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Dezember 1. Dezember
2000 Drei
Monate blicke ich bereits in dieser Weise auf mein Gegenüber, auf das
Unbewegte, meine Sicht Versperrende. Die Schneiderin
hatte Besuch, von einem hageren Kerl mit gelber Strickmütze, der ihren
Laden, ihre Kollektion bewunderte. Verlegen mit hochgezogenen Schultern,
gluckste sie für ihn. Jetzt klebt ein kleiner gelber 2. Dezember
2000 Aufgerissen das obere Licht des Schnauzers. Eine geradezu obszöne Offenheit dem Zwielicht gegenüber, zieht es geradezu in sich, hinein in den Raum, bietet dessen lichtes hintergründiges Dämmern dem milchigen Scheinen des Mittags zur Vermischung feil. Eine lüsterne, geile Forderung. Lichtakt. Interruptus. Der Schnauzer im roten Strickhemd schließt das Fenster. Eigentlich wäre heute, Samstag, Kleiderwechsel angesagt. Die Sonne bleckt hervor, die Fassade wechselt zu leuchtendem Gelb; doch noch bleiben die Schatten verwaschen. Der Typ der Schneiderin ist ihr in den Morgen gefolgt. Hat seine gelbe Mütze gegen eine Schwarze getauscht. Jetzt hat sie keine Zeit für ihren Laden. Ihre kleine Schwester stellt sich für sie hinein, gewährt ihr Zeit für glucksende Tändelei mit der Mütze. 1. Advent
2000 Gestern hatte er ein Mädchen bei sich. Saß ihm gegenüber am Tisch. Schäkerte mit ihm, indem er einen Teddybären auf seinem Schoß wiegte und ihm ein Leibchen überstreifte. Werbung durch Brutpflegeverhalten. Ein Taubenpaar
auf meinem First, im Oberlicht des Leblosen gespiegelt, als weitere Bewegung
in der Unbewegtheit. 4. Dezember
2000 Der Schnauzer
im rotkarierten Hemd, blättert in Kontoauszügen in seiner Schreibtischkanzel.
5. Dezember
2000 In einem
kuhgescheckten Morgenrock eilt der Schnauzer für einen Augenblick in seine
Schreibtischkanzel. Zuvor stand die seltsame Frau bei den Unscheinbaren telefonierend im Fenster. Ein breites Kopfband hielt ihr Haar zurück. Ihr altes Gesicht war ein fahler, teigiger Kreis. Ihr Blick über die Gasse reichte in weite Ferne, dorthin, wo die Stimme in ihrem Ohr ihren Ursprung hatte. Gen Osten saust ein silberglänzender Pfeil durchs Himmelsblau. Ein Lichtsamen, aus der müden Sonne geschossen. In ihm will sie wiedergeboren sein. 6. Dezember
2000 Er verbirgt sich schon seit Tagen. Gewiss hat er sich in seiner unstillbaren Gier vorzeitig über das Bürschchen hergemacht, dass er sich als sommerliche Zehrung anlockte. Nun liegt er auf den Brettern seiner ausgeräumten Behausung mit geblähtem Bauch und blutverschmierten Maul, rülpsend, furzend und seine Gier verfluchend, währenddessen sein Seelenschatten durch das Reich der Unscheinbaren wandelt. Schon steht die Sonne am Ausgang der Gasse, vergoldet die Laterne vor meinem Fenster und senkt mein Gegenüber in warmes Zwielicht. Hoch im Himmel schwebt, unter einem weißen Kissen hängend, ein Fallschirmspringer gen Westen. Wohl ein Nikolaus, der auf dem vorweihnachtlichen Gauklerfest einschwebt? Ein lauer Einfall. Nein, es ist eine große Seele, die hier Eingang in das Schattenreich findet. 7. Dezember
2000 Der Leblose gibt Lebenszeichen, Lichtzeichen. Die Leuchte in seinem Aquarium scheint heute gelb statt grünlich. Wahrscheinlich haben wieder Außerirdische angedockt, purzeln durch die Glasschüssel in unsere Welt. Es müssen diesmal, wo das Licht um einiges höher schwingt, mehr als sonst sein. Nun, ich werde sie sehen, sobald sie durch die Stadt tölpeln und mir im Wege umgehen. Vor
zwei Jahren, um diese Zeit, hing eine Fledermaus an der Stuckkassette
neben dem Doppelfenster der Roten. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Es war der Leblose, der da in späten Novemberschwaden nach einer Bleibe suchte. Stand nicht am dritten Tag des Nachts in einer Gaube ein Fenster offen? So wie meines jetzt, durch das zu dieser Jahreszeit noch Mücken in meine Lampe schwirren. Schnell, schließe es. Wer weiß, ob nicht ein Lebloser dem Fraß der Fledermäuse folgt. Heute kam der Computer mit dem verlorenen Text zurück. Darin beschreibe ich am Volkstrauertag den hellen Bogen, der sich über der Doppelgaube des Leblosen in die Nacht schwingt. Dies war die Bemerkung, die er mir abziehen wollte. So gleißend licht habe ich den Bogen seither nicht mehr wahrgenommen. Es sind also doch keine Außerirdischen, die in sein Aquarium purzeln, sondern novemberliche Seelenwehen, die sich manifestieren, noch einmal teilhaben wollen, woran sie nicht mehr Teil sind. Im Aquarium sehe ich in der Tiefe über dem Fensterbord einen Kopf unter dem Lüster. Ein noch nicht gesehenes Gesicht. Eine Manifestation aus Anderwelten oder neue Zehrung? 8. Dezember
2000 Im Fenster welkt der vor wenigen Wochen hinzugestellte Farn ausgedünnt vor sich hin. Gibt den Blick frei, den er eigentlich verstellen sollte. Daneben, im rechten Fensterflügel, das satte Blattwerk des Aaron, längst ohne seine lüsternen Blüten. Was gut für meine Betrachtung ist. Jedenfalls scheint mir der Schnauzer nicht Manns genug, wie weiland Moses mit dem Stab Aarons Wasser aus dem Fels zu schlagen. Da hilft keine Anlehnung an vergangene Fruchtkulte. Mithras ist längst kastriert und Minotaurus unterm kretischen Schutt begraben. Auch wenn er sich ein gegerbtes Kuhfell überwürfe, um die Sonnenwende zu erwarten, ein Schnauzer könnte den Stab nie so führen, niemals solch buhlerische Feuchte aus spröder Trockenheit quellen lassen, wie dies einst Moses dem Heidenpriester Aaron abschaute. Ein Taubenpaar auf meinem First, im Oberlicht des Leblosen als dunkle Schatten zu sehen. Zur Seite gelehnt sehe ich das Fenster des unscheinbaren Engleins. Es ist mit arabesken Faltsternen bedeckt. Aus einer Kinderzeichnung geschnittene Figuren künden von der nahen Weihnacht. Darunter blickt das Schreckgesicht in die Gasse. Auch heute scheint es vor sich hin zu schmunzeln, als wüsste es, um seine Schrecklichkeit? 9. Dezember
2000 Wie nur
erfasst mich diese Sicht, nach diesem Tag? Versöhnend
das Licht aus der Gaube der Unscheinbaren. 2. Advent
2000 Krähenschiss an der rechten Scheibe des Leblosen. Gelb das Leuchten
seines Lüsters. Licht auch aus der Gaube daneben, Yuccagestrüpp und weiter
im Hintergrund ein Stück Granit. Oder ist es eine Plastiktüte? Achtlos
auf den unbemerkt hinzugekommenen Schrank geworfen? Ein Mädchenkopf, westfälisch
rotes Rosshaar, Bubikopf, zeigt sich für einen Wimpernschlag. Welch ein
Ereignis, welch ein Wandel. In all den Jahren sah ich, wenn überhaupt,
nur kurz ein Männergesicht im Fenster unter diesem Dach. Jetzt wandelt
sich das Licht von Grün zu Gelb und für Augenblicke erscheinen Mädchenköpfe.
Ist er womöglich entfleucht, der Leblose? Durch den Lüster aufgestiegen,
abgeflogen mit der Fähre der Mutanten?. Hell strahlend schwingt der Bogen über der Doppelgaube, hell scheinend die kupferumrahmte Front. Eine lichte Abgrenzung der Nacht. In solchem Licht liegt ein Versprechen. Durchs geöffnete Fenster trägt es kühler Wind mir zu. Im Spiegel der Scheibe darunter sehe ich Ruth in der Küche wirtschaften. Endlich wieder eine Bewegung auf der Etage der Roten, auch wenn's nur Widerschein ist. Die
unscheinbare Kopfbandträgerin drückt eine Wollschlange ins Fensterbrett.
Schließt ihn aus, den frischen Wind. Ich halte mein rotes Rollo dagegen. 11. Dezember
2000 Der Schnauzer hat seinen Morgenrock gegen einen burgunderroten Rollkragenpullover und eine rote Jeans getauscht. Vorbei sein Mythraskult. Dabei stände der Höhepunkt des Festes zu Lucia, dem alten Weihnachtstag, in zwei Tagen an. Beim Leblosen wanderte der blaue Spitzkelch über Nacht aus der Doppelgaube ins Zimmer daneben. Dort steht er sauber in die Mitte gerückt im Fenster. Weibliche Pedanterie. Ein Hubschrauber des Fernsehsenders Pro Sieben kreist auf der Suche nach einer Sensation übers Viertel. Irgendwo werden sie um der Bilder wegen wohl ein Haus anstecken. Vielleicht sollte ich ihnen entgegenkommen und um meiner Betrachtung willen mein Gegenüber abfackeln. Damit würde ich mir die selbstgestellte Aufgabe sehr erleichtern, hätte Tag für Tag wechselnde Bewegungen und Einblicke in eine ausgebrannte Ruine. Geschehe es, würde ich mir andererseits nicht die Frage stellen, die mich seit gestern nacht erneut umtreibt, mich unwillig macht. Wo bin ich in dieser Betrachtung? Wohin soll ich sie lenken? Worauf mich konzentrieren? Wieweit meine Worte und Gedanken ins Kryptische senken? Eine Krähe fliegt auf den First der Brandmauer zwischen beiden Häusern. Was weiß sie mehr? 12. Dezember
2000 Lange Schatten noch zu Mittag. Ich bin mit meinem Gegenüber ungeduldig, mit seiner Bewegungslosigkeit. Möchte vorantreiben, wo stille Veränderung ist. Mählichkeit. Zähe Mählichkeit. Allein der Einzug in die Räume unterm Dach der Roten, zieht sich bereits über Monate hin. Da hat man Zeit, da kann man sie sich leisten, sie verschwenden, als gäbe es kein Enden. Da ist ein Hauch von Ewigkeit, der mich reizt, mich ärgert, weil ich beginne diese Betrachtung nicht mit meinen Augen zu führen, sondern mit den Augen des Lesers. Weil ich ihm Spannung, Abwechslung, Fortschreiten bieten möchte. Nur ist das, der Zweck des Experimentes? Was sehe
ich? Ich sehe die Rote seit Wochen nicht mehr. Irrtum, wie um meine Zeilen Lüge zu strafen, bewegt sich die Gardine kurz, wird in sinnloser Weise das Fenster einen Spalt geöffnet und sogleich wieder geschlossen, als wollte man ein Papierchen oder eine Kippe auf die Straße werfen. Ich sehe nicht wer es war. Welch seltsame Gleichzeitigkeiten, mein nörgelnder Gedanke, die Antwort des Gegenübers. Wer und was kommuniziert hier mit wem und was? Auf meinem First im staubtrüben Spiegel des Oberlichtes ein Taubenpärchen. Hoch im Himmel franst ein bogenförmiger Kondensstreifen aus. Lautlos gleitet ein Sportflugzeug über die Dächer. Der Hubschrauber des Fernsehsenders quert den First. Und das alles während dieser wenigen Zeilen. 13. Dezember
2000 Gestern sah ich die Rote aus dem Haus hasten. Sie ist also da, saß all die Tage hinter geschlossenen Fenstern, um Heizkosten zu sparen. 14:41 Uhr die Schatten haben sich noch weiter in die Länge gezogen, zerfransen, als hafteten sie im Konturlosen. Die Sonne rückt auf zehn Grad zum Horizont. Würde ich es malen, das Gegenüber, wären, bei dem sich von Augenblick zu Augenblick wandelnden Licht, nur schnelle Skizzen möglich. Sichtlich lösen sich die Sonnenstrahlen vom Gegenüber. Das ist kein schwindender Schein, sondern körperliches Lösen. Mit dünnen Fäden haftet das Licht noch am Prospekt, eine luftige Verbindung haltend. Auf kleinen Sprüngen noch goldene Lichtpunkte. Langsam abschmelzendes Verglimmen, nach hin unten abgleitend. Jetzt nur noch der Widerschein hervorspringenden Zierrats an der Fassade. Rotgolden erhellter Schatten. Rasch verblassend. Noch müdes Haften des fernen Lichtes am Sims, an den wuchtigen Vorsprüngen und an der obelisken Blüte über der Studentengaube. Die Fassade, nun verschattet, zeigt die Farbe für einen Augenblick aus sich. Ein rasches Ausglühen, im gleichen Atemzug vom dräuenden Ahnen der Dunkelheit verschluckt. Es ist als krieche die Nacht aus der Fassade. Noch mählich, doch von erschreckender Mächtigkeit. 14:57 Uhr. Das Licht ist von meinem Gegenüber gerückt. Zurück bleibt sandiges Scheinen ohne Tiefe. Im mittleren Fenster der Studentenetage wird die Schreibtischlampe angesteckt, um das Studium fortzusetzen. 14. Dezember
2000 Jetzt dunkelt es unter grauem Nachthimmel. Bei den Unscheinbaren herrscht wohlige Adventstimmung. Die Weihnachtsgirlande strahlt sternengleich im Fenster. Dahinter schwaches rotwarmes Scheinen. Ein kleines Licht aus der linken Ecke strahlt die Laterne seitlich an. Illuminiert sie durchscheinend auch aus sich heraus. Darüber bescheidenes Grün. Ein geheimnisvolles einladendes Arrangement von unmessbarer Tiefe. Für den Augenblick sehne ich mich in diese Unscheinbarkeit unter der Gaube, als wäre sie ein Versprechen glückverheißender Stille und Beschaulichkeit. Müdes Scheinen im linken Flügel des Leblosen. Der Einzug bleibt unvollendet. Rotgelb die Ziegel des Hauses im Neonschein, als verglühte in der Gasse ein verfrühtes Sonnwendfeuer. Die Schatten fallen nach links. Es ist genug. Ich versperre mich der grimmigen Bewegungslosigkeit und lasse mein rotes Rollo fallen. 15. Dezember
2000 Wechselspiel überm First, beständiges Licht von Süden. Die Sonne bescheint mein Gegenüber, das still in sich glänzt. Unverändert klaffend, der Vorhangspalt der Roten,. Nach wie vor Krähenschiss an der Scheibe des Leblosen. Gelbe Sonnenkarte bei den Unscheinbaren, das rote Herzchen nun ins linke Fenster gedreht. Darunter das Zimmer des Schnauzers, leer. Leer auch das Taubennest unter der Traufe. Mehr ist nicht. Ein Ziegel längs ein Ziegel quer, eineinhalb Ziegel tief die Mauern. Mehr ist nicht. Bald wird es schneien. Jetzt wieder strahlend blauer Himmel, das Gegenüber rückt aus der Sonne, fliehendes Scheinen. 16. Dezember
2000 Winterliche Gemütlichkeit nur auf meiner Seite. Nach langem Bummel durch die Schneeluft, glühen meine Ohren in behaglicher Wärme. Gelöschtes Licht beim Leblosen. Ferner Lichtwechsel aus dem Bildschirm. Abweisende Kälte. Mein rotes Rollo fällt dazwischen. 3. Advent
2000 Leeres unbewegtes Grau, mein Gegenüber. Im tiefen Gewölk ein Flugzeug im Landeanflug. Augenblicklich von noch tiefer hängenden Schwaden verschluckt. Ein Seelchen landet auf meiner Scheibe. Seine durchscheinenden Flügel herbstlich blassgelb, statt im gewohnten sommerlichen Grün. Eine jahreszeitliche Mutation. Sobald der Frost über die Stadt fällt, wird sein zartes Leben erstarren. Offensichtlich hat die Rote ihre Mutter wieder ins Asyl geschickt. Wird sie sie sich zu Weihnachten neben den Christbaum setzen? Wieder folgt ein landender Flieger der Firstlinie nach Norden. 18. Dezember
2000 Die Unscheinbare steht in der Doppelgaube, nimmt ein Stück Stoff, ein Heft, ein Maßband aus der roten Plastiktüte. Sie rollt das Maßband aus und vermisst, was ihr in den Sinn steht. Das Gesicht voll entschlossener Überlegung, die Lippen leicht geschürzt in gemütlicher Erwartung. Dann blickt sie entschieden hinüber aufs Dach und verstaut die Utensilien wieder in der roten Tüte. Der Stoff bleibt im Fenster. Sie selbst tritt zurück in ihre Unscheinbarkeit. Denke ich ihr zu, was ich mir von ihr einbildete, wird sie der Empfehlung einer Frauenzeitung folgend weihnachtliche Umhüllung vermessen haben. Womöglich hat sie gar einen Schnittplan angelegt, wie der Stoff am ergiebigsten zu teilen ist. Denke ich ihr zu, was ich mir von ihr nicht vorstelle, könnte sie sich aus einem Katalog für Ehehygiene - welch ein Wort - das Maß des Dildos vor Augen geführt haben, der unterm Christbaum liegen soll. Im Spiegel des Oberlichtes sehe ich eine einsame Taube auf meinem First. Das zweite Fenster der Roten steht einen Spalt breit offen. Links unverändert der dunkle Vorhangspalt. 19. Dezember
2000 Ruhe. Sichtbarer Schlaf. Morgen wird man im Gestern erwachen. 20. Dezember 2000 Das Auge eines Mutanten klotzt mich an. Ich blicke in zwei weiße Linsen, begegne einem verdüsterten bösen Blick. Starr aufgerichtet ist diese schwarze Auge, zwei ledernen Sehnen halten es unbewegt. Die über ihm blitzenden Sterne rücken den bösen Blick noch tiefer in den Schatten. Es ist die dunkle Halogenleuchte der Unscheinbaren, die mich vom senkrechten Galgen her anblickt. Rotes und blaues Getüte im leeren Fenster daneben. Braunes Frauenhaar im Hintergrund neben dem Blond der Unscheinbaren. Ein Gast, ebenso unscheinbar wie der Gastgeber. Nein, es ist sicher der Sichtrüssel eines Mutanten, der die Bewegungen meiner Seite registriert. Auf telepathischem Wege wird er seine Beobachtungen den Satellitenwesen, die die Stadt bevölkern, mitteilen. Sie werden sich noch weiter anpassen und sich darauf gänzlich unerkannt mit uns vermischen. Es ist der bevorstehende Jahrtausendwechsel, der sie so forsch vorgehen lässt. Wissen sie doch, dass wir mit der neuen Zeit auch neue Zeiten erwarten. Ohne Murren werden wir sie unter uns dulden. Über der Doppelgaube der Unscheinbaren sehe ich Licht aus einer großen Dachluke. Ich habe sie oft gesehen, doch noch nie als so unwirklichen Bruch bemerkt. Offensichtlich haben die Außerirdischen ein neues Fenster in unsere Welt geöffnet, nachdem der grün scheinende Port beim Leblosen geschlossen wurde. Erst schlichen sie sich über die Leblosen in uns ein, nun benützen sie dafür die Unscheinbaren. Ein fein ausgeklügelter Plan, dessen Zeuge ich bin. Rotgelb mein geziegeltes Gegenüber. Dunkle Fensterlaibungen. Dahinter stehen sie im Schatten der Wohnhöhlungen und saugen meine Gedanken. Ich sollte sie verwirren. 21. Dezember
2000 Jetzt lässt der Schnauzer seine Rollos herunter. Er schließt die Nacht aus und beginnt mit seinem Sonnwendkult. Welches Opfer wird er der Sonne bringen? Müdes graues Gefunzel hinter der Stehlampe in der Gaube des Leblosen. Er wird an dieser langen Nacht einen langen Tag haben. Grauviolettes Glimmen über dem First. Die Wilde Jagd rückt näher. Der Leblose hat sein Fenster gekippt. Als dünner Seelenfaden wird er durch den Spalt hindurchschlüpfen und sich unbemerkt mit den rumorenden Furien vermischen. Ich werde mein rotes Rollo dagegenhalten und ein Licht gegen die Finsternis anstecken. 22. Dezember
2000 Ohne Bewegung mein Gegenüber, wäre da nicht der Schnauzer, der sich soeben an seinen Schreibtisch setzte. Er hat sein nächtliches Opfer dargebracht und seinen kuhgefleckten Morgenrock abgelegt. Unter ihm, im Fenster der bislang Namenlosen, kleben zwei transparente Faltsterne. Orange, altrosa, der größere im linken Fenster, rein orange und ein Stückchen tiefer angepickt, der kleinere im rechten Fenster. Ich muss mich weit über meinen Bildschirm beugen, um sie zu sehen. Gestern Nacht brannte das Licht lange in der Doppelgaube des Leblosen. Es grünte wie selten zuvor. Die Luke über der Gaube der Unscheinbaren ist mit einer graublauen Jalousie abgedeckt. Der Transfer der Mutanten ist abgeschlossen. Sind sie nun unter uns, oder haben sie uns doch noch mit der alten Sonne verlassen? Die Schatten werden länger, das Licht scheint rotstichig. Und doch ist die Sonne bald wieder am steigen. Ein neues Jahr wurde geboren. Der Bursche des Leblosen ist zurück, im weißen Rollkragenpullover öffnet er die Lichte in den linken Gauben. Es wird alles anders werden. 23. Dezember
2000 Die Sonne rückt aus meiner Gasse. Im Spiegel der gegenüberliegenden Fenster, sehe ich wie sie in ihrem Niedergang gerade noch die Fassade meines Hauses streift und die Fensterlaibungen bestrahlt. Würde ich mein Gegenüber jetzt malen, würde ich es unter grauweißem Schleier mit blauen und zinnoberroten Schatten als unscheinbaren Wischer verbergen, kontur- und farblos, ein unbewegtes, glasäugiges Etwas. Abendrotes Leuchten um den Aluminiumzylinder auf dem Kamin. Eine Möwe fliegt entlang des aufgelösten Kondensstreifen. Rotgolden leuchten ihre Schwingen. Eine zweite Möwe folgt ihr in gehörigem Abstand. Noch zwei Stunden, dann ist der weihnachtliche Kaufrausch, das Rasen und Gieren vorbei, die Tore der Tempel geschlossen, dann darf ausgespieen werden, was zuvor in Plastiktüten gekübelt wurde. Ernüchterung und Katergefühle werden sich darob nicht einstellen. Warum auch? Wann sonst, wenn nicht zu Weihnachten, zur Gottesgeburt, sollen Milch und Honig fließen. Im Fenster des Studenten stecken abgebrannte Kerzenstumpen im Leuchter. Weiße Tupfer, Überreste von seiner gestrigen Weihnachtsfeier mit seinen Mitbewohnern, ehe man sich des Morgens zerstreute, um den elterlichen Christbäumen zuzustreben. 4. Advent,
Weihnacht Weihnachtliche Stille in der Gasse. Erschöpftes Durchatmen vor dem großen Fest. Dunkel mein Gegenüber. Im Haus der Roten wird sich für das Christkind keine Türe öffnen. Dunkelheit auch bei den Unscheinbaren. Heimeliges Licht beim Schnauzer. Die Tochter lümmelt ungeduldig auf der Couch. Steht auf, legt sich nieder, um gleich darauf wieder aufzustehen. Warten auf das Christkind, in dieser Stunde werden selbst Backfische wieder zu Kindern. Mama beugt sich zu ihr nieder und streicht ihr über den Kopf. Sie haben eine Yuccapalme in die Mitte des Zimmers gerückt und mit einer Schlange roter Lampen geschmückt. Ihr Weihnachtsbaum. Warum nicht? Auch wenn ich beim Anblick des ungewohnten Weihnachtsbildes wieder über die Ankunft der Mutanten nachsinnen möchte. Eine Etage tiefer sehe ich durch den Schleier der Gardinen der Namenlosen wie Laken auf den Boden gebreitet werden. Eine Schlafstätte für Weihnachtsgäste oder die Vorbereitung für ein Krippenspiel? Dunkelblau der frühe Nachthimmel über dem First. Weihnacht ist. Später nach Lichterglanz und Festschmaus werden wir in die Kirche ziehen und uns danach im Mylord unter die eigene Seltsamkeit mischen. Ein Bild in Lapislazuli und Gold steht mir gegenüber. Oder ist das Bild in mir? Weihnachten ... 1. Weihnachtsfeiertag
Gewiss, nur, Weihnachtsgänse ruhen in Bäuchen, keine Gans ruht in einem Bauch. Für das Haus der Roten wurde keine Gans geschlachtet. Es ist dunkel vom Parterre bis zum Dach. Ja, der Laden der Kleidermacherin ist illuminiert, doch in ihm wurde keine Gans serviert. Der Vorhangspalt der Roten gähnt mich an. Er ärgert mich, ebenso wie das rotgelbe Licht der Ziegel. Einer längs, einer quer und alle zusammen sauber versetzt. Rhythmisierte Langeweile. Gleichbleibende Schläfrigkeit. Heute würde ich dieses Ockergelb mit Messern in eine schwarze Leinwand kratzen. Schummerlicht beim Schnauzer. Die Palme steht entleuchtet in der Mitte des leeren Zimmers. Die Laterne in meinem Blick scheint heller als ihre Stube. Ein blaulichtiger Balken vor rotgelbem Gefunzel. Auch wenn beide Farben am Rande meines Gesichtsfeldes liegen, würde ich sie in die Bildmitte rücken. Ein Mädchen mit aufgebundenen Haaren streift kurz durchs Zimmer, verschwindet wieder. Trübe Leere. Ein Stockwerk tiefer sind die Laken vom Boden genommen. Ich werde die Namenslosen, namenlos lassen. Zu selten blicke ich so weit über meinen Bildschirm, um den Boden und das rückwärtige Klavier in ihrem Zimmer zu betrachten. Es ist ohnehin ein von Gardinen verschleiertes Dasein, dass sie dort unter mir führen. Was wäre, wenn sich der Leblose, die Unscheinbaren und der Schnauzer gleichfalls hinter Gardinen verbergen würden? Ein bedrückender Gedanke ... 2. Weihnachtsfeiertag 27. Dezember
2000 Ich sollte der Roten raten, die Stuckaturen ihrer Fassade abzustauben. Es wäre eine dankbare Aufgabe für sie, den blaugrauen Schmier abzuwaschen. Ich sähe sie hektisch schrubbend im Fenster stehen, waghalsige Verrenkungen vollführen, um mit dem Lappen in Ritzen und Fugen zu dringen. Mit dem abrinnenden Schmutzwasser würde sie sich die Fassade versauen und hätte wieder Grund, ihr Schmuckkästchen von einem Anstreicher aufpeppen zu lassen. Dann sollte sie aber einen minzgrünen Anstrich wählen. Er passte so gar nicht zum Lehm der Klinker, dafür aber zu ihrem rostroten Haar. Wo sie nur steckt? Ist die Mutter womöglich zu Weihnachten gestorben und sie bereits dabei, das Erbe zu verscheuern. Nein, sie würde ihr Haus nie aufgeben, auch wenn niemand da zu sein scheint, der sie im Alter mir gegenüber in die Austragstube schickt. 28. Dezember
2000 Ein schwarzgraues Bild mit leichenfahlen, gelb- und grünstichigen Flecken steht mir gegenüber. Tun sie da drüben etwa, was ich in ihrem Angesicht am liebsten täte: mich ins Bett legen, eine Kanne Tee neben mir, ein Buch lesen, dazu ab und an eine Zigarette schmauchen und aus wohliger Wärme in den unwirtlichen Tag blicken. Nein, sie tun es nicht. Nirgendwo ein heimliches Scheinen, entleert und entseelt die andere Seite. Nur im Spiegel einer Scheibe sehe ich heimeligen Schein aus meinem Dach. Ein kurzer Schneeschauer und schon wischt wieder Regen durch die Gasse. 29. Dezember
2000 Heute lief er mir vor der Apotheke über den Weg. Er ist in der Tat ein Lebloser. Einem Wiedergänger ähnlicher als einem jungen Burschen. Leerer Blick, käsiges ausgezehrtes Gesicht, hager. Ein Mädchen war bei ihm, ebenso blutleer wie er. Junge Menschen, die eigentlich voll Leben strotzen sollten. Statt dessen reifen sie in ihren Stuben ohne Licht und Luft, füllen sich die Köpfe mit Buchstaben und Formeln und sperren das Leben aus. Untote Buchhalter, die irgendwann in Amtsstuben wechseln, um das verhasste Leben der anderen zu verwalten. Ein ferner Schatten hinter milchblauem Schleier mit ein paar kräftigen tiefroten Flecken, Flecken wie Aussatz, Zeichen verschenkten Lebens, so würde ich heute mein Gegenüber auf Leinwand bannen. 30. Dezember
2000 Gegenüber beim Schnauzer lümmelt die Tochter mit zwei Freundinnen auf der Couch. Angeregt blicken sie in die linke Ecke hinter dem Regal, wahrscheinlich ein spaßiger Fernsehfilm, den sie da sehen. Doch ebenso könnte es auch ein Kasperltheater sein, dem sie so belustigt folgen. Oder ist es das Ereignis für Backfische, das Finale von Big Brother? Vermutlich das! Indianer lockte man einst mit Glasperlen, Jugendliche heute mit gequirlter Kacke. Früher schlichen wir in die Leichenschauhäuser und sahen uns Tote an, drückten uns unsere Nase vor den Hinterzimmern der Wirtshäuser platt, um Hochzeiten, Leichenessen, Werbeveranstaltungen oder Wahlkampfversammlungen zu beobachten. Das Leben der Erwachsenen war ja so geheimnisvoll. Böllerschüsse, mal nah, mal fern. Die Wilde Jagd ist in vollem Gang. Gestern las ich in einem Internetforum, eine einfältige Frage zu den Rauhnächten und etliche dumme Antworten dazu. Dabei muss man, um diese Zeit zu verstehen, nur über den First seines Gegenübers in den Nachthimmel blicken. Ein Augenblick genügt. Die Farben des Himmels sprechen Bände. Es herrscht ein wildes Treiben dort oben, ein Sausen und Brausen, ein Schrecken und Hallen. Höllenschründe brechen auf, die eigenen Schatten verdunkeln den Blick. Setzen wir uns also zu den Backfischen und schauen mit ihnen in die Röhre. Wer fürchtet sich schon vorm Schwarzen Mann? Silvester
2000, Jahrtausendwechsel Der Leblose hängt verdreht aus seiner Gaube. In beiden Händen schwere Pistolen schießt er in den Himmel und in die Gasse. Durchlöchert Wolken und Autodächer. Querschläger platzen durch meine Scheiben, zerfetzen das rote Rollo, fallen ausgepufft auf meine Tastatur. Ich blicke hinüber. Er grinst mich breit aus seinen fleischlosen Backen an. Ich grinse breit zurück. Die Unscheinbaren schütten Champagner aus Eimern in die Traufe. Sie haben sich mit Gummimasken aus dem Extremshop um die Ecke sichtbar gemacht. Die Stirnbändige hält das blonde Engelchen weit aus dem Fenster. Lässt es los. Mit hastigen Armschlägen flattert es um die Laterne und kehrt wieder zurück. Setzt sich mit blankem Popo in die champusgetränkte Traufe. Der Schnauzer hat seine Fenster zerschlagen. Durch die Splitter jagt er nun Silvesterraketen, die an meiner Hauswand funkensprühend krepieren und krachend in die Gasse stürzen. Frau und Kind springen nackig im Hintergrund, begießen sich gegenseitig mit roter Götterspeise. Freude schöner Götterfunken, dröhnt es aus seiner Stereoanlage, die Scherbenreste in den Rahmen schwingen zur Musik. Die Rote hängt mit gelösten Haaren über dem Fenstersims. Wirft mit vollen Händen Fünfmarkstücke in die Gasse. Hinter ihr steht mit schwitzendem Gesicht ein Muskelmann und stößt sie heftig in langen Zügen. Sie girrt dazu, und mit jedem Stoß rutschen ihre Brüstchen über den Sims. Um mit dem Heben des muskulösen Hinterns ihres Katzelmachers wieder zurückzugleiten auf das kalte Blech. Sie winkt mir zu, ein gesundes neues Jahr. Ich winke zurück, gleichfalls. In der Studentenetage werden Bücher angesteckt. Lodernde Flammen versengen die Vorhänge, weißer Rauch dringt aus den Oberlichten. Sie haben sich einen neuen Papst gewählt. Hingegen haben die Namenlosen ihre Gardinen zu Knoten geschlungen und liegen für jedermann sichtbar mit gedunsenen Bäuchen auf dem Parkett zwischen einem Gewürfel aus Gänseknochen. Eine Flasche Doppelkorn kreist. Sie lindert das Erbrechen nicht. Ein ums andere Mal fließt ihnen aus den Mäulern zermalmtes Blaukraut, Knödelreste und fette Soße mit Gänsefleisch. Darunter steht die Schneiderin mit breitem Schritt in ihrem Laden. Ihre dürre Schwester mit umgeschnalltem Dildo, aus dem ein munteres bengalisches Feuer sprüht, hat beide Hände in ihre Scham verkrallt. Mit unbeteiligter Miene zerschlitzt die Schneiderin ihre Kollektion und kreischt Prosit Neujahr durch die offene Ladentüre. Glücklicher, der du einen solchen Tag in deinem Tagebuch beschreiben kannst. Nichts von all dem ist zu sehen. Leer und ausgefegt mein Gegenüber. Ausgeleert wie tausend Jahre. Lediglich der Lüster beim Leblosen funzelt schilfgrün in der Doppelgaube. Mutanten purzeln in die trübe Welt seines ausgeräumten Zimmers. Darüber sanftes Himmelsgewölbe. Sonnig geht das Jahrtausend zur Neige. Fülle hier, Leere da. |