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April

1. April 2001
Mitternacht. Halbmond über dem First meines Gegenübers. Im Gaubenfenster des Leblosen spiegelt sich sein käsiger Leib als Widerschein von einem Fenster aus meiner Straßenseite. Dunkel die Fenster auf der anderen Seite. Man schläft zu dieser Zeit. Soll auch der Leber bekömmlicher sein.

Aprilscherze sind ausgeblieben. Die Rote bearbeitete ihr Häuschen mit der Spitzhacke und die Fernsehsüchtige warf ihren Fernseher zum Fenster hinaus. Ansonsten beliebte niemand zu scherzen. Auch nicht der hinzugezogene Student, der sich ein weißlackiertes Küchenbüfett in seine Studierstube stellte. Ich sah den Graus vom Treppenhaus aus, schüttelte den Kopf und stieg weiter nach unten.

Wenn es morgen nicht in sich zusammenkracht, mein Gegenüber, werde ich mir wohl ein neues erfinden müssen.

2. April 2001
Das Gegenüber ist stehen geblieben. Nur kippt es heute nach links weg. Die Sonne fällt es aus seiner Achse. Die Schatten an den Gauben ziehen die Fenster aus der Waage und leihen ihnen einen Drall. Der blaue Kelch im Fenster des Leblosen scheint gegen die linke Wand gerückt zu sein, während in der Gaube daneben die Stehlampe sich nach rechts neigen möchte, um die Lotrechte zu bewahren. Legte ich jetzt dort drüben einen Schusser – Ja, Schusser und kein preußischer Lektor macht mir daraus eine Murmel –, legte ich also einen Schusser ins rechte Ende der langen Gänge, würde er mit zunehmender Geschwindigkeit nach links rollen, gegen die Wand prallen und zur Seite kullern. Mit genügend Schussern könnte ich so ein Loch in die Brandmauer stösseln und meine Schusserbahn verlängern. Am Ende würden sie über der Gaststätte am Eck aus der Mauer purzeln. Und da bei diesem schönen Tag die Tische in der Sonne stehen, würden die Glaskugeln wie Hagelkörner Gläser und Teller zerschmettern und auf den geschorenen Köpfen der Allerwelts und Wichtigs Platzwunden hinterlassen. Wirt und Kellnerinnen würden die Gäste verarzten. Und alle hätten endlich was miteinander zu reden, anstatt sich mit leeren Blicken abschätzig anzustarren.

Also werde ich gleich meinen Kobold mit einem Säckchen schöner glitzernder Glasschusser unter die Gaube schicken. Er wird seinen Spaß an diesem bösen Scherz haben und mir danach noch lange ins Ohr singen, welch ein Gaudium es war, die vollen Gläser und Teller zerspringen zu lassen, und wie schön das Weh und Ach der ramponierten Gäste klang, die sich mal die Köpfe hielten und mal die Speisereste von der Kleidung wischten, und sich nicht entscheiden mochten, was von beidem Tun nun vordringlicher sei.

3. April 2001
Der FC Bayern hat gegen Manchester United gewonnen. Ich hörte es im Taxi nach Hause. Abpfiff beim Ankommen. Eigentlich müssten jetzt bei den Stromliniegen die Verschlussklappen auffliegen und sie endlich mal die Sau raus lassen, nach der Schmach, die ihnen vor zwei Jahren serviert worden war. Doch nichts geschieht, keine Bierflaschen knallen auf die parkenden Autos in der Gasse, keine siegestrunkene Schlachtgesänge. Dunkel die Fenster. Nur bei den Unscheinbaren blaues Fernsehleuchten. Man hört sich an, wie Moderatoren wiederkäuen, was man gerade selbst gesehen hat. Verharrt im abgedunkelten Zimmer und schwappt still sein Bier aus der Flasche.

Rotgelb das Neon vor meinem Fenster. Eine erste laue Frühlingsnacht. Bei den Namenlosen steht das Fenster offen. Welches Gemüt will man damit kühlen? Die einsame Taube schläft am Fuß der Zierdolde. Eine verdämmerte Theaterkulisse mein Gegenüber. Ein Provinztheater in endlosen Theaterferien. Die Motten werden die Vorhänge zerfressen. Die Glasschaber die Scheiben dünn schaben. Die Steinbeißer den gelben Klinker zerbeißen. Die Müllabfuhr die Tonnen nicht mehr leeren, und die Post die Briefe mit Unzustellbarkeitsvermerken, was für ein Wort, an die Adressanten zurücksenden.

4. April 2001
Das Gegenüber liegt im Halbschatten. Die Fassade vom Streulicht der Schattengrenze umschmeichelt. Weiche Konturen und milde Farben. Ocker bis Buttergelb. Die Fenster auf der Etage der Roten sind gekippt. Was als ein Zeichen der Bewegung, des frühlingshaften Aufbruches gedeutet werden könnte, ist nur ein weiteres Zeichen des Stillstandes und der Abwesenheit. Die Besorgerin ist durch die Etage geschlurft, tauscht den Mief der Abwesenheit gegen ein Frühlingslüftchen.

Der neue Student, winterblass, sitzt im Fenster telefoniert. Er ist rotblond. Er besitzt einen schlechten Geschmack. Er ist träge, den der Verhau des Einzugs ist kaum weniger geworden. Er hat gute Chancen, bei der Roten wegen seiner roten Blässe, bei der Fernsehsüchtigen ob seiner Trägheit, und leichtes Spiel bei der Wahl zwischen beiden dank seines schlechten Geschmacks. Gute Aussichten für eine lebendigere Sicht hinüber.

Die Sonne kitzelt meine Nase, ich muss niesen. Niesen und schnäuzen, und es wird ein Weilchen Dauern, bis der Reiz des Frühlings sich in meiner Nasenspitze verliert.

Würde ich mein Gegenüber jetzt malen, würde ich eine rosa blühende Kirsche in Gasse pflanzen und sie bis unter die Traufe wachsen lassen. In die Zweige würde ich rote Ostereier und das abgeschlagene Haupt der Roten hängen. Aus ihrer Gurgel würde das Blut auf die Blüten tropfen und ihnen einen tiefen lebendigen Schatten verleihen. Nicht weil ich der Roten Gram wäre, nein. Aber der Frühling verlangt ein Opfer. - Nun gut, belasse ich der Roten ihr Haupt und schlachte dafür einen roten Hahn. Sobald er ausgeblutet ist, werde ich ihn zu einer herzhaften Suppe verkochen, was mit der Roten nicht möglich wäre. Denn das Opfermahl aus seinesgleichem bleibt allein den Göttern vorbehalten.

5. April 2001
Frühjahrsputz in den Zimmern der Roten. Die Putzfrau steigt die Leiter hinauf und hinab, Vorhänge werden gewaschen. Die Rote zeigt sich nicht. Die Mutter ist tot. Sie ist jetzt die Grande Dame. Aus dem sonnigen Süden oder aus den Schweizer Bergen werden die Dienstboten angerufen, die Rückkunft vorzubereiten. Ein Strauß Narzissen ziert die Anrichte, das Bett ist frisch bezogen und mit der Bettpfanne angewärmt. Frühjahr ist, man kommt zurück in die Stadt, um sich im heimischen Fauteuil vor den Fernseher zu setzen. Doch die Vornehmheit wird nicht lange vorhalten, bald hat sie das alte Heim wieder und sie die Gummihandschuhe an, um hinter der Putzfrau herzuputzen.

Umzug der Tauben. Der Nistplatz unter der Traufe ist für sie verschrien. Nun ziehen sie die dort zur Streu gesammelten Ästchen wieder hervor, flattern die Dachrinne entlang und legen sie am anderen Ende des Hauses wieder ab.

Doch Tauben sind blöd, wohl deshalb auch Symbol des Friedens. Sie legen die Ästchen diesmal nicht unter, sondern in die Dachrinne, direkt über den Ablauf. Der abendliche Regen wird das Streu hinabspülen, mit ein bisschen Glück, wird es das Fallrohr verstopfen und eine hübsche Fontäne wird in die Gasse sprühen. Die Rote wird die Handwerker rufen. Sie werden mit einem Kranwagen anrücken, die Rohre zerlegen und die Rote wird in ihrer Schürze danebenstehen und ihr roter Schopf wird hektisch wedeln. Tauben sind nicht blöd, sie steigern das Bruttosozialprodukt.

Ein Zeppelin schaukelt über dem First im Wind. Auf der Theresienwiese wird wohl das Frühlingsfest begonnen haben.

6. April 2001
Lichter noch um Mitternacht. Beim Schnauzer, das leere Büro im Schummerlicht. Den Abend über saß die jüngere Tochter vor dem Fernseher. Jetzt ist sie ebenso eingeschlafen wie die Fernsehsüchtige. Auch in ihren Zimmern scheint Licht und Leere. Die Vorhänge vor ihrer Schlafkammer sind zugezogen, dahinter Leselicht. Doch da sie nur fernsieht, wird sie dort nur schlafen oder beischlafen.

In ihrem Fenster stehen zwei Blumensträuße. Ihr Geburtstag im April oder eine neue Liebe? Nein, eine neue Liebe ist unwahrscheinlich, hat sie doch nur Augen für die Mattscheibe. Blickwechsel sind hier selten. Und wenn doch, hält kein Bild so lange, dass der Funken überspringen kann. So erstarrt sie das Drängen des Frühlings. Darum wird sie ihre Blumen auch erst wieder sehen, wenn sie verblüht sind.

7. April 2001
Heute wurde ein verblühter Strauß erkannt und aus dem Fenster genommen. Lichtlose Abwesenheit zum frühen Abend. Regen verspiegelt das Kupferblech. Trübes Licht in der Doppelgaube des Leblosen. Solange der Tag noch hell ist, verliert sich das leichige Grün der Deckenlampe.

Neben dem Fuß der Zierdolde duckt sich die Taube im Regen. Sie gibt ihren Schlafplatz nicht auf. Im Studentenzimmer darunter ist der Verhau noch unübersichtlicher geworden. Zum Durcheinander des Einzuges ist das Durcheinander des Wohnens gekommen. Wäsche an jedem freien Platz. Über der Schwingleuchte hängt ein grau gewaschenes Leintuch. Davor der Wäscheständer ins Fenster gerückt. Der einzig ruhende Pol in all der hilflosen Konfusion ist der Kaktus aus Plastik im Fenster.

Wenn die Mama ihr Söhnchen in der Stadt besuchen kommt, wird er wohl Ordnung schaffen. Sie wird ihm genügen. Doch seinen Stolz über sein gelungenes Aufräumen wird ihm die Mama mit wenigen Worten vergällen. Er wird sie darob zum Teufel wünschen, sie putzen und räumen lassen und weiter seine hilflose Liederlichkeit pflegen. Irgendwann wird sich ein blitzsauberes Mädel seiner annehmen, findet sie in ihm doch das dumme Männchen, das ohne sie nicht lebenstauglich sein wird. Später wird er sie Mutti rufen und sie ihm mit Vati antworten.

Allmählich verdunkelt sich der Abend. Die Nacht schleicht sich in die Gasse und verdrängt unbemerkt den Tag. Man sieht, und man sieht nicht. Wo ist mein Gegenüber?

Palmsonntag 2001
Sonntagsruhe gegenüber. Der Regen hat aufgehört. Durch das dünne Wolkengrau streut die Sonne ihr Licht, blendet den Blick, ohne zu blenden.

Lebendig ist nur das Welken der Blumen. Bei der Fernsehsüchtigen sind die verblühten Narzissen vor dem Fenster geschnitten. Im Fenster daneben welken drei gelbe Rosen, die Blume der Höflichkeit aus Distanz gegeben. Beim Schnauzer vergrünen die Blütenblätter des Aarons. Welken, ohne dass dort je ihre lüsterne Symbolik erkannt worden wäre. Von unten her schießt die Pflanze wieder ins Kraut, während die schweren Blätter des letzten Jahres sich ins grüngelbe Welk der beiden Blüten färben.

Darunter im Fenster der Namenlosen welkt ein gelber Weihnachtsstern. Auch hier vergrünt der Blütenkranz der fruchtständigen Spitzen. Die weißen Fliegen scheinen ihn auszulaugen, so kränkelnd steht er im Licht. Eine Schere und eine Dosis Gift könnten ihn retten, zur nächsten Weihnacht würde er wieder erblühen. Doch würde ich ihn nicht pflegen wollen. Gelb mag mir der Weihnachtsstern vom Firmament leuchten, im Fenster sollte er rot sein, so satt rot wie die Lust zu leben.

Links in der studentischen Verhaubude welkt der Kunststoff des phallischen Kaktus. Das Licht zerrt ihn aus. Seltsam wie das Licht, der Lebensspender, dem Toten zum Tode gereicht.

9. April 2001
Die schwarze Scheibe bleckt mich an. Gegenüber, halblinks, das Mutterzimmer auf der Etage der Roten. Heute wurden hier die Gardinen zum Waschen abgenommen. Zur Nacht sind sie noch nicht aufgehängt. Die Rückkunft der Madame steht offenbar unmittelbar bevor.

Ansonsten drei Lichter. Der Leblose gelbgrün, die Unscheinbaren orangenmilchig, der Schnauzer orangenlimonaden. Vorgebeugt, noch fahles Licht bei der Fernsehsüchtigen. Aus.

Wolken im Nachthimmel, dazwischen dunkle kosmische Löcher, schnell verwischt. Nur ein kurzer Blick in die Nacht. Rotgelb der Widerschein der Stadt.

Gegenüber in der anderen Straße singen und beten fundamentalistische Christen wider das Theaterstück Corpus Christi, das auf einer kleinen Bühne im Hinterraum aufgeführt wird. Sie sind nicht zu hören, obwohl der Wind günstig steht.

Die Unscheinbare steht kurz im Fenster. Licht von unten schmückt ihr Gesicht. Sie legt Bücher auf Fensterbord und löscht das Licht. Zehn Uhr, Schlafenszeit.

10. April 2001
Sie ist zurückgekehrt die Rote. Faltiger und verhärmter als sonst, dafür etwas weniger huschig. Eine gelbe Schürze hat sie sich umgebunden. Sie setzt also das Leben fort, das durch den Tod der Mutter unterbrochen wurde. Im Mutterzimmer zieht sie die Übervorhänge zur Seite, rückt eine Holzleiter ins Fenster, steigt hinauf und hängt die gewaschenen Gardinen auf. Sie sind noch feucht und so grau wie ehedem. Sie steht unsicher auf der Leiter, eine Unsicherheit, die ihrem Alter nicht gemäß ist. Im Zimmer daneben fingert ein Weihnachtskaktus ausladend zum gardinenlosen Fenster.

Eine Etage tiefer ist der rothaarige Student seinem Durcheinander entflohen. Der Verhau bleibt unberührt. Wenn er zurückkommt, wird er mit Kummer feststellen, dass seine Flucht folgenlos blieb. Das Leintuch wird nach wie vor über der Schwingleuchte hängen und die geöffneten Kisten weiter darauf warten, geleert zu werden. Eine Aufgabe, der er sich alsbald durch einen weiteren Umzug entziehen wird.

Die Rote verhängt die Mutterstube daneben. Sobald sie die Gardine zurechtgezupft hat, wird die ursprüngliche Bewegungslosigkeit wieder einkehren.

11. April 2001
Nacht. Mir gegenüber herrscht Dunkelheit. Schwarze Scheiben starren mich an. Der helle Zierbogen der Doppelgaube schwingt sich in die bleigraue Nacht, hebt sich wogengleich als stiller Anruf in die Finsternis.

Nacht war es, als er beschloss, sich zu Tode zu saufen. Nein, es war kein bewusster Entschluss, doch es war die unvermeidliche Konsequenz, nachdem er den ersten Schluck aus der Flasche nahm. Angetrunken und für den kurzen Augenblick vor dem Absturz zerrissen zwischen lauem Wohlgefühl und abgrundtiefer Traurigkeit räumte er all die Dinge, die ihm wertvoll waren, auf die Truhe nahe dem Eingang. Sie sollten im Exzess nicht untergehen. Danach sollten sie in ihrer alten geliebten und geheiligten Bedeutung wieder ihren Platz in seinem Leben einnehmen. Es war nicht viel, was er dort hinüberlegte. Das angelesene, geliehene Buch einer Freundin, ein Bild von einem Tangopaar, eine Eintrittskarte zu einem Fußballspiel, ein Kerzenleuchter, seine Uhr und ein Bild seiner geschiedenen Frau. Nach vierzehn Tagen und dreißig Flaschen Schnaps war er noch am Leben. Noch. Er schiss bereits tonfarbene Kleckse auf den Teppich, die Leber versagte und er delirierte blutverschmiert bei vier Promille. In dieser Nacht, in der er neben einer vollen Flasche Schnaps, die er nicht mehr fand, sterben sollte, starb er nicht. Man fuhr ihn ins Irrenhaus.

Als ich heute die verhangene Etage der Roten sah, musste ich an ihn denken. Es könnte auch hinter diesen Vorhängen geschehen. Das Leben ist dort ebenso ausgeschlossen wie bei ihm, als er seine Rollos fallen ließ, die Flasche entkorkte und an seine Lippen setzte. Doch eine solche Katastrophe wird dort drüben nicht geschehen. Und dennoch wähne ich bei meinem Schauen auf mein Gegenüber einen ähnlichen Niedergang. Zwar grundverschieden doch in seinem Anklang von gleicher Weise.

Gründonnerstag 2001
Nachmittag. Aprilsonne, Aprilregen. Licht und grau, warm und kalt, nass und trocken. April, April! Die Fernsehsüchtig liegt in ihrem Bett und stillt ihr Kind. Die Blumen in ihrem Fenster waren also doch für ihren Geburtstag, den Geburtstag ihres Kindes. Man hatte ihr die Schwangerschaft nicht angesehen. Ihr blieb durch Ihre Rundungen verborgen. Sie wird sich leicht tun mit der Erziehung ihres Kindes. Gemeinsam wird sie mit ihm in den Fernseher blicken, süße Sachen schlecken, und in wenigen Jahren wird sich das Kind vor seinen eigenen Fernseher setzen und die Welt durch diesen Zauberkasten erkunden. Und es wird die Welt kennen, ohne sie je gesehen zu haben.

Ein Leben ist aus meinem Gegenüber gegangen, ein Leben ist hinzugekommen. Es ist also doch kein Nekrodomium, kein Totenhaus, wie ich es in ihm sehen möchte. Es ist ein ganz normales Haus mit ganz normalen Menschen in meiner Gasse. Ein Schwuler, ein altes Fräulein, eine junge Familie, ein verschlampter Student, eine abwesende Schneiderin und ein paar Unbemerkte leben in ihm, leben dort mit ihren ganz alltäglichen Macken, ihren kleinen Freuden und Sorgen. Das ist es, mehr ist es nicht. - Warum aber nur ist das so ganz Normale, so schrecklich daneben?

Karfreitag 2001
Kalt war der Tag. Noch kälter ist die Nacht. Eisig die Luft zwischen mir und meinem Gegenüber. Der alte Winter in seiner Schwäche spielt uns einen Greisenstreich. Ich höre ihn kichern in seiner senilen Freude.

Gegenüber wurde aufgeräumt, das Chaos beseitigt. Österliche Sauberkeit ist eingekehrt. Als ich hinüberblickte hing der Student feuchte Wäsche auf den Ständer. Es muss wohl dieselbe Wäsche gewesen sein, die er zuvor abgehangen hat. So sparte er sich, nach dem Fleiß des Räumens, das nächtliche Bügeln und Zusammenlegen. Das Bettuch hat er indes von der Lampe genommen. Es wird wohl das einzige sein, das er besitzt.

Nein, nein, die Mama hat ihn sicher mit Hausrat gut versorgt. Sieh hin, er hat das Licht gelöscht und entkleidet sich im Dunklen. Jetzt nimmt er das grau gewaschene Tuch hüllt sich in ihm ein, legt sich auf den Tisch, um die Passion des Heilands nachzuspielen. Er wird so bis zum Ostersonntag liegen und darauf warten, dass ein Engel die Türe öffnet und ihn verklärt. Noch lieber wäre es ihm allerdings, die Frauen würden ihn aus seinem Grab befreien. Nur welche Frau mag sich schon mit einem Heiland einlassen. Mit einem antiken Gott, ja ... Obwohl, ein Heiland scheint wohl handsamer zu sein, als die lüsterne Göttlichkeit der alten Götzen. Männliche Mutmaßungen ...

Da fällt mir ein, mit welch inbrünstiger Leidenschaft Jiddu Krishnamurti, der letzte Heiland, der jüngst auf Erden wandelte, von Frauen verfolgt wurde ... Er war schon über neunzig Jahre alt, als sich eine abgewiesene Frau, seinetwegen von der Golden Gate Bridge stürzte. – Wäre es nicht sein Los gewesen, hätten sich wahrscheinlich hundert Frauen für den Heiland zu Golgatha kreuzigen lassen ... seltsam, keiner seiner Jünger hatte das Kreuz für ihn auf sich genommen. Nur Judas hatte den Mut, ihn zu verraten, damit der göttliche Plan seinen Lauf nehmen konnte ...

Kalt ist die Nacht. Dunkel mein Gegenüber. Licht allein in der Sektion der Fernsehsüchtigen, trübes Karfreitagslicht, Nachtlicht einer Unruhigen, die sich nicht zwischen Schlaf und Wachsein entscheiden möchte.

Karsamstag 2001
Sonnig und grau der gottlose Tag. Im Schatten packte einen die Kälte, im Licht stach mich die Kraft des Frühlings. Vergraut, wie durch eine verschmutzte Scheibe, zum Abend der Blick auf mein Gegenüber. Blauer Hauch liegt in der Gasse, vereist die blaue Stunde.

Kaum einer schert sich um diesen verworfenen gottlosen Tag, nur ein Einkaufstag zwischen den Feiertagen und dennoch ist die Stimmung verschlossener als sonst, trister und klagend. Bis auf die Fernsehstube zur linken ist das Haus verlassen. Nacht kriecht aus den Fenstern und verschluckt den Abend.

Der Student hat sein Passionsspiel bereits in der Nacht aufgegeben und das ursprüngliche Durcheinander wieder installiert. Ja, der Verhau in seinem Zimmer scheint noch chaotischer als zuvor. Wahrscheinlich wütete er, als er seine Unzulänglichkeit erkannte, weder dem Engel noch den Frauen vor seiner Tür zu genügen, und verschaffte sich so einen hübschen Grund zur Flucht. Nur wohin will sich ein verzagter Heiland flüchten, wo ihm Himmel und Hölle versperrt bleiben ...

Das Gegenüber verkriecht sich nun in seiner eigenen Dunkelheit, zieht alles Licht in sich hinein. Ich werde mein rotes Rollo dazwischen werfen, um nicht gleichfalls von ihm aufgezogen zu werden ...

Ostersonntag 2001
Am Morgen lag Schnee, den der anhaltende Regen rasch wieder in die Gullys wusch. Wer möchte schon bei einem solchen Wetter aufstehen? Hätte Christus seine Passion am nahen Nockherberg erlitten und nicht im frühlingswarmen Palästina, er wäre in seinem Grab geblieben. Ist doch der Heiland so bloß in die Welt zurückgekehrt, wie er in sie geboren wurde. Wer mag ihm am Ostersonntag das erste wärmende Gewand gegeben, an wie viele Türen mag er verwirrt und gotterbärmlich frierend geklopft haben. An diesem ersten Tag seiner letzten sechzig Tage auf Erden muss er wohl die weihnachtliche Herbergssuche, nun selbst unter ähnlichen Vorzeichen wiederholend, durchlitten haben. Wer auch würde heute einem nackten geschundenen Mann, der bei solchem Wetter an seine Türe klopfte, öffnen wollen? Obwohl, eine solche Gestalt würde einen erbarmen und man würde ihr schnell einen alten Mantel überwerfen. Der verklärte Christus nicht im Lichtgewand, sondern im zerschlissenen Mantel, eine Pennergestalt ... kein Wunder, dass er und die Evangelien sich über diese erbärmliche Wiederkehr ausschwiegen.

Besuch kündigte sich an und der Student hat zum Morgen kurzer Hand Ordnung geschafft. Ruckzuck hat er das Durcheinander ins Nebenzimmer geschafft. Nun ist der Verhau dort noch unübersichtlicher und die Abneigung ihn anzugehen noch größer. Jetzt sitzt er mit einem Mädchen im Fenster. Sie essen Osterkuchen aus der Hand, er im linken, sie im rechten Fenster. Ein schönes Bild, beide miteinander plaudern und lachen zu sehen. Sie hat die Haare ordentlich gebunden, vielleicht ist sie die Kandidatin, die ihn umsorgen soll. Doch ich glaube es nicht, ein umsichtiges Mädchen isst seinen Kuchen vom Teller und nicht aus der Hand, und ein blitzsauberes Mädchen würde auch ihm einen Teller reichen, damit er den Boden nicht verbröselt. Ob er darum weiß, und so die künftige Mutterfrau, die ihn Umsorgende und Nippelgebende, prüfend wählt?

Das Taubenpaar besichtigt mal wieder den Nistplatz unter der Traufe. Daneben blickt das blonde Englein auf dem Arm der Mama vergnügt in den verregneten Tag. Es hat sein Osternest gefunden.

Ostermontag 2001
Sichtbar sinkt die Nachtkälte in die Gasse. Mein Gegenüber verblasst hinter ihrem graublauen Schleier. Das ist kein Frühling mehr, sondern die Rückkunft des Winters. Das Neon flammt auf, als eisiges Auge.

Die Augen sind noch trübe vom starren Blick auf den Bildschirm. Adressen sortiert, in konzentrierter Eintönigkeit. Das Gegenüber im Augenwinkel nur ein blassgelber Schirm, ein fernes lichtes Scheinen im grauen Tag.

Am Morgen rollten die Gäste des Studenten ihre Schlafsäcke und Matten zusammen. Man saß noch ein Weile zusammen. Jetzt ist das Einweihungsgeplänkel vorüber. Gast und Gastgeber sind ausgeflogen. Leere. Am anderen Ende der Etage gewöhnt die Fernsehsüchtige ihren Säugling an die Geräusche der Mattscheibe. Und dennoch herrscht Leere.

Bei den Unscheinbaren Pfirsichlicht. An der rechten Wand ein Osterstrauch mit angemalten Eiern. Leere. Kurzes Scheinen im Schnauzerzimmer, die Mutter im schwarzen Morgenrock. Dann werden die Rollos heruntergeworfen. Leere.

Die Feiertage gehen zu Ende. Der kommende Frühling ist besungen und beschworen. Verlassenheit und Kälte erzwingen gelangweilte Häuslichkeit. Man wird heute früh schlafen gehen. Entleerung.

Ostermontag 2001
Sichtbar sinkt die Nachtkälte in die Gasse. Mein Gegenüber verblasst hinter ihrem graublauen Schleier. Das ist kein Frühling mehr, sondern die Rückkunft des Winters. Das Neon flammt auf, ein eisiges Auge.

Die Augen sind noch trübe vom starren Blick auf den Bildschirm. Adressen sortiert, in konzentrierter Eintönigkeit. Das Gegenüber im Augenwinkel nur ein blassgelber Schirm, ein fernes lichtes Scheinen im grauen Tag.

Am Morgen rollten die Gäste des Studenten ihre Schlafsäcke und Matten zusammen. Man saß noch ein Weile zusammen. Jetzt ist das Einweihungsgeplänkel vorüber. Gast und Gastgeber sind ausgeflogen. Leere. Am anderen Ende der Etage gewöhnt die Fernsehsüchtige ihren Säugling an die Geräusche der Mattscheibe. Und dennoch herrscht Leere.

Bei den Unscheinbaren Pfirsichlicht. An der rechten Wand ein Osterstrauch mit angemalten Eiern. Leere. Kurzes Scheinen im Schnauzerzimmer, die Mutter im schwarzen Morgenrock. Dann werden die Rollos heruntergeworfen. Leere.

Die Feiertage gehen zu Ende. Der kommende Frühling ist besungen und beschworen. Verlassenheit und Kälte erzwingen gelangweilte Häuslichkeit. Man wird heute früh schlafen gehen. Entleerung.

17. April 2001
Zwischen zwei Regenschauern ein kurzer Lichtblick. Er kann weder mich erheitern noch mein Gegenüber beleben. Der Schnauzer neben Aaronwelk scheint das letzte Leben zu sein, das sich dem Frost der Bewegungslosigkeit widersetzt.

Was soll ich heute in meinem Gegenüber sehen. Nichts wird mir zugespielt, kein Kante, keine Rauheit, keine Gewohnheit, die mir widerstrebt. Einzig die Sonne ist mein Widerpart, für den Augenblick zumindest. Sie streut ihr blendendes Licht. Die Augen nicht an Helligkeit gewöhnt verschlitzen sich. Der Klinker gegenüber wechselt rasch von Ockergelb, Orange zu Sand und Braun. Je nachdem wie Wolken unter der Sonne ziehen. Das Kupferdach erst hellgrün unterm grauen Himmel, wechselt von Pfennigbraun zu sattem Moos. Dagegen strahlt blendend hell der Blechzylinder auf dem Kamin, als bewahre er selbst eine Sonne.

Wie soll man solchen Lichtwechsel auf Leinwand bannen, wenn die Farben schneller wechseln als sie angerührt werden. Wenn die Schatten sich auflösen, um zum nächsten Augenblick wieder hart vom Licht geschlagen zu werden. Wenn die Fenster sonnenhell spiegeln, und mich bereits beim nächsten Hinsehen wieder dunkel anblecken. Einfach malen sollst du es, das Licht in seinem Wechsel einfangen. Einen Schatten hier und keinen dort. Einen Lichtpunkt dort und keinen hier. Lass den Pinsel tanzen, lass ihn singen, es ist April, nichts gilt und alles ist wahr. Setze das Dreieck der Roten hinzu, beschwöre die Symbolik der Fruchtbarkeit, es ist Frühling, Aphrodite, Selene, Deo, die launischen Göttinnen, kitzeln die Lust und zerwirken die Zeit.

18. April 2001
Zschi-wieb, balzt ein Vögelchen glockenhell, trotzt der Kälte und dem Wetter. Ob es auch Kopfschmerzen hat?

Rauh das Licht. Sandig scheint mir in ihm mein Gegenüber. Bleiern das Kupferdach. Schmutzgelb die Fassade. Die gewohnte Leere jetzt. Zuvor spielte bei den Unscheinbaren ein blondes Mädchen mit dem Puterl im Fenster der großen Ziergaube. Schräg darunter hielt der Schnauzer zur gleichen Zeit seinen Kopf nachdenklich in den Händen übers Papier.

Nur der Student zeigte mehr Regung. Die Idee, ein Zimmer zur Rumpelkammer zu machen, und sich somit das größere frei zu halten, scheint ihm genial. Gleichwohl vermag er nicht den Verhau zur Gänze aus dem Raum zu bannen; das Zimmer hat einfach zu viele Ecken, in die er seine Kleider fallen lassen kann. Jetzt schmückt er die Wände mit Bildern. Die richtige Hängung beschäftigt ihn schon seit Stunden. Braucht er ebenso lange zum Bleistiftspitzen, wird er ein langes Studium vor sich haben.

Auf der anderen Seite der Etage läuft der Fernseher mit seinen Menschen davor. Ein Tag wie jeder andere, an dem das Leben an den Menschen vorbeiplätschert. Man sollte ihnen Särge mit Fernsehern verkaufen, damit sie die Ewigkeit ertragen.

19. April 2001
Früher Nachmittag. Die Sonne flieht soeben die Fassade meines Gegenübers. Taubengurren, Kindergequake, Nachbartratsch und Autorollen dringen durch meinen Fensterspalt, den Rhythmus schlagen die Schritte auf dem Pflaster.

Der Schnauzer zeigt mir seine rote Schulter und eine einsam welkende Aaronblüte. Bei den Unscheinbaren verrät ein geöffnetes Oberlicht Anwesenheit. Was sehe ich sonst, im Streulicht unterm Himmelsgrau? Einen gesplitterten Klinker, darunter einen gebrochenen, daneben einen Stein, hellbraun, Exot im lehmfarbenen Geziegel.

Was könnte ich sehen? Eine Kriminalgeschichte vielleicht? Serienmord im braven Haus! Nur wer soll Täter sein. Der Leblose? Nein, ihn schiebe ich die Rolle des Nekrophilen zu, der die Leichen verwahrt, die er im Treppenhaus abgelegt findet. Die Rote als Mörderin? Nein, sie ist in ihrer Seltsamkeit eher die Verdächtige, die sich mit Rinderblut die Haare färbt. Der Student kommt in seiner Desorganisiertheit als Täter nicht in Frage. Serienmörder sind penible Menschen. Die Fernsehsüchtige, würde gut den Gärtner als Täter abgeben. Motiv? Nachinszenierung des alltäglichen Schwachsinns, den sie sich aus der Mattscheibe saugt. Bei der Blutflut, die die Glotze füllt, ein akzeptables Motiv, zumal es die medienkritische Milchmädchenrechnung: Mord gesehen, Mord verübt, weiter nährt.

Warum nur solche Schrecklichkeiten? Kannst du nicht Kabale und Liebe hinüber in die Bewegungslosigkeit denken? Der Leblose als Vater des Kindes der Fernsehsüchtigen; der Professor als tumber Kapaun, nichts bemerkend; die Rote als alternde Geliebte des Hengstes am verzweifeln. Nein, dass sind nicht die Personen für ein solches Spiel ... Lindenstraße mir gegenüber ... Vergiss es. Solche Serien, denkt man sich aus, wenn man in einer Villa lebt. Das ganz normale Leben in einem stinknormalen Mietshaus bleibt wie mein Gegenüber fad, fad, fad und ohne Leben. Es braucht viele solcher Häuser, ehe ein Funken überspringt.

20. April 2001
Schnee und Regen wechseln einander seit dem Morgen ab. Grünbraun glänzend die Dächer gegenüber, der Klinker brandgelb bis schmutzig Sand. Der Schnauzer im beigen Rollkragenpullover, mal dem Computer, mal dem Schreibtisch zugewandt. Beim Studenten vermehrtes Chaos. Wäschewaschen scheint seine einzige Möglichkeit zu sein, die Unordnung anzugehen. Also hat er den Wäscheständer wieder vollgepackt. Wäschekreislauf. Vom Ständer auf den Leib, zurück in die Maschine und auf den Ständer, so weicht er der Niederlage vor dem Kleiderschrank aus.

Ein Blick ans andere Ende der Etage, Fernsehen. Ein Blick hinüber zur Roten, Gardinenfestung. Ein Blick hinauf zum Leblosen, leere Fensterhöhlungen, ebenso daneben bei den Unscheinbaren. Die Schneiderin ist seit Wochen verschwunden. Ist sie nun in Berlin, oder serviert sie im Mädchenkostüm der Roten Tee, oder liegt sie schon in einer Truhe unterm Dach oder gar frisch verliebt an einem warmen Strand. Vier Möglichkeiten, ich werde die wahre mit einem Astragalus erkunden.

Die Schneeflocken verdicken sich. Kein Lichtblick. Dieses Jahr wird wieder ohne Frühling sein.

21. April 2001
Auf den Dächern liegt Schnee, weiß gedeckte Autos und zusammengeschobene Schneehaufen auf der Straße. Slalom um Pfützen und Matschhaufen am Markt. Bei Miguel einen Mate-Capuccino. Zigarettenrauch über dem Fähnchen aus der Tasse. Zurück, Tauwetter auf dem Dach meines Gegenübers. Schneeflecken auf den Schrägen der Gauben, in handbreiten Bahnen rinnt das Schmelzwasser in die Traufe.

Was wollt Ihr hören, was wollt Ihr sehen, von meinem Gegenüber? Diese Frage an den Leser ging mir zuvor durch den Kopf. Was will der Leser vor dem Screen, was ein Kulturfuzzi in der Redaktion? Für wen und wie den Blick nach unten in die Studentenbude richten, luren, sein Chaos betrachten? Gestern diente ihm die Mutterfreundin, aufräumend. Ein vergebliches Unterfangen. Sie bückte sich und sammelte und legte und faltete und verräumte und trug hinaus. Dem Durcheinander kam sie nicht bei, und schon jetzt mag man kaum mehr was von ihrem Bemühen erkennen. Für wen diese Betrachtung? Für mich? Ist es die Erbsenzählerei eines Steinbockgeborenen, der den einmal vereinbarten Vertag bis zum bitteren Ende nicht brechen möchte?

Im Kinderheim saß Stefan im offenen Schrank der Putzkammer und zupfte an einem Knäuel wirr verknotetem Zwirns. Ich sah ihm eine Weile zu, ehe ich ihn fragte, was er da mache. Er meinte er knote den Faden wieder auf, den er gefunden habe. Ich wusste, das war Arbeit für wenigstens eine halbe Ewigkeit. Ich wusste, Stefan war übergeschnappt. Und trotzdem bewunderte ich ihn. Er hatte sich das vorgenommen und würde es durchziehen. Ein Seelenklempner hätte dazu von Hospitalismus gesprochen.

Ist es Hospitalismus, was mich antreibt? Selbststimulierendes Schaukeln im Elfenbeinturm? Nein, es ist ein Experiment. Und zum Anfang wie während eines Versuches weiß man nie, was sich zum Ende erhellen mag. Ein Experiment mag gelingen oder scheitern. Gleichwohl gibt es Menschen, die den Versuch beobachten. Beobachtung ist Teilhabe. Ich lese nicht nach, was ich vor einer Woche oder zwei Monaten wie und warum betrachtet habe. Der Versuch läuft jetzt, jetzt gilt es zu schauen.

Das ist kein Container-TV, kein billiger Voyeurismus, keine einfallslose Bloßstellung. Nein, dazu ist das Geschehen auf der anderen Seite zu langsam, zu statisch, sind mir die Handelnden zu fern, zu sehr Stichwortgeber für meine eigenen Gedanken, längst ver- und überzeichnet. Es ist eher der Blick des Malers, der mich lenkt. Das Statische als sich alltäglich verändernder Hintergrund, die Bewegungen als Wischer und Lichtpunkte, die zur Konstruktion Dynamik ins Bild tragen. Eins bemerke ich frei von jeder Rückschau: wie sich mein Blick zunehmend auf mich richtet und zur gleichen Zeit den Augenblick einfängt, den Augenblick als zeitloses Schauen - da sein.

Eine Taube spaziert über das bleigraue Blech des Fensterbretts vor der Stube des Schnauzers. Niemand hört ihr Trippeln, taps, kratz, taps.

22. April 2001
Novembergrauer Sonntag. Ein Tag, zu dem man sich am liebsten voll süßer Melancholie die Selbstmörderscheibe "Einsamer Sonntag" auflegt und über den losen Sinn der Welt sinniert. Ein Tag, zu dem man, in Gedanken wohlig, seine eigene Begräbnisfeier durchspielt und rauchend und kaffeetrinkend im Morgenrock durch seine vier Wände schlurft; sich die Katze auf den Schoß nimmt, ihr Fell streichelt und von ihrem Schnurren begleitet durch weitgedachte Welten schwebt.

Wo in meinem Gegenüber mag gleiches im Augenblick geschehen? Hinter jedem der dunkel spiegelnden Fenster mag es möglich sein, und scheint mir doch unmöglich. Die Fernsehsüchtige badet derweil ihr Kind am Wickeltisch. Ein Tun, so schön wie Katzenstreicheln. Ein Hoffnungssplitter, dass es dort drüben, auf der anderen Seite, doch möglich scheint, sich angenehm zu langweilen.

Gestern warf sich beim Studenten die Mutterfrau dem chaotischen Ansatz entgegen. Er durfte Regale aufbauen, sie das Zerstreute sammeln und hineinschlichten. Für einen Augenblick kehrte Übersicht ein. Für einen Augenblick ... Zum nächsten Wochenendbesuch darf sie von neuem beginnen.

Unterm Dach kramt ein jugendlicher Klon in den aufgereihten CDs am Fensterbrett. Er wird das Sonntagsgrau mit fetziger Musik überblenden.

23. April 2001
Steile Schatten an meinem Gegenüber. Sonnenschein durch kalte Luft. Noch zwei Monate, dann werden die Tage wieder kürzer werden. Erinnerung wie Mahnung, dass bereits in der Blüte der Niedergang liegt, gleichzeitig ein schelmisches Zwinkern, dass im Niedergang die Wiedergeburt keimt. Die Götter sind himmlische Narren.

Ein Anflug von Ordnung im Studentenzimmer. Über Nacht knüpfte er in seiner Kammer einen blauen Vorhang auf. Ungewöhnlich und ermunternd diese Farbe. Ein Ton, der das Übersehene, wieder sichtbar macht, das einheitliche Creme der Baumwolltücher durchbricht, das öde Grauweiß der Gardinen eine Etage höher aufhebt. Dazu als Kontrapunkt in der gleichen Flucht, zwei Etagen höher, der kobaltblaue Kelch in der Gaube des Leblosen. Kein ungebundener, irrlichtender Farbklecks mehr, sondern eingebundener sprechender Widerpart. Zwischenschritt und Schnittpunkt zum Himmelszelt. Ein unbewusster Anruf, ein Gebet, das den Himmel auf Erden ziehen mag. Hier, hinein in eine Studentenbude, hinein in das verzweifelte Ringen, sein Leben zu formen, in erlernten Bahnen zu halten, ihm Grund und Wichtigkeit zu geben und dabei doch mit der Form sich selbst zu verlieren.

Der Trübsinn der grauen Tage wirkt in den Sonnenschein. Das Wissen um fortwährendes Grau verblasst das Licht. So übersiehst du das Symbol der Widerspenstigkeit, des Nonkonformen, den übermächtigen Kaktus im Fenster des Jungen, noch dazu aus Kunststoff, Topos kultivierter Geschmacklosigkeit. Ausgestellt als eigenwillige Auflehnung gepaart mit Hilflosigkeit. Ein Lichtblick inmitten der verschatteten Gleichförmigkeit meines Gegenübers.

Vielstimmig singen die Vögel ihr Frühlingslied. Jetzt scheint für sie die Sonne. Nichts weiter bekümmert sie. Alle Wetterprognosen sind vergessen.

24. April 2001
Zwischen zwei Blicken lag viel Papier. Zuvor noch mädchenhafte Abendröte über dem First, jetzt dunkle Nacht. Laternenschein zur Rechten. Pfirsichlicht und Aquariumgrün beim Leblosen.

Zwei Etagen tiefer zur Linken, hat der Professor seinen Sprössling gebadet und föhnt ihm kurz den Hintern, bevor er ihn in Fertigwindeln packt. Er trägt ihn auf dem rechten Arm hinüber zur Wiege ins Schlafzimmer. Ist es ein Zeichen, dass ihm das Würmchen noch fremd ist? Womöglich, wo doch Säuglinge instinktiv auf der Herzseite getragen werden.

Lichtaus beim Leblosen. Dreht er noch eine Runde, oder hat er sich in die Kammern zum Hof verzogen?

Mein Blick wendet sich wieder dem Papier zu. Heute ist mir die andere Seite keine Hilfe, meinen Gedanken Weile und Richtung zu geben.

25. April 2001
Da. Es ist da, mein Gegenüber. Mir gegenüber ist es, da. Da wie stets. Heute war die Schneiderin da. Seit langem war sie nicht mehr da. In Berlin oder sonstwo war sie da. Nur nicht hier, da im Gegenüber. Sie war da, sperrte hastig den Laden auf. Ging hinein, war da, wo sie schon lange nicht mehr da war. Nahm sich keine Zeit für ihr Dasein. Griff mit der Rechten ein paar Kleidungsstücke von der Stange. Warf sie in die Tasche über ihrer Linken. Dann ging sie hinaus. Sperrte hastig zu, und war nicht mehr da, wo sie so lange Zeit da war, eilte dem anderen Dasein zu. Vergaß dieses Da, das ihr schon im Rücken lag.

Da ist das grüne Aquarium, die Gaube da drüben, die Doppelgaube des Leblosen. Sie ist da, so leer, wie sie schon seit Monaten da ist, leer. Warum ist da überhaupt Licht, wo da nichts ist, außer Leere, leere Wände und grünglasiges Licht. Da, dort drüben, mir gegenüber. Da.

Da ist die Nacht. Sie ist nacht. Da ist die Laterne. Sie ist neon. Da ist mein Gegenüber. Hier bin ich.

26. April 2001
Hier bin ich. Da ist das Fenster. Dahinter die Gasse. Dort das Gegenüber. Hier bin ich, und setze nicht fort, was ich gestern tat.

Schnauzer: Licht. Unscheinbare: unscheinbar. Lebeloser: dunkel. Rote: leblos. Student: verlangsamt. Fernsehsüchtige: Rotlicht. Namenlose: ausgeflogen.

Abendlicht. Im Fenster der linken Gaube sehe ich die Dachkante meines Hauses. Ich sehe den Kamin des Nebenhauses. An ihm eine Aluminiumleiter, umhaucht von Abendröte. Gegenüber im Himmel über dem First fehlt diese Röte. Es ist ein bleierner Himmel. Es wird eine kalte Nacht werden.

Unwirklich mein Gegenüber, sehr fern, vergraut und doch sehr klar. Heimabende aus der Kinderzeit waren ähnlich evangelisch unterkühlt. Die erinnerte Lähmung erfasst mich. Was ist ein Abend, der nur Weile ist, nur unnütze Weile bis zum Bett gehen, während der noch währende Tag beschlossen ist? Eine leise Ahnung vom Sterben. Eine Ahnung von dem, wovon ich als Kind keine Ahnung hatte und es gleichwohl erahnte.

Dasitzen, schauen, bittersüßes Leiden an leiser Melancholie. Ach könnte ich nur den Tag anhalten, das Dämmern verzögern. Hoch im Himmel kreisen Schwalben, künden vom nahen Sommer.

Später Blick in den nun marienblauen Abend. Der neue Mond vor Mars. Ein Bild der Götter. Die Melancholie ist verflogen.

27. April 2001
Mitternacht ist vorbei. Bei den Fernsehsüchtigen scheint noch Licht. Der Fernseher ist aus. Sprechen Sie jetzt über das, was sie gesehen haben? Ich denke nicht. Wahrscheinlich können sie sich gar nicht mehr erinnern, was heute alles an ihnen vorbeigeflimmert ist. Ihr Kopf ist so voll und doch so leer.

Darüber ganz links, Nachtlicht beim Leblosen. Mit was ist er beschäftigt? Liest er oder liebt er oder sucht er das verlorene Leben unterm Sofa? Besser er liest oder liebt, denn unterm Sofa liegt nur Staub.

Ein paar Stunden zuvor tönte das Feuerwerk vom Frühlingsfest herüber. Ein absurdes Geräusch. In dieser aprilfrischen Nacht ein Feuerwerk. Ein ebenso absurder Blick, mein Gegenüber jetzt erfassen zu wollen. Es ist ein Wurf aus Schatten, Ziegeln, Zwielicht, irgendwas, was mir Gegenüber ist, und mich keinen Deut lockt. Ich betrachte es mit der ihm so eigenen Langeweile. Werfe ihm seinen unbelebten Blick zurück. Ist das Kommunikation? Wir klotzen uns an, wie ein altes Paar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Ja, so mögen Feindschaften beginnen. Nur ist man dann schon zu träge, zu abgestumpft, um sie auch auszutragen. Und so nährt der Hass, der wechselseitige Unwille, fürderhin das Miteinander, stiftet neuen Sinn. Statt sich abzuwenden, trotzt man nun einander.

Nein, ich werfe mein rotes Rollo dazwischen. Ich bin hier, und nichts ist auf der anderen Seite.

28. April 2001
Nacht. Licht beim Schnauzer, er hat vergessen seinen Rolladen herabzulassen. Wüsste ich nicht, dass er sich auf seiner Couch, in die linke uneinsichtige Ecke gedrückt hat, hielte ich das Zimmer für leer. Doch nun da er da, doch nicht zu sehen ist, empfinde ich die Eintönigkeit der anderen Seite noch farbloser. Ein dunkler dräuender Ton. Ein Raum im Zwielicht. Funzelnder Kubus in die Dunkelheit der Fassade gebrochen. Kalter Bruch der Bewegungslosigkeit. Ein abgegessener Teller auf einer abgedeckten Tafel; noch lau vom warmen Mahl, ausgekratzt, ein lästiger Tand, ein vergessenes Stück ...

Vergessen ist die andere Seite, ein Gewerf aus Schutt und Bedeutungslosigkeit. Wenn der Tod so sein sollte, wäre er fürwahr schrecklich.

Licht flammt auf in der Gaube des Leblosen. Es korrespondiert mit dem trüben Schein zur Rechten. Und doch stellt sich keine Harmonie ein, noch weniger Bewegung, nur ein Kratzer mehr in schräger Betrachtung.

29. April 2001
Ein sonniger Tag kündet von baldigem Maien. Zwei Straßen weiter blühen die weißen Zierkirschen, senden Frühlingsdüfte an Bienen. Ein vergebliches Locken. In meiner Gasse wächst Löwenzahn aus Pflasterritzen. Er wird erst später blühen.

Gegen Mittag war mein Gegenüber so gut wie ohne Schatten, fast senkrecht stand die Sonne über ihm. Der Leblose hielt ihr seine blanken Füße entgegen. Die Rote bräunte sich den Hintern. Die Fernsehsüchtige stellte ihren Fernseher ins Fenster und ließ sich von ihm im Sonnenschein beflimmern. Die Unscheinbare trieb es mit ihrem Preisboxer im offenen Fenster. Sein Röhren und ihr Girren echote durch die Gasse. Der Schnauzer lehnte im Fenster und ließ sich von seinen Töchtern mit Blüten bekränzen. Bei den Namenlosen fächelten die Gardinen. Und der Student ... er war nicht da. Niemand war da ...

Die Sonne strich über das Haus, die Sonnenseite wandelte sich zur Schattenseite, kein Fenster öffnete sich. Wozu auch? – Auf der Suche nach Gedanken blicke ich meist nach links auf die gelben Ziegelreihen. Selten in die Stuben. Das Ziegelwerk wirkt inspirierender ...

30. April 2001
Walpurgisnacht, Freinacht. Die Rote fährt auf dem Besen zum Kamin heraus. Vergnügt sich mit drachenschwänzigen Teufeln. Frisst zwischen zwei Höhepunkten, gesottenes Säuglingsfleisch und säuft dazu vergorene Krötenpisse. Denkste.

Brav hält sie sich verborgen. Die Vorhänge sind gewaschen, warum also die Gardinen berühren. Beim Schnauzer fläzt die Tochter auf der Couch, verschickt übers Händi Botschaften und missachtet die Klotze in der Ecke. Derweil der Professor am anderen Ende mit Blick auf den Fernseher telefoniert. Das übliche Geplänkel, Abendstimmung, Zeittotschlagen; alles andere als Hexenlied und Widerborstigkeit, wie es der Brauch gebietet.

Bei solch eintöniger Betrachtung denke ich an pyromanische Feuerwehrleute. Wie öde es für sie sein muss, tagaus, tagein, auf Wache zu sitzen, und es brennt und brennt nicht. Seit dem letzten Krieg hat es nicht gebrannt, und es wird heute ebenso wenig wie in alle Zukunft hinein nicht brennen. Ja, da muss man einfach Zündeln, den roten Hahn auf Dächer setzen. Schließlich ist man Feuerwehrmann.

Also lasse ich die Rote auf feurigen Schweifen reiten und Kinder fressen und den Rest der Bewohner Maibäume stehlen und Türen und Fenster der Nachbarn aushängen und die herbeieilenden Gendarmen mit fauligem Dreck bewerfen. Freinacht ist ... So soll es sein.