gerichtet. Jetzt funzeln die Leselampen hinter dem hellen Tuch. Kein Fasching heute, kein Fasching morgen, keine Vorlesung, nur stilles Studieren und Warten auf eine reiche Zukunft. Noch zwei tolle Tage ...

26. Februar 2001 Frühe Nacht und gewohnte Dunkelheit mir gegenüber. Die schlafende Taube am Sockel des Kegels wirft einen runden Schatten gegen die Ziegelwand. Gelbes Licht durch den Rupfen im Studierzimmer. Zwei Zimmer weiter wird ein Schlafsofa zurecht gerückt. Der Abstand zwischen Bettkante und Wand zwei Handbreit nur, beinahe zuviel für den fülligen Hintern der Kandidatin in schwarzer Jeans. Es ist die Fernsehsüchtige, die mit ihrem Beischläfer die Liegestatt testet. Sie sollte ihr Händi aus der Gesäßtasche nehmen, ansonsten wählte sie noch eine Nummer für den Arsch.

Der Leblose tut es mittlerweile der Roten gleich und hat sich auch an den Schlaftropf gehängt. Oder beginnen sich etwa Widergänger mit zunehmender Helligkeit einzupuppen? Vielleicht in einen Kokon aus ausgewürgter Blutgrütze, die, über den Körper geschmiert, schnell härtet. Darin ruhen sie dann, bis die Nächte wieder länger werden und die Seelen sich erneut nach Übergängen sehnen.

Morgen freilich werden sie sich allesamt Pappnasen aufsetzen und mit aufgesetzter Fröhlichkeit Auskehr feiern. Es ist peinlich, verklemmten Menschen zuzusehen, wie sie versuchen aus sich heraus zu gehen. Man könnte darüber spötteln, wenn es nicht so traurig wäre, den Panzer zu spüren, in den sie sich verkrochen haben. Nein, diese Rüstung verschreckter Selbstzügelung, werden sie nicht abwerfen, selbst wenn der Fasching tausend Tage währte. Ja, es ist eine betretene Peinlichkeit, die den Betrachter anmutet und seine Spottlust hemmt.

Rotgelbes Scheinen. Mein Gegenüber kommt mir heute so fern und so bedeutungslos vor.

Faschingsdienstag 2001
Strahlender Sonnenschein und kalte Luft. Da macht der Kehraus Laune, da werden sich die Buben und Mädchen fröhlich vermischen und die Hebammen im späten Herbst sonnige Kinder in die Welt ziehen.

Leer mein Gegenüber. Jetzt drängeln sie sich in den Gassen, stehen am Rande und schauen den wenigen Masken bei ihrem Treiben zu. Nein, zum Mitmachen reicht es nicht, wenn man sich die dunkle Zeit über in sich selbst und in seinen Wohnhöhlen verkrochen hat, die Dunkelheit nicht in sich einließ, um sie mit der aufsteigenden Sonne wieder zu verscheuchen. Nein, dann mag man auch zum Kehraus keinen Narren mehr an sich fressen, keine dunkle, erdhafte Gewalt in sich entdecken. Nein, Luxuria, die Berauschende, die Üppige, die Fruchtbare, die Dämonin der Wollust, wird sich ihnen versagen. Und so blicken sie auf ein ihnen fremdes Treiben, gleich weit angereisten Touristen in der eigenen Stadt. Und doch werden sie sich amüsieren und zugleich über den schalen Geschmack in ihrem Munde wundern. Sie werden die Schalheit wegschwemmen, doch der Rausch wird sie nicht in selige Höhen heben, sondern sie lediglich sich selbst vergessen lassen.

Der Schnauzer weiß, was ihm bevorstünde, und so sitzt er lieber im grünkariertem Hemd vor seinem Computer, lässt die Auskehr Auskehr sein und verspeist mit seiner Frau heiße Faschingskrapfen zum Kaffee.

Die Fernsehsüchtige lässt derweil das Faschingstreiben an der Mattscheibe an sich vorüberziehen. Ein kluger Zug, so muss sie nicht am Rande stehen und zeigen, dass sie am Rande steht. Heute morgen schien ihrem Beischläfer und ihr die Sonne ins Gesicht. Es war ein heiteres Bild, ihre beiden Köpfe in den Kissen zu sehen, wie sich anlachten, schwatzten und küssten. Da war die dunkle Zeit vertrieben.

Heiter liegt mein Gegenüber im Sonnenschein. Es scheint mir, als würde es aus sich heraus lachen. Ein herzhaftes Lachen über die angestaubten Seelen, die es beherbergt.

Aschermittwoch 2001
Schinkennudeln, die Säuferspeise, ausgekotzt, zieren das Pflaster im Karree. Fastenzeit, nun werden die Mäuler mit Wörtern gestopft. Ein paar verspätete Trunkenbolde schwanken mit aufgewärmten Räuschen um die Ecken. Andere tragen, ausgenüchtert, ihre geschwollenen Augensäcke wie Blessuren nach heldenhaftem Kampf.

Mein Gegenüber verrät nichts von alledem. Auch diese Zeit ist spurlos an ihm vorübergegangen. Im Aquarium unterm Dach der Kopf des Leblosen. Also doch kein Schlaftropf, sondern Rückkehr nach Heimfahrt zum elterlichen Tisch. Vor dem Fenster der Fernsehsüchtigen ein Topf gefüllter Märzenbecher. Die Taube hat ihren Platz auf dem Sims des Giebelfensters aufgegeben. Ansonsten Dunkelheit mir gegenüber.

Kein verdrecktes Konfetti, keine plattgetretenen Luftschlangen, keine verkaterten Mienen. Die Rote hat sich nicht an Männerbrüste geworfen. Der Leblose sich nicht als Vampir geoutet. Die Unscheinbare kehrte nicht als Dirne heim. Die Schneiderin musste die Dekoration nicht wechseln. Alles ist, als wäre nichts gewesen. Und in der Tat ist nichts gewesen.

Der Leblose hat sich einen Pullover übergezogen und das Licht gelöscht. Er wird die Treppe hinunter stolpern, das Haus verlassen. Zu spät, in der Fastenzeit bleibt selbst Vampiren der Genuss von Fleisch und Blut versagt.

Die Rote kegelt derweil in ihrer Etage mit dem Mutterschädel, die Mutterknochen zu dreispitzen Zelten aufgestellt sind ihr Ziel.