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1.
August 2001 Ein Haus mit Herz von Schatten bewohnt. Sie schleichen die Stubenwände entlang, um seinem beseelendem Blut nahe zu sein. Gelegentlich verletzen sie es, bohren Löcher in seine Wände oder reißen Tapeten ein, um sich an den geschlagenen Wunden zu laben und ihre verschatteten Mäuler mit Hausblut zu verschmieren. Sie sind Schatten, die keiner wirft, Schatten im Schatten des Hauses. Vesperzeit, die Sonne rollt auf den First meines Gegenüber zu. Nur noch eine knappe Weile, dann wird sie mir den Bauch wärmen, mir die Augen blenden und ich werde an der Jalousie spielen, um das eine zu haben und das andere auszuschließen. Es ist ein sattes Licht, in einem satten Monat. Fülle, Lust und Melancholie, alles ist so nah, so durchwoben, wie bei einem satten Weib. Ich liebe den August. Vivat! 2.
August 2001 Ein Ziehharmonikaspieler quetscht einen Tango durch die Gasse. Die Mädchenstimmen sind heute lauter als sonst. Ob sie auch hitziger sind, ist nicht herauszuhören. Unpassend dazu das Bild der anderen Seite. Statt Tangoromantik, träges Leben. Der Student hat zum Abendessen geladen, die beiden Paare sitzen sich brav gegenüber, so wie er es daheim gelernt hat. Der Schnauzer fläzt auf seinem Sofa. Der Leblose sonnt sich unter seiner Deckenlampe im Aquariumzimmer. Ansonsten tote Hose. Die Rote hat mitgelesen. Tote Hose scheint für sie ein Stichwort zu sein. Sie tritt aus dem Dunkel ihrer Etage ans rechte Fenster des Mutterzimmers, es ist der Laterne am nächsten, wirft die Gardine zur Seite, hebt die Schürze hoch, klemmt sie unters Kinn, zieht den Schlüpfer hinab und blickt im Schummerlicht der Neonfunzel lange auf ihre Scham. Sie schimmert wie Barbarossas Bart im kristallenen Schrein des Kyffhäusers. Schließlich nickt sie mir zustimmend zu und verschwindet wieder in der Dunkelheit des Raumes. Die Gardine wedelt noch kurz. Ich hatte keine Zeit mehr, ihr zu deuten, dass der Leblose über ihr ebenfalls noch in seiner Hose steckt. Und so bleibt alles in toten Hosen. Die Mücken schwärmen durch mein offenes Fenster. Ich werde meine rote Jalousie senken, um mich vor ihren belebenden Stichen zu schützen.
3.
August 2001 Jetzt verdunkeln sich die Fensterhöhlen, das Licht wird fahl, grünstichig, schwefelgelb. Gewitterwolken schieben über den First, drehen sich in die Höhe, wälzen sich wieder zurück in die Wolkenmasse hinein, verdichten sie, dann der erste Wind noch flau, kurzes Schlagen in der Gasse, dicke Regentropfen fallen, und dann ist es da, Regen, dicht wie Schneetreiben, peitscht durch die Gasse, Hagelsturm mischt sich dazu. Nur Sekunden, mein Gegenüber verwischt vor meinem Auge, jetzt gießt es senkrecht aus Kannen, ich schließe mein Fenster und augenblicklich staut sich die Hitze. Der erste Blitz. Regengetrommel übertönt den fernen Donner. Auf der anderen Seite ist niemand den das Unwetter mit staunendem Mund ins Fenster lockt. Für einen Moment hellt es auf und überzieht mein Gegenüber mit Bleiglanz. Ich muss an die Marienstatue auf dem Salzburger Domplatz denken; bleierne Skulpturen sind von eigenartig sterbender Schönheit. Mit den ersten Tropfen schloss die Unscheinbare ihr Fenster, jetzt steht es wieder offen. Das erste Unwetter ist vorüber. Auch ich öffne wieder mein Fenster, sehe dabei die Hand des Studenten durch den blauen Vorhang seiner Schlafkammer zum Fensterriegel greifen. Sah ich da nicht Barbarossas Dreieck blitzen? Sollte der Regen die Rote in die Belletage geschwemmt haben? Was muss ein Mieter leisten, um einer Vermieterin zinslos zu genügen? Sollte ich mich in diesem Studentenklon getäuscht haben? Nun denn, so hoffe ich für sein Examen, ihn prüft eine lebenslustige Professorin, die sein Talent schätzt. Ich werde seinen Erfolg an seiner blühenden Lilie ablesen. Das Blechdach ist vom Regen eingespeckt. Donnergrollen und frischer Wind künden ein zweites Ungewitter an. 4.
August 2001 Die Hitze ist verfrischt, das Gemäuer ausgeglüht, die Schürze der Roten über die Scham gefallen, statt Barbarossa-Dreieck nun Tomatenröte auf den Backen, passend zum Kupferputz ihrer dünnen Mähne, nicht zu sehen, nur zu ahnen, in das Dunkel ihrer Etage hineingedacht, durch die Gardinen hindurch. Die Schatten, die sich über sie gewälzt haben, die geilen Schatten, fallen von ihr ab, fallen in sich zu Elendshäufchen und kriechen klagend ins Gemäuer zurück, verschlieren mählich und ungehalten, bis die stickige Luft, wieder evangelisch geklärt und aufgefrischt, salmiakfrische Reinlichkeit verströmt. Vor dem Haus steht die Luftwehr mit Atemmasken und Gummianzügen geschützt. Mein Gegenüber, der Hort hartnäckiger Nichtlüfter, ist endlich als ein Quell städtischer Ozonbelastung ausgemacht. Mit einem Rammbock sprengen sie die Eingangstüre auf, dabei hätten sie nur die Klinke drehen müssen. Schon sind sie Treppen hinauf gestürmt, haben die Wohnungstüre aufgestossen und schlagen bei der Roten die Scheiben ein. Die Scherben klirren in die Gasse. Blaue Lohen wehen aus zersplitterten Rahmen in die Nacht. Ozonalarm. Die Rote jappst, ringt nach Ozon, die Schamröte ihrer Wangen weicht asthmatischer Blässe. Sie schielt auf den Rammbock, Röte kehrt in ihr Gesicht zurück. Doch schon eilt die Luftwehr, den Rammbock zurücklassend, wieder davon, springt auf ihre Gleiter, um dem nächsten Einsatz zuzuschweben. Zurück bleibt die Rote mit ihren Gedanken und dem zweideutigen Begriff allein. Verhangenes Licht beim Studenten, Selbstmörderlicht beim Schnauzer, ansonsten Dunkelheit und nachlassender Regen. 5.
August 2001 Wir blicken in die Schlafkammer des Studenten. Wer hat ihm die Wäsche gewaschen, die im Paradezimmer vor dem geschlossenen Fenster trocknet? Die Rote war es sicher nicht, sie hätte sich nicht zwischen zwei Trommeln, zu ihm gelegt, Frauen wie sie bleiben lustlos, solange das Tagwerk nicht getan ist. Seine Freundin war es auch nicht, sie hätte ihre Leibwäsche nicht zwischen zwei Trommeln auf dem Schreibtisch abgelegt. Also war es die Freundin des Freundes: deswegen das Abendessen vor ein paar Tagen. Nein, sie war es sicher auch nicht. Sie hätte sich zu ihm gelegt, aber ihm noch nicht die Wäsche gewaschen. Obgleich Wäschewaschen ein Grund gewesen wäre, sich ihm zu nähern und gleichzeitig auf Distanz zu bleiben. Und da ein Waschgang eine Stunde währt, bliebe Zeit ... doch warum dann noch eine zweite Trommel waschen? Seltsame Wege geht der Liebes Lust. Ein sonniger Sonntagnachmittag. Die Täubchen gurren. Flauschiges Gewölk im zartblauen Himmel, mildes Licht, sichtbare Frische, ein Wetter wie eine Weißbierreklame. Der Student sitzt in seinem schattigen Zimmer, klotzt in den Fernseher, der Wäscheständer neben ihm. Wahrscheinlich sammelt er die Höschen seiner Freundin, um sich beim Studium mit ihrem Odeur ein wenig abzulenken. Noch drei Paragraphen, dann wieder ein tiefer Zug am Zwickel des Dessous. Und wieder drei Paragraphen, dann wieder Atemholen ... Seltsame Wege geht die Lust zu lernen. 6.
August 2001 Vor dem Nistplatz unter der Traufe sitzt eine Taube, so blaugrau wie das Kupferblech dahinter. Sie wirkt schläfrig. Schläfrig wirkt auch mein Gegenüber. Frische Abendluft umstreicht es. Weht es rein und keusch. Es ist jene putzmittelreine Keuschheit der Spätsommerabende, jene verlogene Pastorenkeuschheit frigider Tanten, die mich die Nacht herbeiwünschen lässt. War es zuvor noch schattenlos, so kriechen jetzt fast unbemerkt die Schatten der Nacht in das Gemäuer. Die Kehlungen und Einkerbungen, die Sprünge und Ritzen saugen sie ein, zeigen ihre dräuende Tiefe. Es ist als blickte eine Seele in ihre eigenen Abgründe und würde sich darauf allmählich verdunkeln, indem sie ihr Licht mit der aus ihren Schründen gezogenen Seelennacht bedeckt. Ein Hauch Nebelgrau fällt in die Gasse. Es ist noch zu früh, den kommenden Herbst zu ahnen, gleichwohl schon nicht mehr zu spät, um ihn zu fürchten. Dieser Sommer zählt nur noch Tage. Zähle sie nicht, bleibe mit ihm ... Abendroter Wolkenbausch im Spiegel des himmelwärts gestürzten gekippten Fensters in der Dachetage. Ein versöhnlicher Widerblick nach Osten in die aufziehende Nacht. Tiefes warmes Blau. Heimat. Dagegen die Fenster daneben, geschlossene schwarze Mäuler. 7.
August 2001 Offene Ladentüre und offener Werkzeugkasten tief unten in der Gasse. Man hat sich den Gepflogenheiten des Hauses angepasst und lässt nur noch seinen Schatten hinein. Am Morgen stehen die neuen Ladner vor der Türe und warten, dass die Sonne über den First meines Hauses steigt und ihre Schatten in den Laden wirft. Darauf lösen sie sich von ihren Schatten und spazieren schattenlos zum Sonnenbaden an den Fluss. Später in der Nacht, tragen sie ihre Schatten wieder mit nach Hause. Über dem Laden steht der Wäscheständer des Studenten. Die Wäsche ist noch nicht abgehangen. Sein Mädchen wird sie ihm abnehmen und noch einmal waschen und sich zum Geräusch der rotierenden Trommel zu ihm hinter den blauen Vorhang legen. Die Rote wird das leise Stampfen der Waschmaschine hören, den Takt mit ihrer Hand aufnehmen, ihren warmen Schoß berühren und sich grämen, weiß sie doch aus ihrer Kindheit, dass Waschtag auch Beischlaftag ist. Damals wusch man die Wäsche immer samstags und badete anschließend in der warmen Seifenlauge. Heute wäscht man öfters. 8.
August 2001 Darunter der Laden, an der Türe ein Zettel, Wohnung gesucht. Dahinter im rückwärtigen Schaukasten ein Blatt, eine Zeichnung von einer Hand, ein Schema zum Handlesen. Ein Wahrsageladen also. Gleichwohl Anfänger, sonst würden sie keine Wohnung suchen, sondern um sie wissen. Ich sollte mal hinübergehen, und sie fragen, was mit der Roten, der Fernsehsüchtigen und all den anderen wird. Eigentlich müsste es nach einem Jahr der Betrachtung in meine Hände eingeschrieben sein. Doch sie würden nur mein Geld nehmen und mir weniger erzählen, als ich ohnehin schon weiß. Mein Gegenüber wird, mit der letzten Zeile dieser Betrachtungen am 2. September erstarren. Die Bewohner werden wie im Märchen von Dornröschen zur Mitternacht in ihrer Bewegung gefrieren und wie Puppen auf ihrem Fleck bleiben. Gottlob ist es ihr Bett, so bleiben sie in ihrer Starre entspannt. Der Schleier des Vergessens wird das Gegenüber umhüllen. Die Menschen werden an dem Haus vorübergehen und es nicht sehen. Doch hundert Jahre später wird ein wackerer Reporter diese Betrachtungen aus der Müllhalde Internet graben. Er wird weitere hundert Jahre nach dem Haus suchen. Hat er es schließlich gefunden, wird er sich auf den verlassenen Stuhl in meinem Büro setzen, den Computer einschalten und meine Betrachtungen fortsetzen. Dann wird das Gegenüber in seinem Gebälk leise knirschend aus seiner Starre erwachen, seine Bewohner werden sich ächzend aus ihren Betten rappeln, in ihre Küchen schlurfen und sich einen ranzigen Morgenkaffee kochen. 9.
August 2001 Kein Lebenszeichen mehr von der Roten. Die Wohnung wirkt so verlassen wie zuvor. Wahrscheinlich ist sie gestern Nacht über ihren Träumereien in ihrer Wanne eingeschlafen. Nun liegt sie aufgeweicht und aufgedunsen, rosig, von edlen Düften durchtränkt in ihrem Schönheitsbad und fürchtet sich, herauszusteigen. Ihre ansonsten magere Gestalt hat nun zwar weibliche Rundungen, doch bewegt sie sich, gluckst das Wasser unter ihrer Haut, rollt zurück und dehnt sie wie die Hülle eines Luftballons. Sie könnte sich wie ein belegtes Wasserbett in einem Swingerclub fühlen. Doch der Gedanke ist ihr fremd, und so weiß sie nur, dass sie sich miserabel fühlt. Also hofft sie auf wärmeres Wetter, auf dass sie schneller austrocknet und ohne die Gefahr des Reißens aus ihrer Wanne steigen kann. Beim Studenten hängt die Wäsche noch am aufgeklappten Ständer, und wartet auf ihre ordnende, schmeichelnde Hand. Im Rücken des Schnauzer steht das gelbe Schellenblümchen in voller Pracht. Er hat das Oberlicht geöffnet und hüstelt vor sich hin, frische Luft ist ihm zuwider. Doch die Düfte aus dem Reich der Roten, dringen schwallweise durch die Brandmauer, benebeln stoßweise seine Sinne und verdrehen ihm die Zahlen, mit denen er papiert. Doch er ahnt nichts von der lieben Not, die seine Nachbarin quält. Das Töchterchen des Schnauzers kuschelt sich zum Fernsehen an den Papa. So mag sie das düstere Nachten leiden, gewinnt dem schwellenden Alb Gemütlichkeit ab. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass sie so Schutz bei ihrem Vater sucht. Morgen schon kann sie erwachsen sein. Dunkel mein Gegenüber daneben. Der Leblose spürt den Alb durch die Lüfte säuseln. Er hat seine Lichter gelöscht und kauert krötengleich mit rotglühenden Augen hinter seiner Wohnungstüre, bereit jeden anzuspringen, der sich zu ihm wagt. Doch es ist nur die Nacht, die zu ihm dringt. Und so lässt er sich umnachten und träumt die Träume, vor denen es uns graut. Dunkel die Etage der Roten, sie hat sich mit der Sonne niedergelegt, um diese Nacht zu träumen. Sie träumt die feuchten Träume, ihre Albträume. Sie träumt sie voll lüsterner Angst. Schweißnass wird sie ein ums andere Mal aufschrecken und in ihre stille Wohnung lauschen. Sie wird nur das Knarzen der Dielen hören und den Muttergeist als flüchtige Lohe im Zwielicht der Laterne wehen sehen. Sie wird sich ob ihres Traumes schuldig fühlen und sich wohlig beschämt in ihre Decke kuscheln, um weiter der verlorenen Lust nachzuträumen. Derweil sind die Fernsehsüchtigen vor dem Alb vor die Glotze geflohen. Zwischen ihnen liegt gewickelt das Ergebnis und Ende ihrer Lust, ihr Wickelkind. Sie müssen sie nicht mehr fürchten. Dafür speit sie der Alb direkt aus der Mattscheibe an. Sie werden seinen Auswurf nicht aufwischen, sondern ihn in ihre Seelen sinken lassen. Er wird sie niederdrücken und traumlos schlafen lassen. 11.
August 2001 Leblosigkeit beim Leblosen, die Fenster sind gekippt. Sie liegen der Wetterseite abgewandt. Er wird in die Ferien gereist sein. Bei der Heimkehr will er nicht den gleichen Mief atmen, den die Rote atmet. Womit aber verbringen Leblose ihre Ferien? Vielleicht mit einer Friedhofstour. Ich könnte ihm schöne Friedhöfe nennen, da wo immer ich kann, an fremden Orten Friedhöfe besuche. Ich denke aber, er wird sich an einem billig erreichbaren Strand zwischen andere Leblose in die Sonne legen. Abgereist scheinen auch die Unscheinbaren zu sein, ihre Jalousien sind seit Tagen gesenkt. Schattenspiele auf der Couch des Schnauzers. Die spiegelnden Scheiben verwehren mir den Einblick. Geöffnetes Oberlicht vor zugezogenen Gardinen beim Namenlosen. Vor kurzem sah ich in seine Stube. Sah das Klavier, ein Schimmel, Rahmenfüllung Pyramidenmahagoni; sah den nepalesischen Teppich, graues Quadrat mit blauer Einfassung; sah den Thonet 233, Bugholzarmlehnenstuhl, Sitz Rohrgeflecht. Mehr sah ich nicht. Ich blickte lange hinüber, angetan von der geschmackvollen Zusammenstellung. 12.
August 2001 Nun könnte ich mir ausdenken, was ich heute nicht gesehen habe. Ich könnte an die Bewegungslosigkeit denken, die mich von der anderen Seite her angesprungen hätte, doch entweiche ich solcher Trägheit und stelle mir ein Fest bei der Roten vor. Stelle mir vor, wie sie Torten auf den Tisch stellte; wie sie die Fenster öffnete, um die warme Sommerluft einzulassen; wie sie den Tisch mit ihrem Sonntag-Erbgeschirr schmückte, Blumen arrangierte, Kaffeekannen unter Kaffeehauben stellte; wie sie in die Gasse rief, um bekannte Gesichter zum Kaffeeklatsch zu bitten; wie ihre Nachbarn zu ihr kamen, der Leblose, der Student, die Fernsehsüchtigen, der rote Katzenmensch, der Schnauzer, der Hausmeister aus meinem Nebenhaus; wie sie alle kamen und über fünf Zimmer zusammensaßen und einen lebhaften Sonntagnachmittag in heiterer Runde verbrachten; und wie sie nun alle müde und zufrieden in ihren Betten liegen, sich wohlig aneinanderkuscheln und vor dem Einschlafen noch müde darüber murmeln, wer wohl zum nächsten Sonntagnachmittag zum Kaffee bitten darf. Eine schöne Vorstellung. Sie wird solange Vorstellung bleiben, solange ich den Kaffeetisch nicht richte. 13.
August 2001 Ein Beat wummert durch die Gasse. Der Laden des Texters steht offen. Er steht am Werkzeugkasten und wählt, mit welchem Instrument sich der aufgetragene Text am ehesten formen lässt. Kurz darauf schallt es herauf, Eisen fällt auf Eisen. Es ist hörbar ein hartes Stück Text, dass er sich da vorgenommen hat. Womöglich schreibt er gar an den Träumen der Roten. Im Paradefenster über dem Laden treibt die Lilie des Studenten Knospen. Das Zimmer ist verlassen. Kommt er rechtzeitig aus den Ferien zurück, kann er sich noch eine Blüte zwischen seinen Studien pressen. Es ist ein träger Nachmittag, der Blick weilt an der anderen Seite, die Gedanken plätschern hinüber, versiegen, zersplittern nicht, werden nicht zurückgeworfen, das Unbewegte schluckt das sich Verlangsamende. Es ist nicht Meditation, es ist nichts weiter als stille Lebensfreude. Still und tief. Der Blick hebt zum Himmel, der blitzende Kaminzylinder, ein sonniger Juwel im herbstgoldenen Blau, es ist Marienzeit. 14.
August 2001 Die Fenster sind verriegelt, der Wurf der Gardinen ungeordnet, sie hat sich verändert und ist gleichwohl die alte geblieben. Die Jungfer, die Verschreckte, die Hektische, die Marottenreiche, eine Frau im Herbst, die beginnt, ihr Leben zu leben. Es ist ein sonniger Tag, ein wolkenloser Himmel, silberblau, es ist, als würde die Sonne nie untergehen, ein ewig währender Tag, ein himmlisches Währen, es ist ein zauberhaftes Beginnen ... Es ist Marienzeit. Es ist Louisas 5. Geburtstag. 15.
August 2001 Die Nacht ist heiß. Mücken umschwirren das Neon, umschwirren den Bildschirm meines Rechners, umschwirren sonnenstichige Menschen, die ihre Laken abstrampeln und keinen Schlaf finden. Die Nacht ist heiß und ohne Bewegung. Lichterspiel beim Studenten unter meinem Dach. Zähneputzen, Kühlschrank, Wasserlassen, Duschen, die Hitze setzt ihm zu. Ich sehe das Licht, spüre seine Stimmung im Widerschein des Gaubenfensters gegenüber. Nordmännische Bettflucht in welscher Nacht. Es ist das mittlere Fenster, das mir den Blick gewährt, die anderen sind himmelwärts gerichtet. In ihnen sehe ich nur schwarze Nacht. Nichts von Marias Himmelfahrt, obwohl der Himmel leuchten müsste, nach einem solch satten Tag, an dem der Himmel die Erde berührte, um die Gottesmutter aufzunehmen. Der Himmel berührte die Erde, beinahe hätte er einen samt der Göttin hinaufgehoben, man war leicht und flügge, man war weit und warm. Wohlsein, wohliges Sein. Auf der anderen Seite geht man pünktlich schlafen. 16.
August 2001 Obwohl schon ein Mord geschah, soll noch ein Mord geschehen, von Lesern gewünscht. Am 2. Mai war es, als einige Häuser weiter eine Frau ihren Mann erstach. Gehe ich an dem Haus vorbei suche ich manchmal nach dem Tatort, der Wohnung, kann sie aber nicht ausmachen. Es könnte in jeder der hundert Wohnungen dort geschehen sein. Und so könnte es wieder geschehen, es leben dort genügend versoffene, sich prügelnde Paare, genügend geschlagene Frauen. Man könnte ihnen dort auch eine Etage als Asyl einrichten. Wer solche Häuser plant, sollte eigentlich solches in seine Planung mit einbeziehen. Also gut, ein Mord, für die verehrten Leser. Wütend, kurz und schmerzlos. Der Schnauzer sitzt im Trägerleibchen in seiner Schreibtischkanzel. Er telefoniert. Voll Wonne fällt sein Blick auf die Schellenblume, auf ihre goldgelbenen Blüten, wandert weiter zum Aaron, zur Calla, verdunkelt sich. Er wirft den Hörer auf die Schüssel, steht auf und stellt sich ins Fenster zur Schellenblume. Er streicht über ihre Blüten, zwickt mit den Fingern eine verwelkte Blüte ab, betrachtet sie lange, dann springt er unvermittelt ins Fenster daneben, reißt an dem vor sich hin faulenden Aarongewächs, reißt ihm die welken Blätter aus, Erde fliegt aus dem Topf auf die Fensterbank, weiter reißt er, hat beide Hände voll mit braungelben Blätter, sieht, dass nichts Grünes mehr über bleiben wird, reißt das Fenster auf, der Kübel mit der zerrupften Pflanze kippt zu Boden, er bückt sich und wirft ihn in hohen Bogen in die Gasse. Der Aaron schreit verängstigt, doch noch ehe alle Todesangst in seinem Schrei gipfelt, schlägt er auf die Fahrbahn, neben die Tauben, die auf schattenkühlem Pflaster Erleichterung suchen, sie flattern auf, der Schrei erstickt, kurzes Röcheln, aus. Da liegt er nun, mit zerrissenem Welk, zerworfenem Wurzelwerk, in tönernen Scherben, gemeuchelt. Die Fensterflügel schlagen zu, im Schatten des Zimmers sehe ich das sinistere Grinsen des Schnauzers. Es verfliegt im gleichen Augenblick, als seine Frau ins Zimmer tritt. Betroffenheit steht ihm nun zu Gesicht. Die Lippen noch ein wenig mehr geschürzt als sonst, blickt er sich um, langsam öffnen sich seine Hände, Blattkrümel fallen zu Boden. Schuldbewusst senkt er seinen Kopf, lässt die Schultern sinken. Der Aaron ist tot. Aus meinem Nebenhaus ruft eine alte Stimme, du Luder, du Luder. Es ist die Oma, der ich manchmal die Tasche trug. Sie lebt noch, wenn auch verwirrt. Ich werde sie wohl nicht mehr in der Gasse treffen. 17.
August 2001 Wiederholung: Nachtruhe auf der anderen Seite. Ab und an Unruhe in der Gasse. Kneipenwechsel. Lichtfleck im rechten Fenster der Roten. Widerschein aus meiner Küche. Mückenflug ums Neon. Schluss. Nachdenken über den zweiten Absatz. Wem der Unbewegten willst du heute Leben einhauchen. Setze in die Etage der Roten Schlapphüte, die deinen Computer belauschen. Billig. Setze eine prominente Figur hinein. Gehabt. Die abgestürzte Idee fliegt dich wieder an. Setze in jede Etage einen Beichtstuhl. Bedenkenswert. Je höher man steigt, umso schrecklicher die Sünden. Dir gegenüber in der Etage der Roten, würdest du die schlimmen, die schuldbewussten Büßer sehen. Unterm Dach beim Leblosen murmelten die abgeschnittenen Köpfe der Totschläger ins Beichtfensterchen. Speichern. Ihre aufgegebenen Rosenkränze müssten sie vom Regen kommend in der Traufe sitzend leiern. Hier erhielten sie als erste Vergebung ihre Leiber in deinen Augen wieder. Einmal vor Jahren sahst du gegenüber einen Dachbewohner, in seiner Gaube sitzend, die Füße in die Traufe haltend. Die Beichte ließest du den Texter abnehmen, er könnte sich hübsche Einfälle erlauschen. Obwohl, was ist heute noch Sünde. Öde Gewissenbisse Einfältiger. Sündhaft wäre es dagegen, ohne Sünde zu sein. Nachschlagen: Sünde bedeutete einst, wahr seiend. Ein wahres Wort. Nachtruhe auf der anderen Seite, ab und an Unruhe in der Gasse, Lichtfleck im rechten Fenster der Roten, Widerschein aus meiner Küche, Mückenflug im Neonschein. Änderung. Schluss. Speichern. 18.
August 2001 Auf der anderen Seite sitzen die Fernsehsüchtigen im blaustichigen Schein des Bildschirmes bei offenem Fenster. Der Texter textet bei offener Türe, während die Karawane schöner Männer an seinem Laden vorbeizieht, das Gemurmel ist in der Tat inspirierend, man sollte solches tausendstimmige ferne Geplapper auf Tonträger pressen, es rückt einen unter die Menschen und belässt einen gleichwohl in wohliger Einsamkeit. Erwähnenswert noch der Schnauzer, der hinter verschlossenen Fenstern auf der Couch fläzt. Er hört Musik, man sieht es ihm an, und dafür schwitzt er gerne in stickiger Luft. Ansonsten nachtdunkle Fensterfront, was schwul ist gegenüber, ist auf der Straße, im Getümmel, um zu fixieren und fixiert zu werden. Dazwischen jede Menge Frauen ihre Heteros im Schlepptau, sie finden schwule Männer einfach sooo süüüüssss. Ihre Heterobegleitung guckt dagegen eher belemmert und vermeidet Blickkontakte. Große weiße Motten flattern um das Neon, es ist eine heiße Nacht, eine warme Nacht, neu geschlossene Männerfreundschaften werden bald spritzig besiegelt sein. Ich werde mich mit Ruth kurz im Mylord unter die Transen mischen, mit Bekannten aus dem Viertel ratschen, einen Kaffee trinken und wieder nach Hause gehen. Es ist der Treff der schrägen Vögel, ein verwunschener Ort, den es eigentlich schon längst nicht mehr geben dürfte, ein Stück andere Welt und ein Stück Heimat. 19.
August 2001 Regung nur im Widerschein. Zwei weitere Bewegungen noch machten diesen Sonntag zum Ereignis. Der Student stand telefonierend im Fenster. Verorgelt sah er aus, er muss eine heftige Nacht hinter sich gehabt haben. Wahrscheinlich telefonierte er mit seinen Eltern, gab seinen Wochenrapport entleert von allen Eskapaden. Er stand im Fenster mit dem Geldbaum, die Lilie im Fenster daneben, will ihre Knospen noch nicht öffnen. Die zweite Bewegung, gleichfalls gegen Mittag, die Fernsehsüchtigen schoben ihr Wickelkind an die Luft. Sie waren bekleidet, als spazierten sie in Leibwäsche auf die Straße. Was mögen sie nur für verknitterte, fadenscheinige Seelen haben, wenn das ihr Sonntagsstaat ist. Die Schatten wandern mählich dem First meines Hauses zu, die Gauben liegen bereits im Abend. Ein Tag Ewigkeit geht zur Neige, und doch wird er nie enden. Noch nie war die Bewegungslosigkeit so voller Leben. Nur für diesen Tag reifte das Jahr, und nur für ihn wird es altern. Auf dem gespiegelten Kamin sonnt sich ein Täubchen in der späten Sonne. 20.
August 2001 Neu, ein Lichtpfad vom Gang zum Fenster im Studentenzimmer. Die Türe steht auf, Lichteinfall aus der Küche. Als Schatten im Licht das Blattwerk des Ficus. Gehabt, offenes Fenster beim Klon des Klons des Mutanten, beim Leblosen zur Linken. Nieselregen gegen die Schonseite. Das ist es, die Chargen verlassen die Bühne, das Stück "Gegenüber" nähert sich seinem Ende. Die Hauptdarstellerin, die Rote, hat sich bereits verabschiedet und ihr Rollenbuch in die Tonne geworfen. Sie sitzt längst in den Katakomben in der Kantine beim Umtrunk. Posiert im Arm des Leblosen. Noch einmal wird sie zurückkehren, sobald die Vorhänge gegeben werden und leise schwankend den Applaus entgegennehmen. Es ist offensichtlich ein Stück ohne Finale, es plätschert aus, die Akteure treten nacheinander nach eigenem Gusto ab, zum Schluss ein langer Blick auf die Kulisse, stiller Abgesang, zurück bleibt ein konsterniertes Auditorium. 21.
August 2001 Er beschreibt: Der Student sitzt im Fenster und glotzt in die Glotze. Auf einer Schreibunterlage so was wie ein Suppenteller, mit Dekorband dazu eine Schale oder Teller aus hellgrauem Steingut. Auf dem Tisch noch ein Kerzenleuchter, kein Chanukka, eher ein Souvenir, wahrscheinlich aus einem orientalischem Bazar. Auch eine Art Krug ist zu sehen, etwas bauchig, könnte auch eine Pfeffermühle sein. Jetzt ist er vor der Glotze geflohen. Nur wohin? Nein es kein Bursche, es ist ein Mädchen, an den femininen Bewegungen erkennt man es, es muss eine Frau sein, so schnell wird kein Student zur Transe. Enge schwarze Hosen hat sie an und ein ebenso schwarzes Oberteil. Er diktiert: Auf der rechten Seite des neoklassizistischen Prunkfensters der studentischen Belletage scheint offensichtlich am Ende des aufstrebenden und das Fenster bekrönenden Giebels, öfters eine Taube zu sitzen. Jedenfalls gute zwei Meter tiefer, auf dem vorkragenden Fenstersims und der darunterliegenden Profilierung, mit der die Belletage markiert wird, sind deutliche Spuren von Taubendreck zu sehen. Beim bündig angrenzenden Nebenhaus rechts, (er steht auf und linst hinüber, löscht das Licht, um besser zu sehen, er blickt schweigend hinüber zum Schnauzer, äugt ein wenig, dreht den Kopf) ist offensichtlich das Erdgeschoß niedriger dimensioniert, so dass sich Belletage und zweiter Stock auch zur Fassade hin anders darstellen, das heißt mit um gut einen Meter versetzten Fensterbrüstungshöhen. (Er war früher Bauzeichner, sagt er und meint, er wäre gerne Architekturschriftsteller geworden.) Die Attika respektive die Traufenflucht, ist jedoch bei den zwei Häusern die das Gesichtsfeld erfasst, von absoluter gleicher Höhe. Während die Dachaufbauten vermutlich in den hinteren Räumen mit Mansardenschrägen ausgestattet sind. (Der Schnauzer fühlt sich beobachtet und senkt seinen Rolladen. Stauffer bemerkt dies neidvoll, da er nur in völliger Dunkelheit schlafen kann. Ein winziger Lichteinfall, ein schmaler Lichtstreifen unter der Türe, und er ist um den Schlaf gebracht.) Da zu der Nachtstunde in keiner der Räume des Dachgeschosses Licht brennt, darf man annehmen, dass die Bewohner (es sind die Unscheinbaren) auf Urlaub sind, oder als Schichtarbeiter schon mit den Hühnern zu Bett gingen. Möglich ist aber auch, dass sie durch Rauchgasvergiftungen schon halb erstickt in ihren Betten liegen. In der Nähe dieser Wohngegend befindet sich nämlich am Fluss eine Landschaft größerer Schwemminsel, auf denen zu milden Sommertagen und –nächten orgienhaft auf kleinen Blechgrills derbe fette Würste und Schweineschwarten gebrutzelt werden. Der sich so entwickelnde Rauch von Holzkohle und verbranntem Fett breitet sich bei südöstlicher Wetterlage über das ganze Viertel widerwärtig stinkend aus. Etwas Anzügliches sollte es noch sein, doch das Gegenüber gibt im Augenblick nichts her dafür. 22.
August 2001 Sonnenflecken auf dem Prospekt, die späte Nachmittagsonne bricht sich in den Fenstern meiner Front und fällt zersplittert in die Gasse. Seit einigen Tagen scheint sie mir um diese Zeit nicht mehr auf den Bauch, sondern rückt weiter links hinter das Dach des Bräuhauses. Sein Schatten fällt nun auf mein Fenster. Alsbald wird sie als Abendsonne hinter dem Kamin vorscheinen, um ein weiteres Weilchen später hinter den Dächern der anderen Seite dem Horizont entgegenzukugeln. Das Telefon schellte und unterbrach die Betrachtung. Im milder werdenden Licht trat ich in die Straße. Schien mir mein Gegenüber zuvor noch gänzlich unbelebt, sah ich jetzt vom Treppenhaus aus die Fernsehsüchtige. Sie hielt ihr Kind auf dem Schoß, gab ihm die Flasche, ihr Blick wechselte von ihm zur Mattscheibe hin und her. Später in der Dunkelheit wieder nach Hause kommend, sah ich sie wie zuvor am selben Platz, ihrem Kind die Brust reichend. Hatte sie sich die ganze Zeit über nicht von der Glotze gelöst? Die Frage erübrigt sich über den Satz, jetzt liegt sie in ihrem Bett, mit dem Kopf zum Fenster und blättert in einem Buch, wahrscheinlich eine Anleitung für Fernsehsüchtige. Schließlich bekämpft man seine Sucht nicht durch Abstinenz sondern mit Hilfe des Exzesses. Erst wenn sie wimmernd, hungrig, durstig, verdreckt und kotzend mit glasigen Augen vor ihrem Bildschirm liegt und das Video der fröhlichen Musikanten zum xten Mal abgenudelt und restlos verschneit ist, wird sie sich aufraffen, den Hammer holen, und die Mattscheibe einschlagen. Danach wird sie zum Elektromarkt laufen und sich eine neue Glotze nach Hause tragen. Mit der dritten Glotze, vielleicht, wird ihr dämmern, das fernzusehen nicht aller Tage Abend ist. Der Schnauzer ist über diesen Absatz zu Bett gegangen. Der Leblose ist zurückgekehrt und rollt seinen Kopf durchs Aquariumzimmer. Der Student hat seine Vorhänge zugeworfen und widmet sich den Anzüglichkeiten, die gestern verschwiegen wurden. Sein Mädchen ist ein neues Mädchen, es hat ihm das Zimmer noch nicht aufgeräumt und die Wäsche nicht gewaschen. Es muss also eine gänzlich neue Liebe sein. Die dankbare Liebe der Roten hat er leichtsinniger Weise ausgeschlagen. Sie wird ihm darob bei ihrer Rückkunft die Miete erhöhen. 23.
August 2001 Ich suche die Neun, in meinem Gegenüber, meine sie in der Zierschnecke der Prachtgaube zu sehen, irre mich, zähle die Ziegel einer Tafel zwischen den Fenstern bei der Roten, bin zufrieden, es sind neun. Die Acht habe ich schon gefunden, acht Kratzer am Wolfsrachenziegel, erwähnt am 29. Juni. Suche die sieben, sehe die sechs, in der Zierschnecke an der Gaube zur rechten, suche nicht weiter nach Zahlen, weiß ich doch, ich würde sie alle finden. Udo ist zu Besuch, er stellt sich hinter mich und beschreibt: Im Speicher sind keine Vorhänge oder waren da noch nie welche, völlig langweilig die Fassade heute, schaut auf die Etage der Roten, die Gardinen hängen ganz ordentlich, bis auf eine. Spekuliert kurz über ihre Anwesenheit, lässt den Gedanken wieder fallen. Er fragt sich ob im Dach überhaupt einer wohnt. Er meint, er hätte weniger gesagt, als ich schriebe, schaut ob er sein Spiegelbild in den Fenstern sieht. Ich sage ihm, dazu müsste er in die Küche gehen, um sich im Fenster hier sehen zu können. Er tut es, und sieht sich nicht, weil er nicht hier geblieben ist. Er ächzt, wiederholt: ist ja bodenlos langweilig, man müsste seine Fantasie strapazieren, der Laden zu, beim Student nichts los; sieht das Gewächs im Fenster, hält für Estragon und isländisches Moos, was Lilie und Geldbaum ist. Bemerkt, dass gegenüber die Fenster schielen, sich die Spiegelungen meiner Front in ihnen überschneiden. Er sieht eine Hand im Fenster unten, ein Bett, die Fernsehsüchtige liegt im Bett, dreht sich vom Rücken auf die Seite, es ist Mittag, es sieht aus, als würde sie in die Ecke auf einen Fernseher blicken, nein, sie fernseht nicht, stellt er fest, sie liegt nur, vielleicht hat sie die ganze Nacht ferngesehen und muss sich jetzt erholen, meint er und fragt sich doch, vielleicht liegt sie mit ihrem Kind im Bett. Sie ist in ihren Kissen verschwunden, nur noch weißes Bettzeug, seine Betrachtung verebbt. Was um Himmels willen habe ich ein Jahr lang in meinem Gegenüber gesehen! Ich sollte es nachlesen ... In der Zwischenzeit hat sich die Sonne vom Prospekt gelöst, flieht weiter mit schrägem Schein vom Kupferdach, die Schatten werden länger, frühlingshafter Stand, indes das Licht ist milder, es ist Marienzeit, die schöne Schwester des Lenz regiert. 24.
August 2001 Du könntest auf die Nacht warten, darauf dass die Lichtspiele gegenüber dir Regen und Leben vorgaukeln, anstatt jetzt auf die Schatten zu blicken, die den rechten Winkel der Backsteine schneiden und auf die in den Süden gerückte Sonne weisen. Doch mein Gegenüber im italienischen Licht, in pontifikalem Weißgold zu sehen, öffnet mir das Herz, es ist Friedenslicht, Freudenslicht, dionysisches Licht, es ist Reife, Fülle und Vollendung, ein Licht wie ein Gebet an die Göttin, begibst du dich in dieses Licht, kehrst du in den Schoß der Göttin. Magisches Licht, Wunderlicht, es ist Zauber, der die späten Sommertage vergoldet, ein Versprechen für den Lebensherbst. Sage nicht, dir fehlten die Worte, du bist der Wortmaler, sage nur, es ist zu viel, zu tief, zu reich, zu schön, zu traut, zu sinnlich, zu betörend. Es ist die pure Wollust, die blanke Lebenslust. Es ist Schöpfung. Licht. Es ist ein Freitagsnachmittag in der Stadt. Beschauliche Ferienzeit, noch. Fernes Motoren zu leisem Gesäusel des Ventilators deines Rechners, rhythmisches Geklapper der Tastatur, unterbrochen von Gedankenpausen, stillem Sehen und Staunen, unterbrochen vom Griff zur Kaffeetasse "Maragoype-Elefantenbohnen" aus Mexiko von VEE'S Kaffeebrennerei am Viktualienmarkt, dazu eine "Davidoff Magnum", zartblauer Rauch, aufsteigend, ein französischer Zug, einatmen, weißen Rauch ausatmen: Wonne. Im Mutterzimmer der Roten wurde gelüftet. Das Brett, dass das Fenster verkeilte, wies auf die Anwesenheit der Roten. Sie hat ihr Zeitgefühl verloren, kein Wunder an einem solchen Tag. Im Irrtum, die Vorhänge würden bereits gegeben, löste sie sich aus dem Arm des Leblosen, verlies den Umtrunk in der Theaterkantine, stand im Hintergrund der Bühne, im Schatten des Mutterzimmers, der Wind blähte ihre Gardinen, hob sie in die Gasse, sie bemerkte ihren Fehler und blieb im Verborgenen. Beim nächsten Blick war das Fenster wieder geschlossen. Im Fenster daneben bereitete sich der Schnauzer auf einen Badetag vor. Er klopfte an der Mauer zur Roten hin. Sie nahm das Signal auf. Zusammen werden sie an den nahen Fluss radeln, um auf einer der Schwemminseln nackt in der milden Sonne zu liegen. Sie wird ihren kleinen Busen mit den Schultern heben, Bemerkungen zu ihrer weißen Haut machen, er wird seinen Bauch einziehen und wie zufällig seinen Bizeps spannen und sich fragen, ob er der Hageren Komplimente machen sollte. Er zögerte, schien nachdenklich und wendete sich von der Mauer ab. Verwischt. Es schien ihm besser, nicht geklopft zu haben und die flirrenden Neckgeister dieses verwunschenen Tages unbeschworen zu lassen. 25.
August 2001 Champagnerhelle Sprenkel sprühen um die Neonschüssel. Eintagsfliegen perlen, als stände die Welt auf dem Kopf, das Neon als gestürzte Sektschale, die Fliegen flattern in wirren Bögen, fallen in die Dunkelheit und stürzen zurück ins Licht. Ein Spiel, das sie bis zum Morgen drängt, und über das ihr kurzes Leben vergehen wird. Zwei Lichter auf der anderen Seite, die Fernsehsüchtige mit ihrem Professor verschlungen auf der Fernsehcouch vor dem Fernseher, unbeweglich in Angststarre fernsehend. Samstägliches Abendprogramm, Volksmusik oder Millionenspiel oder Gala zur Funkausstellung, egal, solche Sendungen sind Horror total, vorzüglichster Trash, grausamer als der blutigste Splatterfilm, Pflichtprogramme für jeden Misanthropen und all jene, die an der Welt verzweifeln möchten. Das andere Licht kündet von der Heimkehr der Unscheinbaren. Ihre Rückkehr inszenierten sie in gekonnter Unscheinbarkeit. Niemand sah sie gehen, niemand sah sie kommen, niemandem fehlten sie, niemand wird ihre Anwesenheit bemerken. Sie haben das Oberlicht geöffnet. Mit der frischen Luft weht ein steter Strom an Eintagsfliegen in ihre Stube, umschwirrt die bestrahlten Wände, wird dichter und dichter, ein lebender Schleier, der an einen verludernden Balg erinnert. Abgezogen und umgestülpt, die fette Haut der Beute nach außen gekehrt, wieder lebend, weil in sich wurmend. Vielleicht ist es so gewollt, vielleicht beginnt sich mein Gegenüber zum Ende der Betrachtung aufzulösen. Die Fenster werden aufgerissen, Zwielicht lockt das Leben fressende Leben herbei, und das Leben zieht ein und zieht den Tod mit sich. Gewürm schlüpft in die Mauern, zerpflügt und untergräbt sie termitengleich, und mit dem Tusch zum letzten Vorhang zerbröselt die Kulisse, still. Und leise stelzt die Truppe im trüben Schein des letzten Spots durch flockigen Staub, um in einem anderen Gegenüber dasselbe Stück erneut zu geben. 26.
August 2001 Ein leuchtend weißer Blütenball, wäre es Mai, könnte es Flieder sein, durchdringt die Dunkelheit des dunklen Zimmers. Hintergründiges Licht erhellt, was der Tag verbirgt. Pinkellicht beim Schnauzer. Beigerotes Vorhangleuchten beim Studenten, davor knospende Lilie und Geldbaum, dahinter Schäkern und Reden über sich und die Welt. Mandariner Schimmer im Aquariumzimmer, erhellende Reflektion aus dem dahinterliegenden Gang, daneben Palmlanzetten im fahlen Gelb der schmalen Dachkammer. Der Leblose unterhält sich zur Mitternacht mit seinen kahlen Wänden. Parterre neben dem Hauseingang Papierberge auf dem Schreibtisch des Rote-Katze-Menschen. Sichtbarer Ausschnitt zwischen Rolladenkante und Fensterrahmen. Zuvor noch Verschlinge mit Säugling auf der Fernsehcouch, Säuglingsvater, Säuglingsmutter, beide Fernsehsüchtige, wechselten sich in der Unterhaltung des Zöglings vor der flimmernden Mattscheibe ab. Jetzt, Licht aus, man hat sich zu dritt gebettet. Welch ein Bild für einen Sonntag. Man raffte sich auf, bot mir zum letzten Sonntag dieser Betrachtung noch ein sprühendes Finale. Lichterzauber zur Mitternacht. Doch zu spät, soviel Lebendigkeit verträgt mein sonntäglich beruhigtes Auge nicht, ich möchte die Feuerwehr rufen, meinen Blick zu löschen, denke nach, unterlasse es, sie würde nur noch mehr Bewegung provozieren, greife in Gedanken zur roten Jalousie, soll es doch in die Nacht hineinbröseln dieses Monstrum, dass mir bald ein Jahr lang Stein des Anstoßes war. Obwohl, ich würde zu gerne Schnauzer oder Schnauzerin im kurzen Schlafhemdchen durch den Gang aufs Häusel tappen sehen, würde sie die Vase mit dem weißen Blütenballen umstoßen lassen, ließe sie schlafbenommen weiter in die Scherben stolpern, schreiend hüpften sie auf einem Bein in die nächste Scherbe, fielen zu Boden, sprängen wieder auf, mit zerschlitztem Leibern lehnte ich sie blutend gegen die Wand, behielt das Bild als Ikone im Gedächtnis, in ihrer schmerzgekrümmten Haltung wären sie dem heilige Stephan nicht unähnlich gewesen. Ich hab's beschworen, Licht an in der Küche, niemand zu sehen, die Vase wird fallen, ich will's nicht sehen, wer von beiden den Pestheiligen mimen wird und lasse meine Jalousie fallen. Zwischen blutroten Lamellen zersplittern meine morbiden Gedanken, rieseln herab, um morgen aufgesaugt zu werden. 27.
August 2001 Und es bewegt sich nicht, mein Gegenüber. Ob Tag oder Nacht, es bleibt sich gleich. Es rührt sich nichts und niemand rührt an ihm. Das abendliche Gewitter zog darüber hinweg, kein Blitz schlug ein, kein Donner ließ die Mauern wanken. Jetzt schluckt die Nacht den Klotz, lässt lediglich die Fassade dort im Raum, wo die Laterne sie bestrahlt und aus sich heraus ein paar leere Fensterhöhlungen schwächlich leuchten. Es bleibt sich gleich, welche Höhlungen es sind, es bleibt ohnehin das gleiche Bild, schon zu oft wurde es skizziert, egal wer sich zum Abend im Schritt kratzt, ob Mann oder Frau, obwohl ... Männer rollen ihr Gemächt für gewöhnlich über die Schrittnaht mal ins eine, mal ins andere Hosenbein, während Frauen sich gemeinhin die Naht des Hosenbodens aus der Pofalte ziehen, seltener zwickt sie sie im Schritt, da solch geschlechtsbetonte Hosen heute aus der Mode sind. So bleibt uns meist erspart, das Auge von dem abzuwenden, was man im Englischen mit Cameltoes, Kamelzehen, umschreibt. Also noch mal, egal wer sich zum Abend im Schritt kratzt oder in der Nase bohrt, ob Mann oder Frau, obwohl ... Nasenbohren Sache der Männer vor rotem Ampeln ist, während Frauen hierfür lieber den Fernseher einschalten, um Moderatoren ein leer gepopeltes Näschen zu drehen. Doch egal wer sich kratzt oder popelt, das Weichbild der Laterne verändert sich ohnehin nicht, sie bestrahlt das selbe Stück Fassade, das sie seit dem Tage bescheint, als sie vor meinem Fenster über die Gasse gespannt wurde. Und so zeigt sich mein Gegenüber des Nachts als Bruchstück seiner selbst und des Tags als leere Fassade. Wäre der Blitz heute abend in ihm eingeschlagen und hätte die Fassade weggesprengt, es wäre nichts gewesen, was es dahinter zu entdecken gäbe, obwohl ... ich hätte womöglich meine Gedanken gefunden, die sich seit bald einem Jahr an ihm brachen und als Splitter durch die Mauern in die Stuben drangen und die Bewohner zu dem verwandelten, zu dem sie im Auge des Betrachters wurden. Erschreckt, mit großen Augen hätten mich meine Gedankensplitter ein Gedankenpäuschen lang angestarrt und wären darauf vom Wind verweht. So aber sind sie geblieben, wo sie sind, und malen ihrerseits an einem Bild, das es meinerseits noch zu entdecken gilt. 28.
August 2001 Es entweicht allmählich, verliert sich im Licht, verflacht wie eine Zeichnung im Sand, vergraut wie eine alte Fotografie, mein Gegenüber. Es ist der bedeckte Himmel, der die Abschiedsstimmung stiftet. Es ist der Abendhauch, der leise nebelnd den Schleier senkt. Es ist der aufgehende Halbmond, der sich im Giebelfenster spiegelt und sich darin zum abnehmenden Mond verkehrt. Mählich weicht er aus dem Fenster des Leblosen, um sich in den Himmel einzuhängen. Es ist das Spitzweglicht, das den lesenden Schnauzer auf seiner Couch umrahmt, Kopf, Brust und Buch hell aus dem Zwielicht hebt. Es ist die einsame grünliche Leuchte im Aquariumzimmer, durch die längst kein Mutant mehr purzelt. Es ist die offene Türe des Texterladens, sein stilles Arbeiten im illuminierten Hintergrund. Es ist das müde Licht der Unscheinbaren, das Abendrot in die Spiegelung meines Daches haucht. Es ist die zarte Abendröte im Himmelsgrau, das ferne Rauschen der Stadt, der Hauch des Herbstes, es ist all das, was dieser Abend atmet. Es ist ein stilles Schwinden. Mein Gegenüber kehrt in sich zurück. Entzieht sich meinem Blick, wird wieder zum Gegenstand, zum Fluchtpunkt meiner Gedanken und zum blinden Fleck. Das Neon blinzelt auf. Die Stubenlichter scheinen kräftiger. Zwei Tauben haben sich das Schneefanggitter zum Schlafplatz gewählt, sie sind nur Schatten überm Bleigrau des sich verdüsternden Daches. Der Mond hat sich in den Himmel gehängt, schwänge er noch sein junges Horn, hätte sich mein Gegenüber an ihn gehängt und wäre mit ihm noch vor der Nacht im Abendsilber hinterm Horizont verschwunden. 29.
August 2001 Sie möchte partout noch mal mitmischen, in den Abgesang mit einstimmen, obwohl sie längst ihre Stimme verloren hat, sie sich in ein heiseres Gicksen hineinsteigerte, um die Zechkumpanen in den Katakomben zu übertönen, und auch ihre Zunge ist schwer, schwer drückt sie gegen die Zahnreihen, rollt mit jedem Wort nach vorne, fällt zurück, lallendes Gegickse, weinselige Blasen. Lebenszeichen bei der Roten. Das Fenster der Mutterkammer steht auf, die vorgehaltene Gardine weht in die Gasse, hebt sich hoch, ich meine dahinter eine hölzerne Gartenbank vor dem Fenster zu sehen. Sie wird sich wohl einen Wintergarten einrichten, die Heizung drosseln und unter einer Kamelie Strampelhöschen für nie gehabte Enkel stricken. Das Fenster wurde so heimlich still und leise, wie es geöffnet wurde, wieder geschlossen, die Gardine versperrt den Blick, und ich würde zu gerne wissen, ob ich nun eine Gartenbank oder ein Laufgitter sah. Drei Tage bleiben mir noch, es zu ergründen. Zwei Räder vor dem Texterladen, Herrensattel, obwohl ... nein, sprich nicht über Damensattel, es gibt nur einen Hersteller, der erträgliche Damensattel für Räder herstellt, Brooks aus England, es sind die kleine Vertiefung und der etwas breitere Sattelrücken, die der weiblichen Anatomie entgegenkommen ... Zwei Räder vor dem Texterladen, man wird zu zweit an Botschaften schmieden, klönen, rauchen und dolle Ideen haben. Im Schaufenster ist zum Kerzenständer ein Schallplattenspieler hinzugekommen, vielleicht ein kleiner Nebenerwerb, wenn man schon ein Schaufenster hat, lässt sich auch ein bisschen trödeln. Die Sonne bestrahlt die Bördelungen des Kupferdaches, zeichnet eine grazile schattenlose Struktur, die sich nur für einen Wimpernschlag hält. Ich sehe sie zum ersten Mal und freue mich darüber, dass es im längst Erkundeten immer noch etwas zu entdecken gibt. Ein Kohlweißling flattert die Gaubenreihe entlang, der Sonne zu. Welch schöner Tag. 30.
August 2001 Eile dich, blicke noch vor dem Abend hinüber, noch bevor der Regen den Sommer auswäscht. Blicke noch einmal der müden Schönheit ins Gesicht, denke noch einmal an den strahlenden Appolon, blicke ihm nach, sieh, wie er seinen Wagen gen Süden lenkt um der nordischen Nacht zu entweichen, denke noch einmal an die dunkle Schönheit der Persephone, sieh, wie sie sich anschickt, in den Hades zurückzukehren, sieh wie ihr Adonis folgt, ihr zum Trost zu gefallen, so wie es die Götter einst bestimmten. Freue dich, während sich der Himmel bedeckt, über die vielen geöffneten Fenster, die von Leben auf der anderen Seite künden. Das aufgestoßene Oberlicht bei den Namenlosen, der Spalt beim Studenten vor blauem Tuch, die Fernseherlüftung bei der Fernsehsüchtigen, noch ein Spalt in der Palmengaube, die sperrangelweite Öffnung ganz links im Dach, die offene Ladentüre des Texters, noch nie zuvor hatte sich mein Gegenüber derart geöffnet. Es ist als wollte das alte Gemäuer endlich einmal den Sommer atmen, wohl wissend, dass dies heute seine Derniere ist und es sich ihm sein ganzes Währen über verschlossen hatte. Noch einmal Silberglanz über dem lehmfarbenen Prospekt. Ein letzter Sommergruß. Sieh die erste Botin des Herbstes, sieh die Möwe im Spiegel des Giebelfensters. Sie steht auf deinem First, einbeinig, mimt den Storch, den Herold des Sommers und ist doch nur Begleiterin der kalten Nebel. Ein grauer Vogel aus Wolkengrau gespieen. Doch jubliere mit den Schwalben, die über das Dach deines Gegenübers jagen, die Schnäbel aufgerissen zum Mückenfraß, noch sind sie da, noch haben sie sich nicht gesammelt, noch hat sich der Jahreskreis nicht geschlossen. Noch bleibt dir die herbstliche Illusion, der Sommer könnte wiederkehren. Der Ring schließt sich, der Schnauzer lehnt sich im sommerhellen Polohemd vor seinem Computer zurück, der Texter tritt rauchend vor seine Ladentür ... noch ist Sommer in diesem frühen Herbst. Ich hatte mir das Ende, meines Gegenübers furioser ausgemalt, mit Feuer, Mord und Ficken, sollte es in sich zusammenbrechen, orgastisch orgiastischer Weltuntergang in meiner Gasse, eine letzte Eruption, tödlich sprühendes Finale zum Tanz auf dem Vulkan. Doch nein, es weht mir zu wie ein alter Freund, dem ich die gebrochenen Augen schließe. Stumpf spiegeln die Scheiben den Himmel. Wehe aus, mein Gegenüber. Vorbei ... 31.
August 2001 Hingestreckt, im zartblauen Hemd, fernsehflimmerndblau, liegt sie im Fenster auf ihrem Bett, sie liest, sie sieht nicht fern, sie liest lange, blättert vor und zurück, sie liest die Fernsehzeitung. Endlich steht sie auf, schlurft aus der Schlafstube durch die Wickelstube in die Fernsehstube und setzt sich auf die Fernsehcouch. Dort saß sie schon heute morgen, dort wird sie auch heute nacht und morgen und viele hundert Tage sitzen. Der Regen wird wie jetzt auf das Blechdach nieseln, es einspecken und ablaufend in feinen Bahnen reliefieren. Und gleich dem Regen wird sich ihr Gelebtes, der Staub der heißen und das Eis der kalten Tage, in der Dachrinne sammeln und in die Vergessenheit des Untergrundes gleiten. Ihr Kind wird vor dem Fernseher erwachsen werden, dieses oder ein anderes Gegenüber verlassen und die gesehenen Bilder nicht mehr mit der Wirklichkeit vergleichen, denn die Wirklichkeit wird ihm nur Abbild des längst Gesehenen sein. Der Schnauzer hat sein Zimmer verlassen, die Türe geschlossen. Dunkel liegt mir sein Raum gegenüber. Im linken Fenster treibt das Schellenblümchen neue gelbe Blüten, im rechten welkt der Aaron weiter vor sich hin. Bleigrau und leer die Spiegel der übrigen Fenster. Die Truppe hat sich in der Kantine versammelt. Morgen ist Derniere, die letzte Vorstellung. Dann werden sie alle trunken in ihren Fenstern stehen, den Applaus auf sich regnen lassen und sich mit den Verbeugungen in die Gasse hinein übergeben. 1.
September 2001 Ein Jahr rundet sich, und so begann es: "Ein Septembertag so wechselhaft, als wäre es April." Heute könntest du schreiben, "und das Wetter gleicht sich", doch es ist eher Novemberstimmung, zumindest der Himmel gibt sich so, nur das Licht widerscheint der Stimmung, es ist heller. Du könntest auch schreiben, "und das Gegenüber gleicht sich", es wäre treffender, ist es doch noch dasselbe wie vor einem Jahr und doch nicht mehr dasselbe. Es hat sich verändert, verändert durch meine Beobachtung. Wir kennen dies aus der Quantenphysik. Wir kennen es kaum im newtonschen Raum, weil wir nicht glauben wollen, dass wir allein durch unsere Betrachtung die Welt verändern können. Und doch tun wir es, wir sollten also hinsehen und lernen hinzusehen. Darum wird dieses Experiment weitergehen, du wirst deine Betrachtungen nicht fortsetzen, doch du hast hingesehen und deine Welt, die dir direkt gegenüberstand, durch deine Worte und Gedanken verformt. Und es gibt andere, die Leser, die auf deine Worte blicken und mit ihrem Blick das Gewortete ihrerseits bebildern und verformen. Es sind nicht die Vorstellungen, die das Betrachtete verändern - Vorstellung verwandelt nichts, sondern bewahrt -, es ist vielmehr der Augenblick der Wahrnehmung, der schöpferisch und somit gestaltend ist. – Das Experiment endet also, damit es seine Fortsetzung findet. Und so liegt es vor mir, mein Gegenüber: Das Kupferdach silbergrün und rostbraun gestrählt unter bleigrauem Himmel, silberig glänzend der zylindrische Schlot auf dem Kamin in der Brandmauer des italienischen Hauses; ausgewaschener Taubenschiss unterm Schneefanggitter, bei der Erwähnung habe ich seinen Geruch in der Nase; der verlassene und nicht angenommene Nistplatz unter der Traufe; die unbewegten Gardinen in der Etage der Roten, sie ist nicht mehr zurückgekehrt; der Schnauzerrücken im gelben Polohemd, obwohl Samstag, hat er sein Hemd nicht gewechselt, wahrscheinlich ist seine Frau zu den Kindern in die Ferien gereist und er leidet einmal mehr das Strohwitwerdasein; dann noch das Elternheft im geöffneten Schlafzimmerfenster der Fernsehsüchtigen, als du dich an deinen Schreibplatz setztest, sahst du es, konntest es nicht erkennen und tatst, was du in all der Zeit deiner Beobachtung nur einmal tatest, du holtest das Fernglas und sahst hinüber, ausnahmsweise, heute am letzten Tag gestattetest du dir diese weitere Ausnahme von der Regel; als du das Heft erkanntest, erinnertest du dich mit leiser Wehmut, wie du deinen Sohn großgezogen hattest, damals war "Eltern" auch euer Begleiter. Das war es, was du vor dir sahst, mehr war nicht in dieser samstäglichen Stille, die der Sonntagslähmung vorausgeht. Du denkst an die Gebärde der Gehörlosen für Samstag, eine Geste für Wäscherubbeln, Samstag, der alte Wasch- und Badetag. Jetzt aber wandelt dich das Licht an. Schneller Wechsel zwischen bleichem Sandgelb und sattem Ocker, lichteres und dichteres Wolkengrau ... eine düstere Illumination, entrückt dir dein Gegenüber, es entfällt dir ... flieht ... verschwindet ... hebt sich auf im Dunst novemberhaften Ahnens ... Jetzt treten sie hervor, stehen im Hintergrund ihrer Stuben und Kammern, lösen sich langsam aus den Schatten, treten in die Fenster, das wechselnde Licht bescheint sie, zieht sie über die Flucht meines Gegenübers hinaus und wirft sie im nächsten Augenblick in die Schatten zurück, sie reißen die Jalousien nach oben, werfen die Gardinen zur Seite, öffnen die Fensterflügel, sie sind allesamt nackt, das Licht mal verschattet, mal aufflammend, bedeckt ihre Blöße und deckt sie gleichermaßen schamlos auf; sie deuten mit ihrem bösen Finger auf mich, erst stumm und mit großen Augen, dann wiederholen sie rhythmisch diese Geste, es ist eine großartige Choreographie, der Leblose, die Unscheinbaren, die Rote, die Mutter, der Schnauzerclan, der Student, die Fernsehsüchtige, die Namenlosen, die Schneiderin, der Texter, der Rote-Katzen-Mensch, immer heftiger, immer kürzer wird ihr Deuten, das anfängliche Lächeln gefriert mir, vorbei der anfängliche Anflug des Geschmeicheltseins; jetzt öffnen sie ihre Münder, dunkle ovale Schlünde, noch lautlos, doch ich höre schon den Ton, für den sie Atem holen, sie buhen, buhen mich aus, ein Jahr lang haben sie es geduldig ertragen, von mir als Abziehbilder missbraucht zu werden; und so greifen sie sich an den Schöpfen und ziehen sich die Haut wie ein nasses Hemd vom Leib, schleudern ihren Balg über den Köpfen, bleich, fast reinweiß scheint ihre neue Haut, dann jagen die Bälger flatternd auf mich zu, prallen an meine Scheibe, gleiten lautlos ab, fallen hinab in die Gasse. Stille. Ihre Münder sind geschlossen. Sie lassen die Arme sinken. Stehen bewegungslos. Ich verlasse meine Schreibstube, gehe hinüber, betrete zum ersten Mal mein Gegenüber, steige über die knarrende Holzstiege hinauf in die Wohnung der Roten, atme die Gerüche, sie sind mir vertraut, ich stelle mich neben sie in das Fenster, blicke hinüber auf ihr Gegenüber, sehe meinen Kopf über dem grauen Klotz des Bildschirms, eine abgetrennte Kugel, die sich kaum bewegt, nur die Augen wandern auf und ab, mal richten sie sich auf den Bildschirm, mal auf uns, mal lehne ich mich zurück, falte die Hände hinter dem Kopf, dehne mich, um gleich wieder vorzufallen und mit den Fingern über die Tasten zu gleiten, dann sehe ich, wie ich mich neben der Roten bemerke, unbewegt, in meiner alten Haut, ich sehe mich, wie ich zur Seite greife, die rote Schnur in der rechten Hand halte, dann fällt die rote Jalousie zwischen uns. Die Rote hebt ihre Hände, applaudiert zögerlich, die anderen fallen in den Applaus ein. Ich hebe meine Hände zuletzt ... Epilog
Das Haus der Roten, mein direktes Gegenüber, das klassizistische Haus ist in der Denkmalschutzrolle der Stadt als "Haus der Neurenaissance mit Hausteingliederung" gelistet, Entstehungszeit 1899. Als Architekt wird nach den aufliegenden Plänen in der Zentralregistratur der Lokalbaukommission ein Krömmelbein genannt. Als Bauherr ein Hatzl. Im Jahre 1900 muss das Haus bezugsfertig gewesen sein. Im Einwohnerverzeichnis der Stadt aus diesem Jahr wird als Besitzer genannt: Hatzl, Anton Zimmermeister. Als
Bewohner werden genannt: Die nicht genannten Wohnungen, waren offensichtlich noch nicht vermietet. Das italienische Haus, das Haus des Schnauzer gegenüber zu meiner Rechten, ist in der Denkmalschutzrolle als "Haus im Stil der Deutschen Renaissance, reich gegliedert und strukturiert" gelistet. Als Entstehungszeit wird 1890 genannt. Nach den vorhandenen Plänen der Zentralregistrierung der Lokalbaukommission entstand das Haus im Jahre 1900 als Besitzer wird ein Hatzl genannt, als Architekt ein Ing. Hermann Berthold. Im Einwohnerverzeichnis der Stadt wurde das Haus erstmals 1901 registriert. Als Besitzer ist Berthold, Hermann Baumeister verzeichnet. Als
Bewohner werden genannt: Meine Vermutung dass mein direktes Gegenüber von einem Handwerker, während mein Gegenüber zur Rechten von einem kunstsinnigen Bauherrn errichtet wurde, hat sich also bestätigt. Verblüfft hat mich jedoch, dass in das "biedere" Haus drei Künstler zogen, während in das "freigeistigere" Haus sehr bodenständige Menschen einzogen. Möglich, dass dieses wie das andere Haus erst trocken gewohnt wurde. Die Erwähnung des Anton Hatzl als Besitzer des einen wie des anderen Hauses und des Berthold als Architekt und Besitzer des rechten Hauses, mag eine Geschichte sein, kann aber auch eine Fehlinterpretation der Pläne durch die Zentralregistratur sein. Hatzl hat die Pläne seines Nachbarn Berthold unterschrieben, also als Nachbar anerkannt. Meine Annahme, dass in meinem Gegenüber mosaische Deutsche gewohnt haben mögen, da dieses Viertel einst das jüdische Viertel der Stadt war, konnte ich an Hand des Einwohnerverzeichnisses der Stadt von 1933 nicht belegen. Wortschöpfungen
Im Laufe der Betrachtung entstanden einige Wortschöpfungen, die nachstehend ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelistet sind. Darüber hinaus mögen etliche Wörter meiner Betrachtung den einen oder anderen Leser fremd anmuten, so etwa "lüfteln" oder "funzeln". Diese Wörter sind jedoch im süddeutschen Sprachgebrauch bekannt und gemeinhin üblich. Andere Wortschöpfungen sind Benamungen oder Zusammensetzungen, wie etwa "fernsehflimmerndblau" am 31. August, und deswegen hier nicht erwähnt. September:
bräuneln, übersommern, Spinnenbeiner, lüdelt, papiert, Abwesenheit
An 356 Tagen war ich meinem Gegenüber ein Gegenüber und führte meine tägliche Betrachtung durch. Vom 4. bis zum 7. November 2000, sowie vom 9. bis zum 14. Juni 2001 war ich aushäusig. Zugriffe auf die Seite
Am 2. September 2000 begann ich mit meiner Betrachtung. Zwei Wochen später stand die Seite erstmals im Netz. Seitdem nahm die Zahl meiner Leser kontinuierlich zu, bis sie sich bei 60 bis 100 Zugriffe pro Tag einpendelte. Etliche Leser haben mir auch per E-Post ihre Ansicht zu meinem Experiment mitgeteilt. Ich bedanke mich bei ihnen an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich. Nachstehend sehen Sie die Zugriffsgrafik meines Providers für das Jahr seit Bestehen der Seite:
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